Strategische Autonomie und Europäischer Rüstungskomplex: Strukturen, Interessen und Hindernisse

von Özlem Alev Demirel
September 2023

Schon lange vor dem russischen Angriff auf die Ukraine identifizierte die heutige
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (2019) die »Wiederkehr der Konkur-
renz großer Mächte« als das »herausstechende Merkmal« der heutigen Zeit. Um sich
in dieser neuen Konstellation behaupten zu können, müsse die EU bereit sein, ihre
Interessen strategisch autonom durchzusetzen. Dafür brauche sie nicht nur ausgebau-
te militärische Fähigkeiten, sondern auch den Willen, diese Interessen durchzusetzen
und ihre Fähigkeiten nach Bedarf einzusetzen.
Unter den Begriff der Strategischen Autonomie fallen unter anderem geoöko-
nomische Aspekte (wie Lieferketten, Tech-Geopolitik), doch das Hauptaugenmerk
der EU gilt dem Ausbau ihrer militärischen Fähigkeiten, also dem Vorhaben, das am
Anfang der Entwicklung des Konzepts stand. Der Aufbau eines europäischen (oder
besser: deutsch-französisch dominierten) Rüstungskomplexes durch die Bündelung
(»Konsolidierung«) des Sektors gilt dabei als eine der wichtigsten Voraussetzungen
für die Umsetzung der Autonomiebestrebungen. Versuche in diese Richtung werden
zwar bereits seit Jahrzehnten unternommen, doch erst das britische Austrittsreferen-
dum im Juni 2016 brachte hier einen enormen Schub.
Ohne Großbritannien, das bis dahin stets aus eigenen geopolitischen Interessen
gebremst hatte, veränderte sich die europäische Machtarchitektur. Dies eröffnete
Deutschland und Frankreich die Chance, eine Führungsrolle beim Aufbau eines ihren
Interessen dienenden Rüstungskomplexes zu beanspruchen.
Seit der Entscheidung über den Brexit wurden in einem raschen Tempo neue
Strukturen und Instrumente geschaffen, mit denen die einstige Zivilmacht EU derzeit
große Schritte in Richtung einer Rüstungs- und Militärunion und in jüngerer Zeit so-
gar – zumindest in Ansätzen – hin zu einer Kriegswirtschaft unternimmt. Allerdings
verläuft diese Entwicklung nicht ohne Widersprüche, d. h. es gibt auch gegenläufige
Tendenzen, sowohl im Binnenverhältnis der selbsterklärten EU-Führungsmächte als
auch im Hinblick auf die Reaktionen der anderen EU-Länder.
Von der EVG zur EUGS
Für viele Jahre sollte sich die Ablehnung der »Europäischen Verteidigungsgemein-
schaft« (EVG) durch die französische Nationalversammlung im Jahr 1954 für etwaige
europäische Autonomiebestrebungen als prägend erweisen– Fragen der europäischen
Militärpolitik waren deshalb fortan Sache der NATO und damit unterlagen sie der
Führung der USA.
Diese Konstellation blieb – ungeachtet diverser französischer Störfeuer – über
die gesamte Spanne des Kalten Krieges relativ stabil und veränderte sich erst in den
1990er Jahren. Früh wurden erste Stimmen laut, die für den Aufbau europäischer
Militärstrukturen und -kapazitäten plädierten. Allerdings zielten die damaligen Be-
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mühungen zunächst nicht vorrangig darauf, von der NATO und damit den USA zu-
mindest bis zu einem gewissen Grad unabhängige Fähigkeiten aufzubauen. Vielmehr
sollte der europäische Beitrag innerhalb und weiter der NATO untergeordnet gestärkt
werden. Alle darüber hinausgehenden Initiativen ließ Großbritannien größtenteils
im Sande verlaufen, bis mit dem britischen EU-Austrittsreferendum im Juni 2016 der
bis dato zentrale Hinderungsgrund für die Herausbildung autonomer Strukturen na-
hezu von heute auf morgen von der europäischen Bildfläche verschwand.
