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Geschichte deuten und verstehen

September 2003

Die Geschichte der menschlichen Gesellschaft gründet in dem bewusst handelnden, seine Zwecke, Absichten und Interessen verfolgenden, Menschen. Bewusstsein ist bewusstes Sein, Reflexion äusserer und innerer Bedingungen des individuellen und gemeinschaftlichen menschlichen Daseins, Voraussetzung der Organisierung von Handeln. Die Aufnahme der Wirklichkeit in das Bewusstsein ist an Erkenntnis, in welcher Form, Qualität und Ausprägung auch, gebunden. Der Mensch kann erfolgreich nur handeln, wenn er durch Erkenntnis sich der Bedingungen und Gegenstände seines Wirkens vergewissert. Die Erkenntnis, ob empirisch oder theoretisch – meist ist sie beides in einem –, ist eine Voraussetzung für ein in den Fluss der Geschichte zielorientiert eingreifendes Handeln.

Bewusstsein handlungsleitendes Agens

Bewusstsein ist Grundlage und Integral von Wissen; Bewusstsein hat, wer Wissen über sich und seine Umwelt besitzt. Wissen stellt sich in Empfindungen (Wahrnehmungen) und begrifflichem Denken dar. Es ist „Merkmalsde­tektion“[1], das ideelle Entdecken von Eigenschaften der Welt (mit Einschluss des Ich) und selbstbezüglich, insofern es Bewusstsein des Bewusstseins ist. Allgemein lässt sich Bewusstsein als die ideelle Verarbeitung von Informationen durch das Subjekt kennzeichnen; im Zusammenhang der Geschichte involviert die Verarbeitung den Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft. Zwischen Impuls und Reaktion existiert keine lineare Beziehung, der Impuls, die Information bilden das Rohmaterial, mittels dessen das seiner selbst bewusste Subjekt sich Kunde von der Welt in ihrem Sein, Gewordensein und Werden verschafft.

Dieser Zusammenhang gründet in der konstruktiven Funktion des Bewusstseins. Theorie geht nicht unmittelbar aus dem empirischen Material hervor, sondern ist die gedankliche Verarbeitung von Impulsen, die diesem inhärieren, und erzeugt dadurch ideelle Gegenstände, die so in der Welt nicht angetroffen werden. Gerade dadurch aber wird Erkennen handlungsleitend, es stellt Paradigmen für Handeln in seiner konkret-bestimmten Besonderheit bereit. In den Wissenschaften von der Natur und von der Gesellschaft findet jeweils ein komplexes Wechselspiel zwischen Empirie (Beobachtung) und Theorie statt, und auch die am weitesten in abstrakt-gedankliche Gefilde vordringende Theorie ist letztlich in der konkreten Erfahrung an Gegenständen der realen und ideellen Welt verwurzelt. Vorstellungen, Wahrnehmungen, Erinnerungsbilder, ideelle Konstrukte fliessen in der schöpferisch-autonomen Tätigkeit des Bewusstseins zusammen, das damit weit über ein blosses „Abbild“ von objektiv Seiendem hinausgeht – Sein und Bewusstsein stehen in Wechselwirkung miteinander. Kunde von der äusseren Welt kann der Mensch in seinem Bewusstsein nur erlangen, wenn er eigenständig mit den Daten der Aussenwelt umgeht, sie schöpferisch zu einer neuen, der ideellen Wirklichkeit verarbeitet. „Die Vorstellung von der sozialen Welt … ist kein blosses Abbild, keine Widerspiegelung, sondern das Resultat unzähliger immer schon vollzogener und aufs neue zu vollziehender Konstruktionshandlungen.“[2] Dabei wird das erkennende Subjekt bewusst oder unbewusst mitkonstruiert; es geht inhaltlich und formal in das Resultat der Konstruktion ein, die erkannte Welt ist eine vom Subjekt mit seinen Erkenntnismöglichkeiten und Sinngebungen konstruierte Welt („kognitive Schemata“).

Dadurch wird die Wahrheitsbestimmung schwierig, die, da sie das Subjekt mit einbezieht, eine subjektive Komponente besitzt. Doch ist die vom radikalen Konstruktivismus formulierte These, die erkenntnistheoretische Subjekt-Objekt-Dialektik sei eine „Binnendifferenzierung“ der kognitiven Wirklichkeit, abzulehnen, ebenso die Behauptung, den Dualismus Materie-Bewusstsein gebe es nicht wirklich. Der Mensch könnte, schon bei seiner urgeschichtlichen Entstehung als homo sapiens, nicht existieren, würde er nicht die Außenwelt, die er ja zur Überlebenssicherung benötigt, abbildend in sein Bewusstsein, sein Denken aufnehmen. Daher ist es wohlbegründet, gegenüber postmodernen Theoretikern den objektiven Charakter realen Geschichtswissens zu betonen und auf dem Unterschied von Fakten und Fiktionen zu beharren. Diese Theoretiker sprechen im Gefolge des linguistic turn historischen Darstellungen jede objektive Qualität ab und sehen in ihnen nur literarische Texte, der Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft wird verwischt.[3]

