Berichte

„The world is not for sale"

Socialist Scholars Conference, 12.-14. März 2004, New York

Juni 2004

Seit über zwanzig Jahren findet in New York die Socialist Scholars Conference (SSC) statt. Die Konferenz hat sich, wie dem Programmheft zu entnehmen ist, mittlerweile zum „größten jährlichen Ereignis der US-amerikanischen Linken“ entwickelt. Stand die Konferenz im letzten Jahr mit dem Motto „War Without End – The Left Responds“ ganz im Zeichen des bevorstehenden Kriegs gegen den Irak und der weltweiten Friedensbewegung (vgl. Z. Nr. 54), so griff der diesjährige Titel eine zentrale Parole weltweiter Sozialbewegungen auf: „The World is not for Sale – Rethinking the Common Good“. Die im vergangenen Jahr geführte Diskussion um einen „neuen Imperialismus“ wurde freilich fortgesetzt.

Eine Scharnierfunktion zwischen beiden Themenkomplexen kam David Harvey zu, dem „Star“ der diesjährigen SSC. Sein im letzten Jahr bei Oxford University Press veröffentlichter Band „The New Imperialism“ – mittlerweile in einer zweiten Auflage erschienen – wurde und wird in der linken Gegenöffentlichkeit (nicht nur in den USA) breit rezipiert und diskutiert. Die zentrale These des Bandes, dass die „ursprüngliche Akkumulation“ kein Phänomen sei, das bloß an der „Wiege des Kapitalismus“ vorgekommen sei, sondern vielmehr ständig reproduzierter Bestandteil kapitalistischer Ökonomie, insbesondere als Ausweg aus Überakkumulationskrisen, verdichtet sich in der zeitdiagnostischen Formel einer „Akkumulation durch Enteignung“ („accumulation by disposession“): „Der Enron-Zusammenbruch enteignete viele Menschen ihres Lebensunterhalts und ihrer Rentenansprüche. Aber über all das hinaus müssen wir unser Auge auf die spekulativen Raubzüge, die von Hedge-Funds und anderen Institutionen des Finanzkapitals als Spitze des Eisbergs der heutigen Akkumulation durch Enteignung richten. Durch die Herbeiführung einer Liquiditätskrise in ganz Südostasien trieben die Hedge-Funds profitable Unternehmen in den Ruin. Diese Unternehmen konnten dann zu Ramschpreisen durch überschüssiges Kapital in den Kernländern aufgekauft werden [...].“1[1] Nicht nur an diesem letzten Beispiel, auch im Zusammenhang mit dem TRIPS-Abkommen und dem „Plündern des Weltvorrats an genetischen Ressourcen zum Nutzen von wenigen riesigen multinationalen Konzernen“2[2], wird die geographische Dimension der Kapitallogik deutlich, die für Harvey in der Suche nach einer „raum-zeitlichen Bindung“ überschüssigen Kapitals liegt. Damit fasst der Begriff einer „Akkumulation durch Enteignung“ eine auf Privatisierung und Sozialabbau gerichtete Wirtschaftspolitik im Innern der Zentren mit einer globalen Enteignungsökonomie zusammen, die als eigentliche Basis des „neuen Imperialismus“ begriffen wird.

Harveys Thesen waren auf vielen Podien präsent. Ein „panel“ hieß sogar (in Anlehnung an Harveys Begrifflichkeit) „Disposession – Appropiation“: The Politics of the Commons“. Neben Harvey selbst diskutierten dort – moderiert von Barbara EpsteinAnatole Anton aus San Francisco, Nancy Holmstrom von der Rutgers University, David Moore von der University of KwaZulu-Natal in Südafrika, Mario Candeias und Jörg Huffschmid.

Während David Moore die Formen analysierte, die eine Akkumulation durch Enteignung in afrikanischen Ländern – etwa in Ruanda und Simbabwe – annimmt, eröffnete Candeias eine Perspektive des Widerstands gegen Neoliberalismus und „disposession“ in alltäglichen Praxen der „Wiederaneignung von unten“. Die gegenwärtige Demontage des Sozialstaats bezeichnete Huffschmid als eine „Konterreform“, die gegen die Errungenschaften gerichtet sei, die nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt wurden. Der damit verbundene „Roll-Back“ sei möglich durch eine Veränderung der Kräfteverhältnisse: sowohl was das Verhältnis Zentrum-Peripherie betreffe, als auch in den Zentren selbst. Ein entscheidender Faktor sei der Zusammenbruch des realexisierenden Sozialismus und die Zerstörung der dortigen Ökonomien. Das Ergebnis sei eine Frontstellung gegen progressive Kräfte in einer Welt, deren Ökonomie geprägt ist von steigender Arbeitslosigkeit, sinkenden Einkommen und einem Rückgang der Distribution. In dieser Ökonomie kämen „Enteignung und Aneignung“ eine „zentrale Funktion“ zu. Bislang seien zwar viele Proteste zu beobachten, die jedoch (noch) nicht die Form einer großen sozialen Bewegung angenommen hätten. Wichtig sei, dass die Linke versuche, Begriffe wie „Vollbeschäftigung“ und „Wohlfahrt“ im ökonomischen Diskurs neu zu implementieren.