Zwar wabert der Begriff der Strategischen Autonomie schon länger durch die
Brüsseler Korridore, ins Zentrum der Planungen ist er allerdings erst seit der Ver-
abschiedung der EU-Globalstrategie (EUGS) nur wenige Tage nach dem britischen
Referendum gerückt (Veselinovič 2022: S. 94ff.). In dem am 29. Juni 2016 vorgestell-
ten nunmehr ranghöchsten sicherheitspolitischen Dokument der Union wird die Be-
deutung autonomer Kapazitäten gleich an mehreren Stellen betont. Darüber hinaus
nennt die EUGS als »Interessen« ein »offenes und faires Wirtschaftssystem« und
den »Zugang zu Ressourcen«. Dies beinhalte den »Schutz« von Handelswegen und
entscheidenden Seerouten »im Indischen Ozean«, »im Mittelmeer«, am »Golf von
Guinea« bis hin zum »Südchinesischen Meer« und der »Straße von Malakka«. Die
weiteren Interessengebiete reichen demnach östlich »bis nach Zentralasien« und im
Süden »bis nach Zentralafrika« (EU-Globalstrategie 2016).
Gleichzeitig wird in der Globalstrategie das Ziel ausgegeben, die Union solle zu
»militärischen Spitzenfähigkeiten« gelangen, dafür müsse »das gesamte Spektrum an
land-, luft-, weltraum- und seeseitigen Fähigkeiten, einschließlich der strategischen
Grundvoraussetzungen, zur Verfügung stehen.« Hierfür gelte es, »autonome« Ka-
pazitäten aufzubauen. Für »den Erwerb und die Aufrechterhaltung eines Großteils
dieser Fähigkeiten« sei allerdings eine Bündelung des Rüstungssektors nötig, was
Strukturen erforderlich mache, damit die Mitgliedsstaaten künftig in diesem Bereich
die »Zusammenarbeit als den Regelfall betrachten.« Dies solle auch zur Stärkung der
europäischen Rüstungsindustrie beitragen, die eine wesentliche Voraussetzung für
europäische Autonomiebestrebungen sei: »Eine tragfähige, innovative und wettbe-
werbsfähige europäische Verteidigungsindustrie ist von wesentlicher Bedeutung für
die strategische Autonomie Europas und eine glaubwürdige GSVP (Gemeinsame Si-
cherheits- und Verteidigungspolitik – ÖD).« (ebd.)
Die »Logik« der Rüstungsunion
Hinter den Forderungen nach einer Bündelung des europäischen Rüstungssektors
stehen letztlich einige recht simple Annahmen: Im Gegensatz etwa zu den USA sei der
Sektor in der EU stark zersplittert (»fragmentiert«). Verträge würden unter den 27
Mitgliedsstaaten überwiegend an nationale Unternehmen vergeben – die Folge seien
geringe Stückzahlen, fehlende Skaleneffekte und damit hohe Preise. Dies gefährde die
Wettbewerbsfähigkeit auf den weltweiten Exportmärkten und damit perspektivisch –
aufgrund der kleinen nationalen Märkte – auch das Überleben der gesamten Branche,
die für die Strategische Autonomie aber als unerlässlich erachtet wird.
In diesem Zusammenhang kam eine Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des
EU-Parlaments zu dem Ergebnis, dass eine Bündelung des Rüstungssektors jährliche
Einsparungen zwischen 26 Mrd. Euro und 130 Mrd. Euro erbringen könne (Ballester
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2013: S. 8). Eine ähnliche Spanne wurde von der EU-Kommission auch offiziell über-
nommen: Auf 25 bis 100 Mrd. Euro taxiert sie die Einsparpotenziale (Wettach 2017).