In der Geschichte ist die objektive Erkenntnis, die Erkenntnis objektiver Gegenstände, Ereignisse und Prozesse, in zweifacher Weise Selbst-Erkenntnis des gesellschaftlichen Menschen. Erstens, insofern alle Gesellschaftsgeschichte Darstellung der Bedingungen, Prozesse und Folgen menschlichen Handelns, des Wirkens gesellschaftlicher Gruppen und von Einzelpersonen ist. Zweitens, indem das Erkenntnisgeschehen in weit höherem Maße als in den Naturwissenschaften durch die Standortgebundenheit des erkennenden Subjekts, seine sozialen (und individuellen) Voraussetzungen und die sozial geformten Erkenntnismodi geprägt ist. Dadurch spielt das Subjekt eine mitbestimmende Rolle, ohne dass deswegen die Existenz einer von ihm unabhängigen – wenn auch durch es mitbegründeten – Außenwirklichkeit der Geschichte in ihrer objektiven Realität aufgehoben würde. Die Vergangenheit ist so, wie sie objektiv ist; Deutungen, welcher Art auch, heben ihre faktische, in Fakten – soweit sie gesichert sind – sich darstellende Realität nicht auf.

Daher ist die Unterscheidung von Ereignissen und Tatsachen relativ und problematisch. „Ereignisse geschehen, Tatsachen werden durch sprachliche Beschreibungen gebildet“, erklärt H. White[4]. Ereignisse der Geschichte – wie auch Artefakte – treten in das Bewusstsein des Forschers, wenn sie in sprachliche Form gebracht und somit als gedanklich fixierte Tatsachen gewusst werden; die subjektive Seite geschichtlicher Tatsachen (Fakten) lässt sich nicht aufheben. Aber das bedeutet nicht, dass Geschichte sich generell in Bewusstseinsprozesse auflöst. Diltheys These, das Selbst und die Objekte lägen innerhalb des Bewusstseins, ist unzutreffend.

Es ist trivial, dass wir die Welt – und die Geschichte – nur so erkennen, wie wir sie erkennen können, d.h. gebunden an unsere allgemein-menschlichen Erkenntnisformen und -mittel, wozu weitere soziale und individuelle Voraussetzungen kommen. Aber das bedeutet, entgegen der Meinung des radikalen Konstruktivismus, nicht, dass wir uns bei der Erkenntnis immer nur im Binnenraum des Bewusstseins befinden. Elementar betrachtet, ist es schlicht das Dasein des Menschen überhaupt, seine leibliche Existenz, die Zeugnis davon ablegt, dass es außerhalb des Menschen eine objektive Welt gibt, mit der er sich vermitteln muss, um leben zu können. Und dass seine Erkenntnisse annähernd mit der Wirklichkeit übereinstimmen, ist Ausdruck dessen, dass der Mensch, zumindest partiell und relativ, die Welt so zu erfassen vermag, wie sie an sich,ohne sein gnostisches Zutun, beschaffen ist.

Menschliche Tätigkeit ist ohne Bewusstsein nicht möglich, erfolgreiches Handeln setzt angemessene Bestimmung von Zielen und Mitteln der Tätigkeit voraus, die auf gedanklicher Aneignung der Wirklichkeit fußt. Handlungsfähigkeit in gegebener Umwelt macht das Wesen des Menschen aus, sie ist ein Amalgam biotischer und sozialer Faktoren. Das Bewusstsein vermittelt zwischen Handlungsfähigkeit und Handeln, die Erfassung der Wirklichkeit mündet in Zielbestimmung, die die Rationalität des Handelns anzeigt. Rationales Handeln ist nicht triebhaftes, instinktgeleitetes Tun, sondern von Erkenntnis und Bewusstheit durchdrungen. In der Geschichte setzt es sich von a-rationalem Triebhandeln ab und ist Integral einer unter bestimmten Bedingungen fortschreitenden Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensumstände. Die Handlungsfähigkeit des Menschen ist variabel und hängt auch von persönlichen Eigenschaften des Handelnden ab. Geschichtlich folgenreiches, in gesellschaftliche Prozesse eingreifendes Handeln ist an soziale Interaktion gebunden, in der sich zwei oder (in der Regel) mehr Personen (Gruppen) intentional aufeinander beziehen, um Veränderungen der gesellschaftlichen Umwelt herbeizuführen. Handeln wird von Regeln geleitet und ist durch Ziele und Sinngebungen bestimmt, Bewusstsein, Denken sind – bei erfolgreichem Handeln – seine notwendige Voraussetzung und Konsequenz, was das Wirken unbewusster Antriebe einschließt.

