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Die Glaubwürdigkeitslücke

Gedanken zu Jürgen Kockas Zwischenbilanz von Forschungen zur DDR-Geschichte

März 2004

Zwischen dem 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 und dem 75. Geburtstag des Mannheimer Historikers Hermann Weber lag eine hinlängliche Zeitdistanz. Sie erlaubte es einem der Festredner, Jürgen Kocka, sich auf eine Zwischenbilanz der DDR-Forschung einzulassen, ohne das Risiko einzugehen, auch nur eine der in ihrer Qualität höchst unterschiedlichen Publikationen zum Thema „Volksaufstand“ in ein Zwielicht zu rücken. Das hätte geschehen können, denn sein Urteil, das damals aufgeworfene Fragen nicht ausließ, fiel bei allem vergebenen Lob doch kritisch aus. Die Erstveröffentlichung des Vortrags[1][1] rief auch Widerspruch hervor, weil die Bilanz „düster“ ausgefallen sei. Dies kam aus Kreisen, die sich nach wie vor von Kocka zur Sprache gebrachten Einsichten verschließen und in der Doppelrolle von Richtern und Staatsanwälten auftreten, aber nicht in deren Berufskleidung, sondern im Zivil von Historikern.

Versuchen wir uns das Problem – um nicht zu sagen: den Ärger – mit der DDR-Geschichte anhand einer vor kurzem erfolgten Vorstellung eines Buches zu verdeutlichen. Es behandelt ein Thema aus dieser Geschichte, ein sehr spezielles aus dem weiten Bereich von Kultur- und Literaturpolitik und -produktion und kann auf ein massenhaftes Lesepublikum gewiss nicht rechnen. Vorgelegt wurde eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt.[2][2] Auskunft darüber gab in einer Rundfunksendung Simone Barck, eine Autorin der Monographie, die auf der Basis ausgewiesener Expertenschaft und des, man muss wohl sagen, geretteten Verlagsarchivs entstand. Frühere Mitarbeiter der Einrichtung habe sie durchaus stolz auf ihre Arbeit gefunden und, so lautete ein Urteil der Verfasserin, dafür besäßen sie Grund. Zu ihren Verdiensten gehört, dass sie in Gemeinschaft mit Übersetzern, mitunter Schwierigkeiten mit der Staatsaufsicht überwindend, aber keineswegs im Dauerclinch mit heute unverständlich anmutender Borniertheit sich befindend, Hunderttausende von Lesern mit dem Reichtum der Weltliteratur bekannt gemacht hätten.

Hic Rhodus, hic salta. Bürger im “Unrechtsstaat“, keine Trümmerfrauen der frühen Nachkriegsjahre, denen zu nichts verpflichtende Verbeugungen gemacht werden können, nein Büchermacher, die auf ihre Arbeit in einem inzwischen auch nicht mehr existierenden Verlag, an einem Abschnitt, der damals zur „ideologischen Front“ gezählt wurde, stolz sein, dieses Gefühl auch ausdrücken und hoffen können, dass ihre Hinterlassenschaft in den Turbulenzen der Wende nicht aus allen öffentlichen und manchen Privatbibliotheken entfernt worden und auf Müllkippen und in Papierfabriken gelandet ist. Diese Verdienste und Gefühle von Ostdeutschen und Ostberlinern beim Rückblick auf ihre Lebensarbeit kamen in der kenntnisreichen Rede Kockas nicht vor und mithin auch nicht das sich damit für die Geschichtsschreibung verbindende Problem. Das war mehr als nur schade.