Eine Konsolidierung des Sektors – weniger, dafür größere europaweite Aufträge, die
von weniger, aber deutlich größeren Unternehmen (Eurochampions) bedient wer-
den – würde diesen Überlegungen zufolge deutlich mehr militärische Schlagkraft pro
investiertem Euro und eine gestärkte Branche ergeben: »Das Endziel: Reduktion von
momentan etwa 180 in Europa gebräuchlichen Typen komplexer Waffensysteme auf
30. Am logischen Endpunkt dieses Pfades stünde einerseits ein innerhalb der Waffen-
system-Kategorien europaweit vereinheitlichtes Arsenal, andererseits ein zentrali-
sierter Beschaffungsprozess sowie eine Reihe transnational konsolidierter Systemin-
tegratoren, also rüstungsindustrieller Generalunternehmer.« (Dossi 2019: S. 2) Damit
einhergehend würde auch ein stärker monopolisierter Rüstungssektor entstehen, der
der nicht nur den europäischen Markt bestimmt, sondern auch stärker konkurrenz-
fähig ist, aufwendigere Waffensysteme zu schaffen.
Ungeachtet der Tatsache, dass damit keineswegs zwingend niedrigere Preise ein-
hergehen müssen, gilt die Bündelung des Rüstungssektors inzwischen als Königsweg
zu hoher militärischer Schlagkraft und Strategischer Autonomie. Allerdings gibt es bei
einem solchen Prozess naturgemäß Gewinner und Verlierer, denn er begünstigt die
großen Akteure und Unternehmen. Aus diesem Grund sind es neben der EU-Kom-
mission vor allem Deutschland und Frankreich, die sich für die Konsolidierung des
Sektors einsetzen, machen sie sich doch berechtigte Hoffnungen, dass dies vor allem
ihren Konzernen zugutekommen dürfte. Demgegenüber ist es nachvollziehbar, dass
Mitgliedsstaaten mit einer kleinen oder mittelgroßen Rüstungsindustrie hier stets als
»Souveränitätsvorbehalte« bezeichnete nationale Interessen geltend machten, was ih-
nen aber seit dem EU-Austrittsreferendum Großbritanniens deutlich schwerer fällt.
Wie eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages (2017) über
»sicherheits- und verteidigungspolitische Folgen des britischen Referendums über
den Austritt […] aus der Europäischen Union« betonte, wird durch den Brexit »künf-
tig ein Hemmschuh für die weitere Verteidigungsintegration wegfallen.« Aus diesem
Grund sähen »Regierungsvertreter und -vertreterinnen sowohl aus Frankreich als
auch aus Deutschland« den bevorstehenden Austritt Großbritanniens »mehrheitlich
als eine Chance, den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Ver-
teidigungspolitik zu beschleunigen.«
Das Führungsduo
Unmittelbar nach dem britischen Referendum witterten Deutschland und Frankreich
ihre Chance und erklärten mit zwei unmittelbaren darauf veröffentlichten Grund-
satzpapieren ihren Anspruch, die Führung beim Ausbau des EU-Militärapparates
übernehmen zu wollen. Den ersten Aufschlag machten bereits am 27. Juni 2016 die
damaligen Außenminister beider Länder, Außenminister Frank-Walter Steinmei-
er und Jean-Marc Ayrault mit dem Papier »Ein starkes Europa in einer unsicheren
Welt«. Nach der Sommerpause wurde in Form einer zweiten deutsch-französischen
Erklärung am 12. September 2016 nachgelegt, diesmal stammte sie aus der Feder der
damaligen Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian und Ursula von der Leyen
(2016): »Die neue EU Globale Strategie für Außen- und Sicherheitspolitik (EUGS)«.
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Deren Vorstellung am 29. Juni 2016 wurde vom Europäischen Rat begrüßt und for-
dert ein stärkeres Europa in Sicherheits- und Verteidigungsangelegenheiten, euro-
päische strategische Autonomie und eine glaubwürdige, schnelle, effektive und re-
aktionsfähige Gemeinsame Sicherheit- und Verteidigungspolitik (GSVP).
Es folgte das Treffen des Deutsch-Französischen Ministerrats im Juli 2017, auf
dem sich beide Länder auf die wichtigsten neuen Strukturen für die anvisierte Rüs-
tungsunion sowie auf mehrere gemeinsame Großprojekte – insbesondere ein neues
Luftkampfsystem (FCAS) und eine neues Kampfpanzersystem (MGCS) – verständig-
ten. Ein vorläufiger Höhepunkt der inzwischen deutlich abgekühlten deutsch-fran-
zösischen Rüstungsfreundschaft stellte dann im Januar 2019 der Vertrag von Aachen
dar. Seither sind diverse Instrumente nicht nur politisch beschlossen worden, sondern
auch in dieser Legislaturperiode finanziell unterlegt und bereits eingesetzt worden.