Modelle und Widerspiegelung

Auf dem Standpunkt der Empirie sind Erkenntnisse „Abbilder“ gegenständlich erfahrener Wirklichkeit. Doch ist die Empirie nur eine, wenn auch wichtige Seite der Erkenntnis. In das Wesen der Dinge dringen theoretische Ab­straktion und Konkretion ein, die idealisierte Reflexionen – „Repräsentatio­nen“ – der Erfahrungswelt bilden und mit dem Einzelnen das Allgemeine und Wesentliche vermitteln. Das Allgemeine in der Erkenntnis scheint sich durch seinen abstrakt-idealisierenden Gehalt von der Wirklichkkeit zu entfernen, indes nähert er sich ihr, soweit es Wahrheit enthält, asymptotisch an, indem es das, was ihr Wesen ausmacht, vor das Bewusstsein bringt. Die Geschichte als Wissenschaft enthält einerseits Empirisch-Narratives[5], andererseits in abstrakte Begriffe und Modelle gefasstes Wesentliches der in allgemeinen, besonderen und einzelnen Formen existierenden menschlichen Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Bewegung. Sie ist heute eine „analytisch verfahrende Sozialgeschichtsschreibung“[6]. Ein Modell ist kein Ideal, sondern eine idealisierte Abbildung faktischen Geschehens und Daseins, abstrakter Ausdruck des Wesens. Man kann es als „Code“ bezeichnen[7], der komplizierte Nachrichten aus der realen Welt in einfachere und dadurch leichter handhabbare übersetzt. Im Gehirn werden nicht gegenständliche Abbilder von Dingen und Prozessen gespeichert, sondern retuschierte Vorstellungsbilder, aus dem Gedächtnis gespeist, das Rekonstruktionen des Originals liefert.[8]

Begriffe sind, wie F. Engels bemerkte, nicht schon die Realität, sie decken sich, als Abstraktionen, nicht mit der Wirklichkeit, aus der sie durch abstrahierendes Denken gewonnen wurden. Indes sind sie, als wissenschaftliche Denkmittel, keine Fiktionen, keine spekulativen Imaginationen, sondern haben die Realität in ihrer allgemeinen Kerngestalt in sich aufgenommen. Eine unmittelbare Anwendung allgemeiner Begriffe auf Gesellschaft und Geschichte ist nicht sinnvoll, deshalb sind Versuche, Abstraktionen des historischen Materialismus, wie Gesellschaftsformation, Klasse, Basis-Überbau, Revolution, direkt auf die Geschichte anzuwenden, verfehlt, sie bedürfen der genetischen Rekonstruktion, damit ihr realer Gehalt in seiner Differenziertheit sichtbar gemacht werden kann. Erst auf diesem Wege, durch Angabe der „Mittelglieder“ (Marx) zwischen Abstraktem und Konkretem ist eine Applikation der Begriffe und Theorien als Modelle an die Wirklichkeit sinnvoll und fruchtbar.[9]

M. Weber stellte diese Zusammenhänge folgendermaßen dar: „Idealtypen sind also Idealbilder von der Wirklichkeit, die dadurch zustande kommen, dass einzelne konkrete, also tatsächlich vorliegende Elemente der Wirklichkeit gedanklich gesteigert und zu Sinnbildern zusammengeschlossen werden, die zwar nicht so in der Wirklichkeit zu finden sind, aber ein als konkret gedachtes Modell von Teilen der Wirklichkeit vorstellen.“[10] Gesellschaftswissenschaftliche Begriffe geben keinen Durchschnitt realer Erscheinungen des jeweiligen Typs, sondern einen Idealtypus an, der das Resultat des schöpferisch-abstrahierenden Denkens ist. So kommt es, dass Begriffe der Sozial-wissenschaft im allgemeinen keine direkten Referenten in der Wirklichkeit besitzen, sondern eine eigene Welt des Gedankens verkörpern, die ihren spezifischen Gesetzen folgt. Begriffe bilden z.T. immanent die geschichtliche Bewegung realer Sachverhalte ab; sie entwickeln sich und offenbaren ihren realen Bedeutungsgehalt im Wege des rekonstruktiven Rückgangs auf das em­pirisch Konkrete, Unmittelbare. Idealtypen erlangen den Charakter von Werten, wenn nach ihnen soziale Erscheinungen unter moralischen, politischen, kulturellen Gesichtspunkten beurteilt werden.

Reale Typen ermöglichen Zugänge zur Wesenserkenntnis. Wenn ihnen auch nichts Empirisches unmittelbar anhaftet, sind sie doch Wesensausdruck der empirisch erfahrbaren Welt und unerläßlich zum konkreten Verständnis der Geschichte. Das Komplizierte, Komplexe, wird vereinfacht und damit wird sein Wesen gedanklich fassbar, und zwar in der Regel als Tendenz, nicht als gegenständlich erfahrbarer Prozess (Wahrscheinlichkeitsaussagen).