Zunächst benannte der Redner die großen Gegenstände und Themenfelder, auf denen unter den Bedingungen des ungehinderten Zugangs zu überreichen archivierten Quellen und großzügiger finanzieller Förderung aus vielen Staats- und Stiftungstöpfen wichtige Ergebnisse erzielt werden konnten. Heute schon wüssten wir viel mehr über diese Gesellschaft und den Staat DDR als bei seinem Zusammenbruch erwartet worden sei. Dies beträfe zum ersten die Darstellung der Herrschaftsgeschichte, darunter die „grausamen Aspekte“ der Diktatur, die schwerlich auf den Begriff zu bringen wäre. Was freilich zu erfassen nicht gelungen und zu ermitteln schwer sei, wären die „Wirkungen“ der Diktatur, eine Bemerkung, die auf gewisse nicht näher beschriebene methodologische Schwierigkeiten hindeutet und die Frage provoziert, ob diese sich angesichts der (Noch)Antreffbarkeit von Millionen Zeitzeugen nicht meistern ließen. Vorausgesetzt, keiner der mit dieser Materie Befassten vertritt die Auffassung, der Zeitzeuge sei der Hauptfeind des Historikers.

Sodann wäre die Geschichtswissenschaft auf der Forschungsroute „Opfer – Resistenz – Widerstand“ gut vorangekommen. Da hätte sie sich in der Lage gezeigt, Anschluss an die Geschichte der Proteste, der Emanzipation und der Freiheit im 20. Jahrhundert zu finden, was am überzeugendsten im Zusammenhang mit den Arbeiten zum 17. Juni gelungen sei. Die gipfelten, wie erinnerlich, in der Einordnung des Tages in eine Traditionslinie, die an einem Julitag im Jahre 1789 in Paris mit dem Bastillesturm begonnen haben soll, was sich wiederum mit einer späten Selbstkritik von Bürgerbewegten verband, die sich vorwarfen, diesen weltgeschichtlichen Zusammenhang nicht gesehen und sich deshalb nicht auf das Jahr 1953 bezogen zu haben.

Schließlich wäre Wichtiges bei der Erforschung der Sozial-, Kultur- und Alltagsgeschichte an den Tag gebracht worden, Ergebnisse, denen allerdings jene „Meisterzählung“ zum Opfer gefallen sei, der zufolge die ganze Gesellschaft von der Obrigkeit geleitet, kontrolliert, eben beherrscht (oder wie es modisch heißt: durchherrscht) worden wäre. Zwischen Herrschaft und Widerstand sei in der DDR-Gesellschaft vieles geschehen, was weder dieser noch jenem zugeordnet werden könnte.

Wie wahr! Und wie wenig originell, gibt es doch seit Menschengedenken und bis in „graue Vorzeit“ keine Gesellschaft, in der das nicht der Fall gewesen wäre. Es scheint, dass manche Forscher im Hinblick auf die DDR, nachdem sie sich unter dem Druck der Quellen und Fakten vom politisch vorgegebenen Klischeebild partiell befreit haben, doch zu Einsichten zurückfanden, die sie besser nicht hätten aufgeben sollen. Oder anders ausgedrückt: Sie scheinen sich der Erkenntnis anzunähern, dass Gesellschaft und Staat der DDR, will man ein Geschichtsbild gewinnen statt eine Karikatur zu zeichnen oder ein Horrorgemälde anzufertigen, mit eben jenem geschichtswissenschaftlichen Instrumentarium erforscht und analysiert werden müssen, das auch in jedem anderen analogen Falle angewendet wird und sich bewährt hat.

Dazu drängt, wie Kocka im weiteren mitteilte, auch die – das sind freilich seine Worte nicht – Glaubwürdigkeitslücke, die es zwischen bisherigen Forschungsresultaten und den aus ihnen entworfenen Bildern und denen gibt, die in der unverklärten Erinnerung der Bürger des untergegangen Staates fortexistieren. Von diesem Dilemma war mehrfach schon die Rede, so in der Formulierung vom Leben, das den „Ehemaligen“ mit den staatsgefälligen Geschichtsdarstellungen gleichsam gestohlen würde. Ein unbeabsichtigter Coup, der aber misslang. Denn anders als bei den bekannten Formen von Diebstahl und Raub, die mit der deutschen Einheit einhergingen und sich aufs Materielle gerichtet hatten, war das mit den Biographien nicht zu machen.

