Von „guten" und „schlechten" Migrant*innen - Zur Reform des GEAS und des deutschen Einwanderungsgesetzes

Eingestellt 19.7.2023

19.07.2023

Die ohnehin dünne liberale Fassade der EU bröckelte schon seit der „Flüchtlingskrise“ im Sommer 2015. Nun scheint es, als stünde ein richtungsweisender asylpolitischer Entschluss an: die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).

Um die Verteilung von Geflüchteten und deren Behandlung wird in der EU seit Jahren gerungen. Mit der steigenden Zahl Asylsuchender geriet bereits die fragwürdige Konstruktion des Dublin-Abkommens, seit 1997 in Kraft und zuletzt 2014 novelliert, unter Druck. Bis zu seiner De-facto-Aussetzung sah es vor, dass sich Geflüchtete in dem Mitgliedsland registrieren müssen, in dem sie erstmalig EU-Boden betreten haben. Das führte bspw. in Griechenland und Italien – deren soziale Infrastruktur durch das krisenbedingte Spardiktat der EU eh schon demoliert war – zur Überforderung.

Die vom EU-Rat beschlossene Grundlage für eine GEAS-Reform sieht nun neue Regeln für den Umgang mit Asylsuchenden und eine vereinheitlichte Antragsbearbeitung vor. Damit soll dem „Migrationsdruck“ in der EU „besser standgehalten werden“, heißt es auf der Homepage des Rats. Im Falle von „Krisen“ könnten künftig Ausnahmeregelungen greifen: Die gewaltsame Zurückdrängung von Geflüchteten könnte durch die Reform legalisiert werden. Bereits bei der Einreise soll eine elektronische Identitätsfeststellung durchgeführt werden. Schutzsuchende, bei denen im Schnellverfahren kein Recht auf Asyl festgestellt wird, könnten fortan in Drittstaaten abgeschoben werden, die sie nie betreten haben. Alles läuft auf eine schnellere Feststellung hinaus, wer weiterreisen und wer ‚draußen‘ bleiben muss. Der „Solidaritätsmechanismus“ des GEAS soll es zudem künftig den EU-Staaten überlassen, wie sie sich in die „Migrationssteuerung“ einbringen: Ob sie Asylberechtigte aufnehmen, finanzielle Mittel bereitstellen oder sich an der Abwehr an den EU-Außengrenzen beteiligen, entscheiden sie selbst. Push-backs, die Einrichtung von „Hot-Spot“-Lagern, der Versuch, das „Flüchtlingsproblem“ an Staaten wie Tunesien auszulagern – Praktiken wie diese erhielten mit der Reform eine Rechtsgrundlage und riegeln die „Festung Europa“ weiter ab.

Motiv ökonomischer Nutzbarkeit

Lange inszenierte sich Deutschland als Verfechter der Rechte von Geflüchteten. Das hielt Bundesinnenministerin Nancy Faeser nicht davon ab, mit Blick auf die GEAS-Reform von einem „historischen Erfolg“ für die EU zu sprechen und eine „neue, solidarische Migrationspolitik“ für den „Schutz von Menschenrechten“ zu feiern. Tatsächlich fällt mit der deutschen Zustimmung zu den Verhandlungspunkten das humanitäre Feigenblatt einer höchst funktionalistischen Migrationspolitik: So ist nicht vergessen, dass zeitgleich mit der steigenden Zahl Schutzsuchender ab 2015 von der Kapitalseite etwa der Mindestlohn für geflüchtete Beschäftigte hinterfragt wurde. Schon die Vermittlung von Geflüchteten in 1-Euro-Jobs und andere überausbeuterische Arbeitsverhältnisse als „Integrationsmaßnahme“ zeigt: Statt von Humanität war die Migrationspolitik schon damals vom Motiv ökonomischer Verwertbarkeit bestimmt.

Fast zeitgleich wurde in Deutschland über die Reform des Einwanderungsgesetzes diskutiert, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. 2022 umfasste die explizit arbeitsbezogene Migration 40.421 Beschäftigte, wie die Bertelsmann-Stiftung angibt – deutlich weniger als das, was der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit Detlef Scheele fordert: Ihm zufolge bräuchte es 400.000 qualifizierte Zugewanderte pro Jahr, um Engpässe etwa im Ingenieurswesen, im Handwerk oder in der Pflege zu überbrücken. Statt Begrenzung der Migration wird hier also eine Ausweitung der Zuwanderung gefordert – keinesfalls ein Widerspruch.