Dass Deutschland und Frankreich hier Führungsansprüche haben, liegt in der Na-
tur der Sache. Deutschland ist die größte ökonomische Macht in der EU und Frank-
reich (noch) die stärkste Militärmacht und einzige Atommacht. Dies bedeutet aber
keineswegs, dass es hier in diesem Führungsduo keine Konkurrenz und Widersprü-
che gäbe, im Gegenteil. Aber es eint sie das Wissen, dass sie in der Konkurrenz mit
anderen Großmächten allein nicht mithalten könnten.
Säulen der Rüstungsunion: CARD – PESCO – EDF
Mittlerweile steht die EU-Globalstrategie, die allgemeine Ziele und Interessen defi-
niert, an der Spitze des europäischen Rüstungsplanungsprozesses. Seit 2022 kommt an
nächster Stelle der Strategische Kompass mit einer aktualisierten Bedrohungsanalyse,
in der die (militärische) Vorbereitung auf die diagnostizierte »Rückkehr der Macht-
politik« sowie die immer schärfer werdenden Konflikte mit Russland und inzwischen
auch China ins Zentrum gerückt wurden (Rat der Europäischen Union 2022).
Die ständig aktualisierte Bedrohungsanalyse führt zu Militärischen Zielvorgaben
(»Headline Goals«), mit deren Umsetzung sich vor allem drei Instrumente beschäf-
tigen, die bereits ab 2017 primär auf deutsch-französische Initiative auf den Weg
gebracht wurden: CARD, PESCO und der EDF. Da wäre einmal die »Koordinierte
Jährliche Überprüfung der Verteidigung« (engl. CARD). Sie verpflichtet die Mit-
gliedsstaaten zwar nicht formal, aber durch die enge Verknüpfung mit einem weiteren
neuen Instrument (PESCO) de facto darauf, umfassend Rechenschaft über ihre ak-
tuellen und geplanten Verteidigungsausgaben, Investitionen und Forschungsanstren-
gungen abzulegen. Gleichzeitig ist es die Aufgabe von CARD, mögliche länderüber-
greifende Kooperationsprojekte zu identifizieren, die für die Schließung vorhandener
Fähigkeitslücken als besonders geeignet erachtet werden.
Umgesetzt werden derlei Projekte inzwischen vor allem im Rahmen der »Ständi-
gen Strukturierten Zusammenarbeit« (engl. PESCO). Auf die wesentlichen PESCO-
Prozeduren hatten sich Deutschland und Frankreich bereits auf ihrem Ministerrats-
treffen im Juli 2017 geeinigt – danach holten sie Italien und Spanien mit ins Boot,
wodurch die erforderliche Mehrheit zur im Dezember 2017 erfolgten PESCO-Akti-
vierung faktisch gesichert war. Wie nassforsch die »Verbündeten« hier vor vollende-
te Tatsachen gestellt wurden, zeigt die Antwort auf eine parlamentarische Anfrage:
»[Die] Grundlage eines deutsch-französischen Vorschlages zu den Verpflichtungen
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der PESCO […] führte zu einem gemeinsamen Brief der Verteidigungsminister von
Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien an die Hohe Vertreterin vom 21. Juli
2017 […] Mit dem Versand einer Kopie dieses Briefes an alle Verteidigungsministe-
rinnen und Verteidigungsminister der EU erfolgte die Einbindung aller Mitgliedstaa-
ten.« (Deutscher Bundestag 2018)
Obwohl eine Studie ergab, noch im Frühjahr 2017 seien nicht weniger als 18
Mitgliedsländer der PESCO unentschieden oder gar ablehnend gegenübergestanden
(Möller/Pardijs 2017, S. 5), entschlossen sich am Ende 25 EU-Staaten ungeachtet aller
Skepsis, auf den PESCO-Zug aufzuspringen – außen vor blieben nur Malta, damals
noch Dänemark und Großbritannien, das sich zu diesem Zeitpunkt allerdings ohne-
hin aus sämtlichen diesbezüglichen Auseinandersetzungen verabschiedet hatte. Der
Grund für das Mitmachen lag darin, dass eine spätere Beteiligung angesichts einer
faktischen Sperrminorität vom deutsch-französischen Wohlwollen abhängig gewe-
sen wäre und nur eine Teilnahme an der PESCO-Struktur eine gewisse Einflussnah-
me auf die in diesem Rahmen aufgelegten Projekte ermöglicht.