So häuften sich Rätselraten und Pröbeln, wie man den Neubürgern ein Er­weckungserlebnis verschaffen und ihnen doch erklären könne, in welch gesellschaftlichen und staatlichen Zuständen sie eigentlich gelebt hätten, ohne es recht gemerkt zu haben. In diesem Zusammenhang wurde die Geschichte mit den Nischen gefunden, die heute – soweit und nur soweit es das Bild angeht – auch der Vergangenheit angehört, denn es vermochte sich die Mehrheit der Ostdeutschen an derlei halbverstecktes Dasein auch wieder nicht zu erinnern.[3][3]

Kocka spitzte sein Nachdenken in das einprägsame Bild zu, dass die Geschichtswissenschaftler, die sich mit der DDR-Geschichte befassen, inzwischen zwar in der Lage seien, sich den Untergang der DDR zu erklären, nicht aber deren vierzigjährige Existenz, die doch von einer relativen Stabilität zeuge. Eine Zeitspanne übrigens, die sich schärfer bewusst machen lässt, wenn man sich daran erinnert, dass es die faschistische Diktatur auf etwas mehr als 12, die Weimarer Republik auf etwas mehr als 14 und das deutsche Kaiserreich auf knapp 47 Jahre Dauer gebracht haben. Dieses Dauern spräche von Zustimmung, Akzeptanz und Tolerierung und diese wiederum wären ohne Leistungen und Erfolge nicht zu erreichen gewesen.

Das zwingt, wird es ernst genommen, die Mehrheit der an der Anfertigung der DDR-Bilder Beteiligten, sich die Augen zu reiben, die Brille zu putzen und mehr oder weniger von vorn zu beginnen und vor allem, sich definitiv von jenen 1990 formulierten politischen Vorgaben und Klischees zu verabschieden, die mit Wissenschaft nichts zu tun hatten, sondern der Treuhand, den Abwicklern – zu denen auch Kocka gehörte – und Bankiers, Industriellen und Großhändlern die Einzugswege nach Ostdeutschland ebneten. Davon, über den unheilvollen Einfluss der Politik auf die Geschichtswissenschaft in puncto DDR-Geschichte, die sich mit jenen des Politbüros in seinen am stärksten von Dogmatismus geprägten Zeiten durchaus messen kann, wollte der Redner freilich nicht vorrangig sprechen. Zunächst machte er für den kritischen Zustand Gründe innerhalb der Zunft selbst geltend. Die DDR-Geschichtsforschung würde in einer derart hochgradigen Spezialisierung betrieben, dass offenkundig nicht zusammengedacht werden kann, was zusammengehört. In der Tat ist die Geschichte dieser deutschen Gesellschaft und des ostdeutschen Staates für viele Forschende das erste Thema, an dem sie ihre Fähigkeiten erproben. Sie würden, so auch die provozierende Überschrift des Redeabdrucks, nicht über den Tellerrand blicken. Derlei – mit Verlaub: undialektische – provinzielle Forschungsweise kann für die Aufhellung der Vergangenheit eines Feuerwehrvereins in einem Ort bei Königsberg hingehen, im vorliegenden Fall führt sie ins Blamable. So wurde denn auch in einer die Analyse ergänzenden Zuschrift verlangt, dass sich die DDR-Forschung von der „Regionalisierung“ lösen und dieser Staat als ein europäischer begriffen und also in die Geschichte des Kontinents eingeordnet werden müsse. Auch keine Erleuchtung, aber immerhin.

Ohne Vergleiche, sagte Kocka, wäre die Forschung zur DDR nicht voranzubringen und nannte – oh unbewältigter Geist der Wende – prompt den mit der Nazidiktatur an erster Stelle, sodann den mit der Bundesrepublik und den mit anderen osteuropäischen Staaten in deren volksdemokratischer oder realsozialistischer Periode. Dass dies zu neuen Fragen und Erkenntnissen führe, wurde an dem schon bei einem sehr flüchtigen Vergleich auszumachenden Faktum illustriert, dass die DDR verglichen mit ihren osteuropäischen Nachbarn Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn eine „konfliktarme“ Geschichte aufweise, jedenfalls doch, wenn dabei an dramatische politische und soziale Zuspitzungen gedacht wird. Das müsse auch weiter ergründet werden und wird – dies nebenbei – dann auch den Ereignissen des Jahres 1953 seinen angemessenen geschichtlichen Ort geben.