Ende Juni beschloss die „Ampel“ nun eine Gesetzesnovelle, die neue arbeitsmarktpolitische Lockerungen für Migranten im Interesse ihrer flexibleren Verwertung beinhaltet: Künftig können Zugewanderte einen Beruf aufnehmen, ohne einen in Deutschland anerkannten Ausbildungsnachweis vorlegen zu müssen, wenn sie ausreichend Berufserfahrung vorweisen. Auch Mindestverdienstgrenzen (die ausländische Beschäftigte vor Lohndumping schützen) sollen teils gesenkt werden. Arbeitskräfte, die für spezielle Berufe angeworben wurden, sollen nun auch in anderen Bereichen angestellt werden können. Auch soll Arbeiter*innen aus Drittstaaten künftig nach dem Vorbild Kanadas auf Basis eines Punktesystems zum Zweck der Arbeitssuche die Einreise erleichtert werden.

Kapitalistische Verwertung von Migration

Es bedarf kaum migrationspolitischer Expertise um festzustellen, dass Deutschland dem Interesse einiger nationaler Kapitalfraktionen entsprechend in beiden Reformvorhaben einem ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkül folgt. Innerhalb der EU trägt die Bundesrepublik entgegen aller humanistischen Lippenbekenntnisse die Ausweitung protektionistischer Maßnahmen mit, um jene Geflüchtete spätestens an den europäischen Außengrenzen abzuweisen, deren Arbeitskraft sich nur eingeschränkt oder nur mit finanziellen Aufwand (z.B. Kostenübernahme für Sprachkurse, Unterbringung, Schul-, Aus- und Weiterbildung) verwerten lässt. So kann nebenbei auch künftigen Migrationsbewegungen, die im Zusammenhang mit dem globalen Klimawandel stehen, präventiv ein Riegel vorgeschoben werden. In der Einwanderungspolitik geht es dagegen darum, billige Arbeitskräfte in den deutschen Arbeitsmarkt einzuspeisen. Während diese Fachkräfte meist auf Kosten der Herkunftsländer ausgebildet werden, können die deutsche Industrie, das Handwerk, der Pflegesektor so von qualifizierter Arbeitskraft profitieren, ohne selbst Kosten für deren Ausbildung tragen zu müssen. Es wird kaum diskutiert, dass diese Lohnabhängigen im Herkunftsland eine Lücke hinterlassen ­– geschweige denn, warum sich hierzulande eigentlich nicht genug Arbeitskräfte für diese Bereiche finden. Aus Perspektive der Lohnabhängigen besteht die Gefahr, dass reale oder befürchtete Konkurrenz zwischen migrantischen und einheimischen Arbeitskräften Spaltungsprozesse innerhalb der Arbeiter*innenklasse befeuern.

Die EU-Asylpolitik einerseits und die internationale Anwerbung von Fachkräften andererseits sind gleichermaßen Ausdruck der kapitalistischen Verwertung von Migration: Während die prekärsten ausländischen Lohnabhängigen, die zur Migration gezwungen sind, als Teil der globalen „Überschussbevölkerung“ ihrem Schicksal überlassen werden, plant Deutschland mit der Lockerung des Einwanderungsgesetzes das Kapital mit „frischen“ Arbeiter*innen zu versorgen und Krisen der sozialen Reproduktion zu mildern. Dabei gilt: Je prekärer die Reproduktionsbedingungen dieser Arbeiter*innen, desto besser für das Kapital – hängt die Aufenthaltsgenehmigung vom Beschäftigungsverhältnis ab, setzt das schließlich Anreize für einen besonders „engagierten“ Einsatz von Arbeitskraft. Wie jeder kapitalistische Staat, der die Interessenunterschiede unterschiedlicher Kapitalfraktionen sowie von Kapital und Arbeit moderieren muss, übt sich Deutschland im Rosinenpicken: „schlechte“ Migrant*innen, die als bloßer Kostenfaktor unter aktuellen Umständen kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, gilt es fern von Europa zu halten; weltoffen und divers zeigt man sich den „guten“, qualifizierten Migrant*innen gegenüber, die wenig kosten und unfreiwillig dabei „helfen“, die Bedürfnisse der Kapitalakkumulation zu bedienen.

Janina Puder