Das ist der substantielle, der wahre Inhalt von „Widerspiegelung“, wie heftig auch von modernen Philosophen bekämpft. Sie ist keine platte Abbildung („Photographie“) von Seiendem; eine solche könnte der Daseinssicherung kaum nützlich sein. Notwendig ist ein in die realen Prozesse eingreifendes Denken, das Allgemein-Wesentliches aus dem Bewegungszusammenhang der Einzelnen heraushebt und das Besondere zwecks Aneignung und Gestaltung durch den Menschen dingfest macht. Widerspiegelung geht mit Tätigkeit einher; erstens ist sie selbst Form von Tätigkeit, nämlich psychische, intellektuelle und emotionale, zweitens ist sie auf Tätigkeit zur Lebenssicherung im weitesten Sinne, also mit Einschluss kultureller Prozesse, gerichtet. Doch ist die Widerspiegelung im menschlichen Denken eine Transmutation, sie fasst die äußere Welt nicht gegenständlich-direkt – das ist ihr zufolge kognitiver Strukturen des Menschen nicht möglich –, sondern in einer durch das menschliche Erkenntnisorgan modifizierten und re-konstruierenden Weise. Konstruktion als Reflex mentaler Verfasstheit ist ein Wesenselement menschlicher Widerspiegelung. Damit ist das Erkannte immer auch ein vom erkennenden Subjekt Gemachtes, jedoch nicht in einem subjektiv-idealistischen Sinne, sondern als notwendige Form, wie der Mensch sich die äußere Welt aneignet. Die Existenz des Menschen ist gleichsam der Beweis des rationalen Gehalts der Widerspiegelung: Welt an sich und Welt für uns gehen eine widersprüchliche Beziehung ein, deren Klammer die menschliche Praxis ist, die selbst wieder subjektiv-menschlicher Reflexion unterliegt. Der Mensch kann nicht aus den Bedingungen seiner subjektiven Weltaneignung und -gestaltung heraustreten, doch dass er existiert und seiner Existenz Dauer zu verleihen vermag, ist Beleg approximativer Richtigkeit seiner Wahrnehmungen und seines Denkens. Daher ist die Leugnung der Existenz einer Geschichte im allgemeinen, ihre Aufspaltung in eine Vielzahl lokaler Geschichten (Lyotard) zutiefst fragwürdig.[11]

Standortgebundenheit

Die theoretische Fassung der Subjekt-Objekt-Beziehung der Erkenntnis ist eine Abstraktion, eine sehr allgemeine gnoseologische Kennzeichnung. Wenn auch die Praxis, komplex als Wirklichkeit verstanden, Aufschluss über den Wahrheitsgehalt von Aussagen zu geben vermag (abgesehen von denkimmanenten Kriterien), werden doch sowohl Erkenntnis als auch Praxis von den Standortbedingungen, den sozialen (und individuellen) Voraussetzungen des Erkenntnissubjekts beeinflusst. Das gilt besonders von der Erkenntnis gesellschaftlich-geschichtlicher Zusammenhänge. Die gleiche soziale Erscheinung wird von unterschiedlichen weltanschaulich-sozialen Standpunkten aus unterschiedlich, ja konträr beurteilt. Damit gehen in das Resultat der Erkenntnis – namentlich bei unsicherer Faktenlage – subjektive Bedingungen formierend mit ein: politische, moralische, kulturelle Faktoren, zu denen Eigenschaften der Persönlichkeit kommen, die oft auch Resultat gesellschaftlicher Bedingungen sind. Den Erkennenden ist das oft nicht bewusst, denn die herrschende Ideologie verbreitet ein Fluidum sozialer Einstellungen und Überzeugungen, die durch die in der Gesellschaft maßgeblichen Normen und Werte von den Individuen verinnerlicht und nur selten kritisch hinterfragt werden. Damit steht das Ergebnis des Erkenntnisprozesses in seinen Konturen oft schon von vornherein fest. Die verinnerlichte tonangebende Ideologie verhindert in vielen Fällen eine kritische und selbstkritische Prüfung der gesellschaftlichen Voraussetzungen und Inhalte der Erkenntnis von Gesellschaft und Geschichte; das Objekt der Erkenntnis ist subjektiv vorgeformt und daher sein Wesen häufig schwer zu erfassen.

Die Unterscheidung von Ding an sich und Ding für uns ist in der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis besonders belangvoll. Das Ding an sich, das objektive Wesen eines Sachverhalts wird von verschiedenen sozialen Erkenntnissubjekten verschieden beurteilt. Jedes meint, in seinen Aussagen über Gesellschaft und Geschichte das Ansichsein – das Wesen – zu erfassen, und ist zufolge der gesellschaftlich induzierten Prägungen und Vor-Urteile meist unfähig, das vorgebliche Ansichsein als ein Sein für das Subjekt zu entschlüsseln. Dennoch ist die Gesellschaftserkenntnis keine blosse Umsetzung subjektiver Weltbilder; Fakten – deren Ermittlung oft schwierig ist – können kaum bestritten werden. Verschieden ist ihre Deutung und sind die Aussagen über Voraussetzungen und Konsequenzen der Fakten und ihren historischen Stellenwert. Damit geht Deskription in Hermeneutik über; geschichtliches Verstehen ist angezeigt, das freilich ebenfalls von sozialen Standortbedingungen beeinflusst wird.

Diese Bedingungen können sich bei den einzelnen Erkenntnissubjekten zu Vorurteilen verfestigen, die vor den eigentlichen Urteilen bereits Feststehendes über das Resultat des Erkenntnisverlaufs aussagen. Sie bilden eine Summe sozial induzierter und erlernter Ansichten, Einstellungen und Werturteile, wobei das Individuum relativ immun gegen andere Ansichten und Informationen ist.[12] Die eigene Meinung erscheint als unwiderleglich, die andere als unbezweifelbar falsch. Damit bildet die geistige Welt eine Realität sui generis, die von unhinterfragten Ideologemen beherrscht wird und den Zugang zum Wesen der Wirklichkeit erschwert oder gar blockiert. Das ideologisch-geistige Moment besitzt relative Autonomie sowohl dem Erkenntnisobjekt als auch dem Erkenntnissubjekt gegenüber. Es wird von sozial gebundenen Primäraussagen bestimmt, deren Auguren in der Regel ebenfalls eine kritische und selbstkritische Einstellung vermissen lassen. Insofern diese Einstellung ein System von Werten verkörpert, ist Wertfreiheit bei den Sozialwissenschaften nicht anzutreffen (Weber). „Es gibt keine schlechthin ‚objektive’ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder … der ‚sozialen Erscheinungen’ unabhängig von speziellen und ‚einseitigen’ Gesichtspunkten, nach denen sie als Forschungsobjekte ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden.“[13] Die Erforschung der Vergangenheit hat vom Standpunkt des historischen Materialismus, wie W. Benjamin betonte, die Aufgabe, die Gegenwart von einem progressiven Standpunkt aus tiefer zu verstehen. Damit ist eine Wendung gegen lineares Fortschrittsdenken verbunden und der Blick – gegen den Historismus – auf Diskontinuitäten, Brüche in der Geschichte gerichtet.