Dann kam der Redner doch auf außerwissenschaftliche Einflüsse, die im Hinblick auf die Erforschung der DDR-Geschichte besser wenn auch nicht durchweg widerwissenschaftliche genannt zu werden verdienen. Von den finanziellen Segnungen war schon die Rede. Doch die „mächtigeren“ Interessen, die weder im Detail erörtert noch auf den Begriff gebracht wurden, wirkten auch schädigend. Dazu wurde auch von Kommentatoren und Kritikern später Ergänzendes nicht angefügt. Daher: Es wird ohne die erklärte Abwendung von jeder Forderung nicht abgehen, die sich an die Devise des Klaus Kinkel, Außenminister in der Kohl-Regierung, knüpft, wonach die geistigen Anstrengungen auf die „Delegitimierung“ der DDR gerichtet werden müssten. Es wird innerhalb der Forschung nicht vorangehen ohne die auch nicht nur klammheimlich vorzunehmende Verabschiedung von der diffamierenden These von der „zweiten deutschen Diktatur“, die Verdammungsurteil, Hass und Ekel, angesammelt beim Blick auf die Naziherrschaft, auf den ostdeutschen Staat lenken soll und die bis heute öffentlich im Schwange ist. Ein Beispiel: „In einer (Fernseh-)Sendung unter dem Titel ‚Unsere Besten’ haben Kriegsverbrecher und Menschen, die Millionen andere Menschen in den Tod getrieben haben, nichts zu suchen. Sowohl die Repräsentanten des NS-Regimes als auch – ich mache da eindeutig einen qualitativen Unterschied – der SED-Führung haben auf unserer Liste daher nichts verloren.“ So spricht der Hobby-Historiker namens Kerner in der Zeitung Die Welt, der methodisch-infam gegen die DDR-Führung pauschal nicht anders argumentiert als der hessische Bundestagsabgeordnete gegen die „jüdischen Bolschewisten“. Nur: Niemand aus der Zunft erhebt einen Ordnungsruf. Weil er dann dauernd rufen müsste und nicht zu seiner Arbeit käme? Eben. Aber auch eben darum. Es wird weiter nicht abgehen ohne die einzubekennende Preisgabe des Begriffs „Unrechtsstaat“, über dessen Untauglichkeit für wissenschaftlich unterscheidende Zwecke sich Historiker mit Staatsrechtlern und -theoretikern längst hätten konsultieren können.

Doch die Etikettierungen sind es nicht allein. Im starren Blick auf sie drückt sich doch der Unwille aus, auch nur in die Flasche zu blicken, in der sich nichts als Gift befinden soll. Kocka plädierte dafür, sich den Klassen in der DDR zuzuwenden und deren viel zu kurz gekommene Wirtschaftsgeschichte zu erforschen. Richtig und wichtig. Doch wird bei alledem ein Durchbruch zur Glaubwürdigkeit nicht erreicht werden können, wenn zweierlei außer Betracht bleibt, was in Forschungen genauer und differenzierter erfasst werden muss, aber als Faktum nicht erst zu entdecken ist. Erstens, dass Entstehung und Existenz der DDR einen historisch, politisch und moralisch legitimen Versuch darstellten, sich aus der deutschen Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 fortzuarbeiten, und dass der ostdeutsche Staat weder ein sowjetisches Implantat in die deutsche Nationalgeschichte war (so sehr die Beziehungen UdSSR-DDR der weiteren Aufhellung bedürfen) noch ein Produkt des Zufallsspiels der Geschichte (so sehr Zufälle in ihrem Gang eine Rolle spielen) noch das Gebilde einer Politmafia (so blind-herrschaftsbesessen sich Personen an ihrer Spitze auch gezeigt haben mochten). Zweitens, dass das geschichtliche Großunternehmen, über die kapitalistische Gesellschaft mit ihren Krisen und Kriegen, mit Arbeitslosigkeit und Unbildung, mit der Anhäufung ungeheuerer Reichtümer bei wenigen und der Verarmung und Verelendung größerer Menschengruppen, mit der Verblödung der Massen hinaus zu kommen, von Millionen in Ostdeutschland gutgeheißen, mit Hoffnungen angestrebt und mit Freuden und Leiden getragen wurde. Zu im einzelnen zu bestimmenden Zeiten war dieser ostdeutsche Weg für diese Millionen der eigene, nicht der fremdbestimmte, kein ihnen aufgezwungener. Noch in der Stunde der Agonie des Staates und des einsetzenden Abrisses der Fundamente der neuen Gesellschaft erhielt sich die Hoffnung, die auch da zuletzt starb, auf einen gesellschaftlichen Um- und Neubau, der nicht nach bundesrepublikanischem Konstruktionsmuster erfolgen würde.