Allerdings mussten sich die EU-Länder im Gegenzug hierfür auf die Einhaltung
von 20 Kriterien verpflichten, die klar darauf ausgelegt sind, die Herausbildung eines
europäischen Rüstungskomplexes deutlich zu forcieren. So ist etwa die bereits er-
wähnte Teilnahme an CARD mit der Verpflichtung gekoppelt, sich an mindestens
einem der in diesem Prozess identifizierten länderübergreifenden Projekte zu betei-
ligen: »Mit diesen Fähigkeitenprojekten wird die strategische Autonomie Europas
erhöht und die technologische und industrielle Basis der europäischen Verteidigung
(European Defence Technological and Industrial Base – EDTIB) gestärkt.« Weitere
Kriterien bestehen in der »Verpflichtung zur Ausarbeitung harmonisierter Anforde-
rungen« und der »Zusage, sich auf gemeinsame technische und operative Standards
der Streitkräfte zu einigen«, sowie in der »Verpflichtung, die gemeinsame Nutzung
bestehender Fähigkeiten zu erwägen«. Generell gelte nun ein »Vorrang für einen kol-
laborativen europäischen Ansatz zur Schließung auf nationaler Ebene festgestellter
Lücken bei den Fähigkeiten.« Und um sicherzustellen, dass von den angebahnten PE-
SCO-Projekten auch wirklich nur europäische Unternehmen profitieren, wurde noch
folgendes Kriterium formuliert: »Gewährleistung, dass die Kooperationsprogram-
me – die nur Einrichtungen zugutekommen dürfen, die nachweislich im Hoheitsge-
biet der EU Mehrwert erbringen – und die von den teilnehmenden Mitgliedstaaten
angenommenen Akquisitionsstrategien sich positiv auf die EDTIB auswirken.« Die
Einhaltung dieser Kriterien wird inzwischen jährlich evaluiert und im Extremfall be-
steht sogar die Möglichkeit, ein Mitgliedsland bei mangelnder Erfüllung der Vorga-
ben per qualifiziertem Mehrheitsbeschluss aus der PESCO hinauszuwerfen (Beschluss
(GASP) 2017/2315).
Die PESCO-Teilnahme ist allein deshalb von Bedeutung, weil in diesem Rahmen
aufgelegte Projekte bevorzugt und mit einem höheren Zuschuss (bis zu 30 Prozent
statt ansonsten 20 Prozent) aus dem »Europäischen Verteidigungsfonds« (engl. EDF)
finanziert werden können. Aus dem EDF stehen im aktuellen EU-Haushalt von 2021
bis 2027 knapp 8 Mrd. Euro für die Erforschung und Entwicklung länderübergreifen-
der EU-Rüstungsprojekte zur Verfügung. Die Ausschüttung dieser Gelder ist wieder-
um explizit an die Bedingung geknüpft, dass die europäische rüstungsindustrielle Ba-
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sis davon profitieren muss, um so zur Bündelung des europäischen Rüstungssektors
und zur Strategischen Autonomie beizutragen.