Die kognitiven Strukturen, die die Entwicklung jedes Individuums begleiten, nehmen eine soziale Färbung an, die aus der Mikro- und Makrowelt herrührt, aus den familialen und Kleingruppenbedingungen wie auch aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, die auf die Ausprägung des Kognitiven in der Persönlichkeit Einfluss haben. Nach Piaget liegt der Entwicklung der kognitiven Strukturen der Prozess der Adaptation zugrunde, in dem dem Individuum gesellschaftliche Inhalte der Erkenntnis des Sozialen induziert werden. Daraus können – was Piaget vernachlässigt – unterschiedliche soziale Einstellungen und Verhaltensweisen hervorgehen. Es wird ein kognitives Unbewusstes virulent, das nicht nur das Denken des Kindes, sondern auch das des Erwachsenen beeinflusst und selbst im wissenschaftlichen Denken nachweisbar ist.[14] Beschäftigung mit Geschichte ist ohne ein gewisses Maß an vorgefasster Theorie nicht möglich.[15] Dies fordert zur Prüfung der eigenen Erkenntnisvoraussetzungen auf, die freilich meist schwer zu leisten ist.[16] In der Hermeneutik nimmt die Reflexion auf das Vor-Verständnis (Heidegger) der Wirklichkeit, das der empirisch-rationalen Erkenntnis vorausliegt, einen zentralen Platz ein (Gadamer: Vor-Urteil). Die Bereitschaft, sich mit dem überlieferten Vorverständnis zufrieden zu geben, kann zu einer konservativen Haltung in der Wissenschaft und namentlich in der Politik führen. Standortgebundenheit kommt in Paradigmen zur Wirkung, die forschende Individuen zu „wissenschaftlichen Gemeinschaften“ zusammenführen. Die Paradigmen üben einen Erkenntniszwang auf den einzelnen Angehörigen der Gemeinschaft aus, dem dieser sich nur schwer entziehen kann, umso mehr, als interne Kritik und Selbstkritik oft schwach ausgeprägt sind. Ein gemeinsamer und tradierter Besitz von Überzeugungs-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern begründet eine innere Einheit der Gemeinschaft, die allerdings auch trügerisch sein kann. Intellektueller Zwang mag in moderaten Formen vonstatten gehen; das wissenschaftliche Leben ist ohne ihn schwer vorstellbar, da die meisten Individuen ein Bedürfnis nach Anpassung und der durch die Gemeinschaft gewährten Anerkennung haben. Die Postulate der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die in der Regel von maßgeblichen Personen ausgehen, unterwerfen die Angehörigen der Gemeinschaft einem wie auch immer gearteten Zwang. Paradigmen sind dem Fortschritt einerseits förderlich, andererseits aber auch hinderlich; der Fokus geistigen Fortschritts ist und bleibt das kreative einzelne Individuum – wenn auch heutzutage immer stärker in Gemeinschaftsarbeit, in „teamwork“ eingebunden.

Was von den Paradigmen, gilt allgemein von den „Memen“ (Denkmustern)[17], denen der Mensch Zeit seines Lebens ausgesetzt ist und die sein Denken vor allem in sensiblen Phasen, namentlich in Kindheit und Jugend, nachhaltig prägen. Sie sind den Genen vergleichbar, da sie auf das Denken, Verhalten und Fühlen starken Einfluss ausüben, der allerdings nicht biologisch, sondern sozial bestimmt ist. Doch ist, wie die Wirkung der Gene, so auch die der Meme nicht zwanghaft-linear, sondern flexibel, und der Einzelne kann durch deren kritische Reflexion zu anderen Denkmustern gelangen. Das Individuum ist dynamisch, sowohl bezüglich der Umwelteinflüsse als auch seiner Selbstformierung, es besitzt innerhalb bestimmter Grenzen (relative) Autonomie.