Und drittens: Die innere geistige und mentale Bindung an die Utopie von einer Gesellschaft, die sehr alte Menschheitsideale verwirklichen werde, kann rechtens auch einem erheblichen Teil derer nicht abgesprochen werden, die in gesellschaftlichen und staatlichen Funktionen und Apparaten tätig waren. Die Vorstellung, Freude, menschliches Zueinander, Wärme wären in dieser untergegangenen Gesellschaft den Obrigkeiten nur abzutrotzen gewesen, hätten sich nur auf dem Wege der Verweigerung, des Rückzugs ins Private usw. erreichen lassen, gehört zu den Zerrbildern, gepflegt von – auch da nicht allen – „Revolutionären des Jahres 1989“, die übrigens im Unterschied zu Antifaschisten und Juden nach 1945 in der BRD ihre Leidensgeschichten vor sich her trugen, die ihre äußerste Aufgipfelung in der Wendung vom „Auschwitz der Seelen“ fand.

An diesen Barrieren führt kein Schleichweg vorbei. Dass sie nicht einmal benannt werden, zeigt, dass selbst der Anlauf noch nicht genommen ist, über sie hinweg zu gelangen. Solange Verweigerungen vorherrschen, wird die Glaubwürdigkeitslücke nicht geschlossen werden können und die Geschichtswissenschaft dazu beitragen, die Ostdeutschen beim Blick auf ihre Geschichte sich selbst zu überlassen. Kocka sagte: „Der Ort der DDR in der Geschichte der deutschen Nation und des deutschen Nationalstaates ist noch lange nicht ausdiskutiert.“ Das ist wahr, scheint mir aber nicht nur auf dem Wege von Diskussionen erreichbar. Das Aufzuklärende muss von seinem Beginn, nicht von seinem Ende her untersucht werden, die DDR von ihrer Entstehung aus, nicht von der Perspektive ihres Untergangs her und zudem in dem Bewusstsein, dass Sieger mit dem Verständnis von Geschichte meist die größeren Schwierigkeiten hatten.

Mit jener der DDR sind auch Verlierer, und dies im wahrsten Wortsinn, befasst – entlassene, abgewickelte, strafberentete Historiker, Wirtschaftshistoriker, Soziologen u.a. Von deren Mühen und Ergebnissen, erarbeitet unter der Last des Wissens um das eigene und teils selbstverschuldete Scheitern, entstanden auf einem meist argen Weg der Erkenntnis, gewonnen ohne wohlwollende Förderung, publiziert häufig an abseitiger Stelle, hat Kocka bei diesem Anlass zu reden für überflüssig gehalten.[4][4] Verständlich ist das, aber nicht klug und wissenschaftlichem Verhalten unangemessen. Übrigens hat der Festredner sich am Ende gefragt, ob aus der DDR-Geschichte etwas zu lernen sei und – ein Schelm, der da gleich ans Strammsozialdemokratische denkt – auf die Sozialpolitik des ostdeutschen Staates verwiesen, die eine Quelle seines Scheiterns gewesen sei.