Die Einrichtung des EDF war ein Coup: Schließlich ist die Verwendung von EU-
Haushaltsgeldern für militärische Maßnahmen laut Artikel 41(2) des EU-Vertrages
untersagt. Dies wird dadurch umgangen, dass die Kommission kurzerhand behauptet,
es handele sich hier um Maßnahmen zur Industrieförderung, was rechtlich allerdings
mehr als fraglich ist (Fischer-Lescano 2018). Seit Jahren wurde darauf hingearbei-
tet, hier zu einem neuen Rechtsverständnis zu kommen, Kommission, Politik und
Rüstungsindustrie arbeiteten dabei Hand in Hand. Denn wichtige Vorarbeiten für
den späteren Europäischen Verteidigungsfonds leistete bereits eine im Juli 2015 auf
Einladung der damaligen EU-Industriekommissarin Elżbieta Biekowska zusammen-
gesetzte 16köpfige »hochrangige Gruppe« mit Vertreter*innen aus Industrie und Poli-
tik. Sie veröffentlichte im Februar 2016 einen Bericht, der bereits viele entscheidende
Elemente des späteren Verteidigungsfonds enthielt. Insofern ist es auch wenig über-
raschend, dass es gerade an dieser Gruppe beteiligte Unternehmen sind, die überpro-
portional von den EU-Geldern profitieren. Gleichzeitig handelt es sich dabei auch um
Unternehmen aus den größten Mitgliedsstaaten, wodurch Konzentrationsprozesse
weiterbefördert werden (Akkerman 2022).
EFF, ASAP und EDIP:
Auf dem Weg in die Kriegswirtschaft?
Mit CARD, PESCO und EDF waren EU-Strukturen zur Identifizierung und Um-
setzung länderübergreifender Projekte geschaffen, die nun in ihren Forschungs- und
Entwicklungsphasen über den EDF wie beschrieben querfinanziert werden können.
Was bislang fehlte, war die Möglichkeit, länderübergreifende Rüstungskäufe direkt
mit EU-Geldern zu subventionieren. Doch auch dies hat sich inzwischen geändert.
Ein wichtiges Instrument hierfür ist die im März 2021 ins Leben gerufene »Eu-
ropäische Friedensfazilität« (engl. EPF). Als haushaltsexternes Finanzinstrument ist
sie nicht Teil des EU-Budgets, was es erleichtert, sie für den gedachten Zweck ein-
zusetzen: zur Finanzierung von EU-Militäreinsätzen sowie von Waffenlieferungen
an befreundete Akteure. Hierfür wurden zunächst 5,7 Mrd. Euro für den Zeitraum
zwischen 2021 und 2027 ausgelobt. Nachdem sich die EPF aber schnell zum zentralen
Finanzierungsinstrument für Waffenlieferungen an die Ukraine entwickelte, mussten
Gelder zugeschossen werden. Zuletzt wurde der Betrag im Juni 2023 auf rund 12 Mrd.
Euro angehoben.
Mit diesem Geld sollen nicht nur Waffen für die Ukraine geliefert, sondern über
gemeinsame Munitionskäufe auch die Konsolidierung des Sektors unterstützt wer-
den: Am 20. März 2023 kündigte der EU-Rat einen dreistufigen Plan zur Lieferung,
Beschaffung und Produktion von Munition an. Er besteht aus der Ko-Finanzierung
von Munitionslieferungen der Mitgliedsstaaten an die Ukraine (Stufe 1), der Bezu-
schussung länderübergreifender Munitionseinkäufe (Stufe 2) sowie aus einem Maß-
nahmenpaket zur Ankurbelung der europäischen Munitionsproduktion (Stufe 3). Für
Stufe 1 ist eine EPF-Milliarde vorgesehen, Stufe 2 soll ebenfalls eine Milliarde aus
demselben Topf sowie 500 Mio. Euro aus einem weiteren noch in Anbahnung be-
findlichen Instrument namens EDIRPA erhalten. Was sich womöglich relativ harm-
73Demirel: Strategische Autonomie und Europäischer Rüstungskomplex
los anhört, ist ein weiterer enormer Schritt: Der direkte Einstieg in den Ankauf von
Rüstungsgütern – sofern dies eben länderübergreifend und zur Stärkung der Rüs-
tungsbasis erfolgt (Rat der Europäischen Union 2023).
Allerdings geht Stufe 3 noch einmal einen weiteren Schritt darüber hinaus: Am
3. Mai 2023 wurde der »Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlamen-
tes und des Rates zur Förderung der Munitionsproduktion« (engl. ASAP) vorgelegt.