Deutungen

Die Erkenntnis von Gesellschaft und Geschichte wird durch subjektive Vorprägungen beeinflusst, in deren Ergebnis geschichtliche Epochen und gesellschaftliche Zustände mit unterschiedlichen Deutungen, je nach dem Standort des Betrachters, belegt werden: Sie erfahren differente und konträre Deutungen. Diese greifen über den Objekt-Subjekt-Zusammenhang des Erkennens hinaus, indem sie die Selbst-Reflexion der Aktoren einschließen. Ziel ist die Erfassung der objektiven geschichtlichen Tendenzen, der Be-Deutung historischer Zusammenhänge und dessen, wie sie sich im Bewusstsein der agierenden Subjekte widerspiegeln. Zufolge der widersprüchlichen Beziehungen zwischen Objekt und Subjekt der Erkenntnis des Sozialen ist auch die Reflexion der historischen Situation und ihrer objektiven Tendenzen (Alternativen) von den Standortbedingungen der Analysten geprägt, so dass die Deutungen geschichtlicher Zusammenhänge und Verläufe erheblich differieren. Der materialistische Historiker sollte, so W. Benjamin, die Überlieferungsgeschichte kritisch in die Analyse der Vergangenheit einbinden. In die Deutung historischer Prozesse gehen die Selbstfindungen, die Ideologie und die sozialpolitischen Interessen der Beteiligten ein. Ihre Analyse ist kein blosses „Einfühlen“ (Dilthey), sondern Rekonstruktion der subjektiven und sozialen Erkenntnisvoraussetzungen; alles Verstehen ist nach Gadamer geschichtlich bestimmt. Dass dabei Selbsttäuschungen eine Rolle spielen (können), ergibt sich aus den geschichtlichen Bedingungen der Erkenntnis und Schwierigkeiten der Faktenermittlung.

Verstehen beinhaltet die gedankliche Wiedererzeugung dessen, wie die geschichtlichen Subjekte agieren konnten und/oder mussten, woran vielfältige objektive und subjektive Antriebe beteiligt waren. Stets wurden und werden die objektiven geschichtlichen Umstände – mit Einschluss der Konstellationen der Klassen und anderen sozialen Gruppen – bei ihrer Aufnahme in das Bewusstsein maßgeblicher (führender) Personen wie auch der Volksmassen gefiltert. So dass nicht nur reale geschichtliche Tatsachen, sondern auch ihre subjektive Reflexion den Gang der Geschichte beeinflussen. Geschichtliches Handeln ist Resultat der Verquickung objektiver Umstände und ihrer subjektiven Verarbeitung, die von individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen beeinflusst wird. Oft bestimmen persönliche Faktoren Gang und Resultate geschichtlicher Bewegung. Die Rekonstruktion subjektiver Elemente muss die individuellen und gesellschaftlichen treibenden Kräfte erfassen, unter denen psychische Faktoren eine Rolle spielen. Maßgeblich ist die Untersuchung der objektiv möglichen und notwendigen Tendenzen historischer Prozesse – sowohl auf dem Standpunkt des Aktors als auch auf dem des Betrachters, des Analytikers. Das kann zum Verstehen dessen führen, was geschichtliche Kräfte anstrebten bzw. objektiv anstreben mussten. Immer ist ins Kalkül zu ziehen, wieweit die Handelnden zu einer sachgerechten Erfassung der Umstände willens und in der Lage waren. Das wiederum hängt von Erkenntnisbedingungen gnoseologischer und sozialer Art ab, und da die maßgeblichen politischen Kräfte oft weniger das Wohl des Volkes als ihre eigenen Machtinteressen im Blick haben, tun sie sich bei der Erfassung objektiver Umstände schwer.

Verstehen geschichtlicher Prozesse und Zusammenhänge bedeutet nicht bloß deren Deskription oder narrative Wiedergabe, sondern Hineinversetzung in die subjektiven Ziele der Handelnden und die objektiven Notwendigkeiten und Möglichkeiten in ihrer wechselseitigen Verschränkung. Es gilt zu erkennen, was historisch „an der Zeit“ ist, und zwar nicht historisch allgemein, sondern unter den konkret-historischen Bedingungen realer Gesellschaften und Gemeinschaften. Daraus ergibt sich eine Abschätzung dessen, was die Handelnden von ihren jeweiligen Standpunkten aus tun konnten und sollten. Das bedeutet keine Rechtfertigung des jeweiligen augenfälligen historischen Tuns (von grundsätzlicher Verurteilung abgesehen), da die Verarbeitung der objektiven Tendenzen im Bewusstsein der Akteure die Geschichte in alternative Richtungen drängen kann. Herrschaftssichernde Machtinteressen kommen ins Spiel, die häufig blind machen für objektive Möglichkeiten und Notwendigkeiten historischen Handelns. Das Ego der maßgeblichen politischen Kräfte bedarf des kritisch-verstehenden Nachvollzugs, was in die prinzipielle Kritik des Denkens, Wollens und Handelns dieser Kräfte und einzelner Personen münden kann.