Auf einem Podium zur Frage „Euroimperialismus?“ diskutierten – neben Huff­schmid – Dorothee Bohle, Peter Gowan, Frank Deppe, Jan Kavan, William Hartung und Daniel Cirera. Huffschmid stellte heraus, daß die EU derzeit drei Optionen habe: am wahrscheinlichsten sei, dass sie sich zum Juniorpartner der USA in Frontstellung gegen den Süden entwickele, unwahrscheinlich, aber gefährlich, wäre der Versuch, als Konkurrent der USA eine starke politische und militärische Macht zu etablieren. Unwahrscheinlich sei auch eine Politik, die – im progressiven Sinn – ein alternatives Modell sozialer Entwicklung zum einigenden Projekt Europas mache. In einem kontrastierenden Vergleich der Selbstkonzeption Europas als friedliche und demokratische Alternative zu den imperialistischen Politiken der ersten Jahrhunderthälfte und den Realitäten des Verhältnis zwischen Zentren und Peripherie (insbesondere zwischen den Westeuropäischen Zentren und der osteuropäischen Semiperipherie) beschrieb Dorothee Bohle die Auswirkungen einer neoliberalen Politik, die – im Einklang mit dem IWF – auf Marktöffnung und Privatisierung drängt. In diesem Zusammenhang argumentierte sie gegen den Mythos eines „weichen“ Euroimperialismus: „Im Verhältnis zur Peripherie ist es harter Imperialismus“. Auffallend sei jedoch, dass es kein Imperialismus sei, der sich als Frontstellung gegen andere Imperialismen artikuliere. Die USA und Europa gingen vielmehr in den meisten Fällen Hand in Hand.

Auch Frank Deppe hält eine – über den Konflikt des vergangenen Jahres hinausgehende – Konfrontation zwischen den USA und Europa für wenig wahrscheinlich. Großen Wert legte er darauf, dass im Titel des Podiums der Begriff „Euroimperialismus“ mit einem Fragezeichen versehen war. Deppe wies darauf hin, dass die Frage nach einem europäischen Imperialismus im Kontext der Debatte um die Restrukturierung einer Weltordnung nach dem Kalten Krieg und im Zusammenhang mit den Transformationen von Staatlichkeit und Ökonomie gesehen werden müsse. Gemeinhin werde darauf verwiesen, dass europäische Politik für Sozialstaatlichkeit, Multilateralismus und die Herrschaft des Rechts stünde. Als ein Manifest für Europa als eines – in diesem Sinne – gegenhegemonialen Projekts erwähnte Deppe einen Artikel, den Jürgen Habermas und Jaques Derrida im vergangenen Jahr in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlicht haben. Auffallend daran sei, dass sich die politischen Forderungen nach einem Kerneuropa, das einen politischen, sozialen und militärischen Weg vorzeichne, mit der damaligen Position des deutschen Außenministeriums gedeckt habe. Auffallend sei aber auch, dass es in der europäischen Gesellschaft kaum eine nennenswerte Kraft gebe, die an einer wirklichen Abspaltung von Amerika interessiert sei. Sowohl wichtige Fraktionen des Kapitals als auch die deutsche Opposition seien vielmehr an einer Intensivierung des transatlantischen Verhältnisses interessiert. Die spätere Distanzierung Fischers vom Kerneuropagedanken und das gemeinsame Papier von Bush und Schröder zeigten, dass auch die deutsche Regierung kein Zerwürfnis mit Washington wolle. Zudem hätten die Autoren verkannt, dass gegenwärtig eben nicht der Versuch eines europäischen Sozialstaats auf der Agenda stehe. Weder sei es daher wahrscheinlich, dass sich ein zwischenimperialistischer Konflikt anbahne, noch würde versucht, mit einem europäischen Sozialstaatsmodell vom Neoliberalismus abweichende sozialpolitische Akzente in Europa zu setzen.

Insgesamt gelang es der Tagung, kontroverse und interessante Diskussionen anzuregen.

1[3] Harvey, David (2003): Der „neue“ Imperialismus: Akkumulation durch Enteignung – Supplement der Zeitschrift Sozialismus 5/2003; Deutsch von Ingar Solty, S. 18f.

2[4] Ebd., S.19.

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