Mit insgesamt 1 Mrd. Euro, 500 Mio. aus dem EU-Haushalt und ebenso viel von den
Mitgliedsstaaten, sollen darüber Maßnahmen wie die »Optimierung, Erweiterung,
Modernisierung, Verbesserung oder Wiederverwendung bestehender Produktions-
kapazitäten« sowie die »Schaffung neuer Produktionskapazitäten« oder auch die
»Umschulung und Höherqualifizierung der entsprechenden Arbeitskräfte« unter-
stützt werden (EU-Kommission 2023).
Schon länger fordern namhafte Politiker die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft.
Sicher ist die Europäische Union davon noch ein gutes Stück entfernt, gerade mit
dem ASAP-Plan werden aber wichtige erste Versatzstücke vorgeschlagen, die deutlich
in diese Richtung weisen. Als »beispiellos« bejubelte jedenfalls Industriekommissar
Thierry Breton das Maßnahmenpaket: »Um die Ukraine kurzfristig zu unterstützen,
müssen wir weiterhin aus unseren Beständen liefern. Aber wir müssen auch die der-
zeitige Produktion neu priorisieren und sie vorrangig in die Ukraine leiten. […] Aber
wenn es um die Verteidigung geht, muss unsere Industrie jetzt in den Kriegswirt-
schaftsmodus wechseln.« (Zit. n. Brzozowski/Pugnet 2023)
Der nächste große Wurf soll ab 2025 das »Programm für europäische Verteidi-
gungsinvestitionen« (engl. EDIP) werden. Es soll künftig die Bildung von Konsor-
tien für Verteidigungsfähigkeiten (engl. EDCC) ermöglichen, die unter anderem den
»Vorteil« genießen sollen, beim Einkauf von Rüstungsgütern von der Mehrwert-
steuer befreit zu werden, sofern auch hier eine Stärkung der Rüstungsbasis mit ein-
hergeht.
Binnenkonflikte und Zentrifugaltendenzen
Ganz offensichtlich wurden also beim Aufbau von Strukturen zur Verdichtung des
europäischen Rüstungskomplexes in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte ge-
macht, reibungslos geht der Prozess aber keineswegs vonstatten. Gerade in jüngster
Zeit hat sich der Ton zwischen Berlin und Paris enorm verschärft, was auch an den
sich möglicherweise anbahnenden militärischen Kräfteverschiebungen liegt, die mit
dem enormen Militarisierungsschub einhergehen, den die 100 Mrd. Euro des Bundes-
wehr-Sondervermögens auslösen. Hierdurch droht die bisherige Balance zu kippen,
in deren Rahmen Deutschlands recht unumstrittene Dominanz im Wirtschaftsbe-
reich durch Frankreichs Militärpotenzial ausgeglichen wurde. In Frankreich löst es
deshalb, gelinde gesagt, nicht gerade Jubelarien aus, wenn deutsche Spitzenpolitiker
wie Kanzler Olaf Scholz stolz verkünden, Deutschland werde bald über die »größte
konventionelle Armee« in Europa verfügen (Spiegel Online 31.5.2022). Kurz nach
Amtsantritt im Januar 2023 blies auch Verteidigungsminister Boris Pistorius ins selbe
Horn: »Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa, deswegen sollte es auch
unser Ziel sein, die stärkste und am besten ausgestattete Armee in der EU zu haben.«
(Spiegel Online, 22.1.2023)
74Z • Nr. 135 • S e p t e m b e r 2023
Außerdem sind sich beide Seiten zwar grundsätzlich einig, einen europäischen
Rüstungskomplex unter ihrer Führung aufbauen zu wollen. Über die konkrete Auf-
teilung des Kuchens ist aber inzwischen ein heftiges Hauen und Stechen ausgebro-
chen. So kommen vor allem die beiden Leuchtturmprojekte FCAS und MGCS kaum
voran, weil sich die Unternehmen beider Seiten nicht über die Verteilung der Aufträge
und des Knowhows einigen können. Hinzu kommt, dass Deutschland in jüngster Zeit
und besonders seit Amtsantritt von Pistorius wieder verstärkt auf ausländische Pro-
dukte setzt, was Frankreich als Schwächung der europäischen Rüstungsbasis scharf
kritisiert. Das Misstrauen geht inzwischen so weit, dass in der führenden deutschen
Militärzeitschrift gemutmaßt wurde, Paris torpediere gezielt zentrale deutsche Rüs-
tungsprojekte als »Retourkutsche« für Berlins jüngste Alleingänge (Hoffmann 2023).