Deutendes Verstehen verbindet das objektive Moment: die sozial und geschichtlich virulente Tendenz der Bewegung einer Gesellschaft oder Klasse (Gruppe) – und das subjektive Moment: die Verknüpfung der Reflexion des Objektiven mit spezifischen Interessen und Zielen der Akteure, mit Einschluss persönlicher Machtstrebungen und Herrschaftsbedürfnisse. Verstehen heißt zunächst, objektive geschichtliche Möglichkeiten und Notwendigkeiten in ihrer konkreten (historischen und einzelstaatlichen, nationalen, ethnischen) Existenz zu begreifen, dann aber auch die Interessen der geschichtlichen Subjekte zu rekonstruieren. Das ist ein rationaler Vorgang, der einer „Einfühlung“ nicht bedarf, sondern die objektive Erklärung dessen erfordert, was Objektives und Subjektives in ihrer Verschränkung und wechselseitigen Vermittlung historisch auf die Tagesordnung setzten. Subjektive Ziele bewegen sich in einem Kreis objektiver Möglichkeiten und Tendenzen, die freilich auch in desinte­grative, destruktive Trends übergehen können. Dann entfernt sich das subjektive Wollen der Akteure von dem geschichtlich Gebotenen und wird zur abstrakten Negation. So stellen sich Personen oder Cliquen dem geschichtlich Erforderten in den Weg und versuchen ihr partikulares Interesse gegen das historisch Gebotene durchzusetzen. Ist Deuten, Verstehen, auf geschichtliche Fakten gerichtet, so hat es die Rationalisierung des Disparaten partikularer Subjekte mit Persönlichkeitseigenschaften und -strebungen und ihren Chancen zu tun. Machtmissbrauch ist häufig die letzte Ausflucht von Personen, die sich der progredierenden geschichtlichen Bewegung entgegenstellen.

Wenn ein gesellschaftlicher Zustand antagonistische Widersprüche offenbart, geht u.U. die Deutung des Handelns tragender Subjekte von der Konturierung möglicher einstiger progressiver Chancen und Tendenzen zur Benennung von deviantem subjektivem Wollen und Handeln über. Geschichtliche Prozesse sind in sich alternativ, enthalten Bifurkationen, und progressive Möglichkeiten können durch subjektive Fehlleistungen zu reaktionären Zuständen, Prozessen und Tendenzen mutieren. Das ist der Fall, wenn eine progressive geschichtliche Tendenz mit unzureichenden, verfehlten Strategien ihrer Umsetzung belastet ist und die Tendenz selbst historisch Unausgereiftes aufweist. Die geschichtliche Bewegung ist dann nur in abstracto historisch an der Zeit, in concreto weist sie Defizite und Mängel auf, die ehemals Progressives reaktionär werden lassen können. Die Geschichte des Sozialismus sowjetischen Typs ist dafür ein Beispiel.

Das nachvollziehende Verstehen geht von der Erfassung der historisch aus den Widersprüchen real existierender Gesellschaften sich ergebenden Tendenz progressiver Gesellschaftsveränderung aus. Es ist ideologie-gebunden: von verschiedenen sozialen Subjekten werden die historischen Alternativen und Notwendigkeiten unterschiedlich beurteilt. Kriterium der Wahrheit oder Falschheit eines Standpunktes ist die Praxis, die Realität in ihrer komplexen geschichtlichen Dimension, d.h. unter Berücksichtigung langfristiger Folgen des geschichtlichen Handelns, insofern es in die Bewegung der Geschichte unter historisch gegeben Umständen eingreift. Auf die Länge der Zeit stellt sich die Tragfähigkeit oder Verfehltheit der Interpretation geschichtlicher Prozesse und Zustände durch die jeweiligen Aktoren heraus, wobei die Resultate dieser Prozesse selbst wieder subjektgebundener Deutung unterliegen. Doch ist schließlich das, was für das Wohlergehen großer Bevölkerungsschichten, für die Kultur der Menschengattung in ihrem komplexen Dasein resultiert, Prüfstein einer richtigen Deutung sowohl durch die agierenden Subjekte als auch durch die Analysten („Beobachter“). Kriterium ist das richtige, das gute Leben der Massen des Volkes – materiell, kulturell und politisch. Verstehen in dem hier vorgetragenen Sinne richtet sich nicht primär auf die deutende Interpretation von Texten, sondern auf geschichtliches Handeln und seine leitenden Ideologien in Beziehung darauf, was unter geschichtlich gegebenen Umständen „an der Zeit“ war/ist. Es gilt zu erforschen, was die Akteure in gegebener historischer Situation mit ihrem Tun an gesellschaftlichen Wirkung anstrebten. Es geht um das Ausdeuten von bewusstseinsgeleitetem Handeln, in das die Analyse objektiver geschichtlicher Tendenzen und Notwendigkeiten sowie subjektiver Aktionsbedingungen einbezogen ist. In diesem Sinne ist Ausdeutung von Geschichte Hermeneutik als philosophische Theorie des Sinnverstehens: Der Sinn ist auf das bewusste Handeln von Aktoren unter dem Blickpunkt bezogen, was historisch möglich und notwendig, was geschichtlich geboten war/ist. Der Sinn ist in diesem Verständnis sowohl eine objektive als auch eine subjektive Kategorie; er bezieht sich auf die Dialektik geschichtlichen Werdens und Handelns.