Zum Schluss: Wer heute über das Geschichtsbild von der DDR redet, muss über den Fernseh-Klamauk nicht sprechen, der jüngst mehrfach veranstaltet worden ist. Mitzudenken hat er ihn schon. Denn zum einen werden sich Neubürger mit dem, was „Banalisierung“ und „Humorisierung“ – wie merkwürdig auseinanderlaufend sind Vorstellungen von Humor – ihrer Vergangenheit genannt worden ist, auch nicht abspeisen lassen. Zum, anderen und wichtiger noch sind Reaktionen auf dieses Angebot. Es ertönten Alarmglocken. Selbst diese unsägliche Art und Weise, sich auf Geschichte zu beziehen, erregte schlimmsten Verdacht: Hier solle ein geschöntes Bild der „Diktatur“ raffiniert unter die Leute gebracht werden. Diese, so wettert Die Welt, solle verniedlicht, Terror und Furor vergessen gemacht, „die doppelte totalitäre Erfahrung entsorgt, die Erinnerung an ein System ausgelöscht werden, „das Tausende verfolgte, einsperrte, zersetzte, tötete“. Auch der zweite Mann in der bundesdeutschen Staatshierarchie, Bundespräsident Wolfgang Thierse, einst DDR-Bürger und Mitarbeiter ihrer Akademie der Wissenschaften, besteht nach seinen Fernseheinblicken in der Zeitung der Katholischen Akademie in Berlin darauf, dass Glück für ihn bis 1989 nur im Privaten zu haben war, jenseits davon „war eine grimmige Idylle“.[5][5] Da begegnet er uns wieder: der Staatsanspruch an die Wissenschaft. Kinkel lebt. Und die Geschichtswissenschaft hat sich dazu zu verhalten bei Strafe ihrer gesellschaftlichen Nichtachtung durch die Ostdeutschen, ausgenommen Zwangsbeschulte, die Verordnungen unterliegen.

[1][6] Der Blick über den Tellerrand fehlt. Frankfurter Rundschau, 22. August 2003. Die Welt überschrieb ihren Kurzbericht übe die Veranstaltung, auf der auch Rainer Eppelmann sprach, mit „DDR-Forschung dreht sich zu oft um sich selbst“. Ausgabe vom 25. August 2003.

[2][7] Simone Barck (Hg.), Fenster zur Welt: eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt, Berlin 2003

[3][8] Zur Reanimierung dieses Bildes durfte jüngst auch Manfred Krug öffentlich mit dem Bemerken beitragen: „Selbst in einem riesigen Gefängnis gibt es mitunter Lichtblicke.“ In: Neues Deutschland v. 10. Oktober 2003.

[4][9] Bei anderer Gelegenheit hat er in einer Fußnote herablassend auf die „minderheitlichen Positionen“ verwiesen und gönnerhaft bemerkt, es handle sich um eine „durchaus interessante Literatur, (entstanden), im Umkreis der Leibniz-Societät, der „Hellen Panke“, des Luisenstädtischen Geschichtsvereins und ähnlicher Initiativen (!)“. Wer sich darüber sachlich informieren will vermag, das u.a. anhand des Artikels von Stefan Berger, Was bleibt von der Geschichtswissenschaft der DDR? Blick auf eine alternative historische Kultur im Osten Deutschlands. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 50 (2002), S. 1016-1034. Und beispielhaft für die Debatten um Methodologie und Wege weiterer Forschungen sei erwähnt: Forschungsfeld DDR-Geschichte. Kolloquium anlässlich des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Rolf Badstübner. Berlin 1999. (Pankower Vorträge, 15).

[5][10] Wolfgang Thierse, Die DDR als Idylle missverstehen. In: Programm. Zeitung der Katholischen Akademie in Berlin e.V., 2. Jg. Nr. 4, 2003.

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