Ob beide Länder in der Lage sein werden, ihre Interessensunterschiede zu regeln,
ist aktuell nicht absehbar, aber angesichts der Alternative, ansonsten in der verhär-
teten Konkurrenz im globalen Maßstab allein zu stehen und ohne die Kooperation
nicht standhalten zu können, eher zu erwarten. Allerdings wäre dies dann auch nur
die halbe Miete, schließlich müssen die anderen EU-Mitgliedsstaaten ebenfalls an
diesem Strang mitziehen. Dabei zeigt sich, dass die deutsch-französische Vorstellung,
man könne Großprojekte auflegen, selber alle Spezifika und die profitierenden Unter-
nehmen bestimmen und sie dann als europaweite Standardsysteme einführen, die alle
anderen Staaten abnehmen sollen, an den Realitäten scheitert.
Je weiter die EU ihre Integration vorantreibt, umso mehr werden auch ihre in-
neren Widersprüche deutlicher. Als Polen zum Beispiel versuchte, dem deutsch-fran-
zösischen Kampfpanzersystem MGCS beizutreten, wurde ihm recht rüde die Tür vor
der Nase zugeschlagen – und zwar bestimmt nicht wegen etwaiger Demokratiede-
fizite der Regierungsetage in Warschau. Polen reagierte hierauf umgehend, kaufte
US-Produkte (250 Abrams-Panzer) und erteilte den südkoreanischen Unternehmen
Hyundai Rotem und Hanwha Defense im Jahr 2022 den Auftrag zum Bau von über
1.000 K2-Kampfpanzern. Ähnlich verhält es sich beim Luftkampfsystem FCAS – auch
hier legten Deutschland und Frankreich alles fest, bevor sie Spanien als Juniorpartner
ins Boot nahmen. Als Reaktion schlossen sich Italien und zeitweilig auch Schweden
dem britischen Konkurrenzprojekt Tempest (heute: Global Combat Air Programme)
an. Jüngste belgische Avancen, dem FCAS-Projekt beitreten zu wollen, wurden mit
einem Beobachterstatus abgewiegelt.
Auch hier ist aktuell völlig unklar, wie diese Widersprüche aufgelöst werden sol-
len – große Bereitschaft, von ihrem Alleinführungsanspruch abzurücken, ist derzeit
jedenfalls weder in Paris noch in Berlin zu erkennen. Sollte stattdessen versucht wer-
den, durch immer größeren Druck die anderen Länder auf die deutsch-französische
Rüstungslinie zu bringen, ist allerdings damit zu rechnen, dass dies ohnehin beob-
achtbare Zentrifugaltendenzen noch weiter verstärken dürfte.
All dies wird durch das ‚Zusammenrücken‘ infolge des Einmarsches Russlands in
die Ukraine verkleistert. Dies betrifft auch das Verhältnis der EU zur Nato und zu
den USA. So baut derzeit die EU einerseits Fähigkeiten in Einklang mit der Nato
aus, bereitet sich aber andererseits darauf vor, auch militärisch eigenständig agieren
zu können. Denn die Einigkeit des Westens diesseits und jenseits des Atlantiks liegt
hauptsächlich darin, neu aufstrebende Mächte zurückzudrängen, die die eigenen Ex-
75Demirel: Strategische Autonomie und Europäischer Rüstungskomplex
pansionsbestrebungen und Zugriffe auf Märkte versperren. Das hebt aber die zwi-
schen EU und USA bestehende Konkurrenzsituation und auch die inneren Wider-
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