Die Ausdeutung von Texten ist einbezogen, denn in den Texten (Theorien, Ideologien, programmatischen Verlautbarungen, staatlichen Weisungen etc.) verkörpert sich der Sinngehalt dessen, wie die Schöpfer der Texte ihr historisch-gesellschaftliches Sein und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für gesellschaftliches Handeln verstehen. Doch sollte die Textanalyse nicht abgehoben von der Erfassung realer geschichtlicher Umstände erfolgen, sie muss kontextuell in dem Sinne sein, dass sie die geschichtlichen Verhältnisse einbezieht. Denn sie hat es nicht allein mit Sprache zu tun, sondern auch mit dem, was der Sprache voraus- und zugrundeliegt: mit der Realität. Allerdings gebrochen durch subjektive Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozeduren, die sich in Sprache, in Texten bekunden. Insoweit handelt es sich um Hermeneutik von Sein und Bewusstsein in ihrer Verschränkung. Erklärung ist die theoretische Erfassung geschichtlicher Prozesse aus ihren objektiven und subjektiven Widersprüchen, aus realen Kausalitäten heraus. Deutung ist die Interpretation dieser Prozesse in ihrer Be-Deutung für die nachvollziehende Auslegung. Bei der Textexegese handelt es sich also nicht allein um das, was der Autor gemeint hat, sondern auch um das, was realgeschichtlich, durch Interessen und Ideologien vermittelt, der Textkonfiguration zugrunde lag und sich sprachlich artikulierte. Die postmoderne Konzentration auf Sprache lenkt die Geschichtswissenschaft von der Untersuchung der maßgeblichen historischen Fakten ab.[18]

Ziel der Textexegese ist die Sinnerschließung, und zwar in der doppelten Bedeutung von objektivem und subjektivem Sinn. Der objektive Sinn ist die reale funktionelle Tendenz, mittels derer, und das objektiv gesetzte Ziel, auf das hin sich ein geschichtlicher Prozess bewegt. Der subjektive Sinn ist die Funktionsbestimmung, die Aktoren in ihr Handeln legen, wobei objektiver und subjektiver Sinn auseinandergehen können. Primär für geschichtliches Verstehen ist die Erschließung des objektiven Sinns, der geschichtlichen Bewegung in ihrer Funktionalität. Die Deutung ist interessen- und standortgebunden und fällt bei Analytikern unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Orientierung verschieden aus. Auch können erhebliche Unterschiede bei gleicher sozialpolitischer Interessenrichtung nach individuellen Kenntnissen, Einstellungen, moralischen und politischen Wertsetzungen vorhanden sein. Verstehen ist Sinnerschließung, und zwar aus realen und ideellen Kontexten heraus, nicht allein bezogen auf das singularisierte Objekt der Untersuchung in seiner Selbstbezogenheit. Es greift über das Erklären am Leitfaden der Kausalität hinaus, indem es die geistig-seelische Verfassung handelnder Subjekte, ihre Motivationen mit in den Blick nimmt. Man „versteht“ geschichtliches Handeln, wie man einen Text versteht, indem man es in seinen eigenen Denk- und Sinnhorizont aufnimmt und aus seinen realgeschichtlichen und subjektiv-individu­ellen Voraussetzungen „erklärt“. Historisches Verstehen ist eine besondere Art geschichtlichen Erklärens.

Analog kann man ein Kunstwerk verstehen, indem man es von geschichtlich-kulturellen und personalen Bedingungen her in den eigenen Sinnhorizont überträgt und damit eine persönliche Betroffenheit bekundet. Im Verstehen ist eine doppelte personale Sinnerschließung pointiert: vom Aktor (Schöpfer) und vom Rezipienten (Analysten). Sie wird zur Einheit in dem aufschließenden Bemühen desjenigen, der Verstehen in Gang setzt und vollzieht. Doch heißt Verstehen nicht Einnehmen des Standpunkts des (subjektiven) Objekts, denn es schließt kritische Distanzierung ein, soweit es um das Verständnis der Antriebe, Ver­läufe und Folgen des Handelns konkreter geschichtlicher Subjekte geht.

[1] J.Cohen/I.Stewart, Chaos – Antichaos, Berlin 1997, S. 384.

[2] P. Bourdieu, Der Tote packt den Lebenden, Hamburg 1997, S. 130.

[3] C. Cornelißen (Hg.), Geschichtswissenchaften. Eine Einführung, Frankfurt/M. 2000, S. 21, 32.

[4] H. White, Literatur und Geschichtsschreibung, in: Der Sinn des Historischen (Hg. H. Nagl-Dodekal), Frankfurt/M. 1996, S. 89.

[5] Zum Narrativen in der Geschichtsschreibung vgl. S. Talaron, Über die Funktion der Narrativität …, in: J. Angermüller (Hg.), Postmoderne Diskurse zu Sprache und Macht, Hamburg/Berlin 1999, S. 143f.

[6] C. Cornelißen, a.a.O., S. 16.

[7] J. Cohen/I. Stewart, a.a.O., S. 328.

[8] A. Damasio, Descartes Irrtum, München/Leipzig 1997, S. 145.

[9] G. Stiehler, Dialektik und Gesellschaftswissenschaften, Berlin 1987, S. 75f.

[10] M. Weber, Schriften zur Wissenschaftslehre, Stuttgart 1991, S. 17

[11] Siehe R. J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/N.Y. 1998, S. 146f.

[12] P. G. Zimbardo, Psychologie, Augsburg o.J., S. 647.

[13] M. Weber, a.a.O, S. 49.

[14] J. Piaget, Probleme der Entwicklungspsychologie, Hamburg 1993, S. 33.

[15] C. Cornelißen, a.a.O., S. 59.

[16] Vgl. M. Kuckenburg, Lag Eden im Neandertal? Auf der Suche nach dem frühen Menschen, München 1999, S. 350f.

[17] J. Cohen/I. Stewart, a.a.O., S. 323.

[18] Siehe R. J. Evans, a.a.O., S. 177.