Arbeiterbewegung und Politiktheorie

Neuere Literatur zu China

Dezember 2005

Im Mittelpunkt dieses Berichts über neuere Literatur zu China steht neben einem allgemeinen Überblick über die gegenwärtigen Entwicklungen in diesem Land die Rolle der kommunistischen Führung sowie die Frage, mit welchen Problemen sich gegenwärtig die chinesische Arbeiterbewegung konfrontiert sieht, und welche Rolle Intellektuelle in dem seit den frühen 1980er Jahren stattfindenden Öffnungs- und Transformationsprozess spielen.

Der chinesische Transformationsprozess

Der von dem marxistischen Sinologen Helmut Peters verfasste Bericht über die gegenwärtigen Entwicklungen und Verhältnisse in China[1] untersucht die Politik der KPCh und der chinesischen Volkswirtschaft, so u. a. Landwirtschaft, Industrie, Finanz- und Geldpolitik, Außenhandel, Bevölkerungspolitik und Umweltschutz. Dabei werden die historischen Hintergründe und Zusammenhänge des chinesischen Transformationsprozesses herausgearbeitet, bei dem es darum geht, ob und wie sich eine bisher planwirtschaftlich organisierte Ökonomie und Lebensweise innerhalb einer Gesellschaft mit sozialistischem Anspruch zu einer kapitalistischen Gesellschaftsform hin entwickelt. Peters geht auf die Auswirkungen der Wirtschaftsreformen, ihre Folgen für die Eigentums- und Verteilungsverhältnisse ein und informiert ausführlich über die sozialen und Klassenstrukturen.

In der „Einführung in die chinesische Problematik“ geht er auf die historischen und nationalen Voraussetzungen des chinesischen Wirtschaftsbooms und die Integration Chinas in die Weltwirtschaft ein, die die Form einer „Werkbank“ des „internationalen Großkapitals“ angenommen habe, aber auch zunehmend in Form der Gründung eigner global agierender chinesischer Unternehmen stattfinde (4). Peters zieht eine Kontinuitätslinie, indem er diese Entwicklung in einen seit der Gründung der Volksrepublik fortlaufenden „spezifischen Transformationsprozess“ einordnet. So bewertet er die Reformpolitik als Konsequenz des gescheiterten Versuchs, in China den Sozialismus ohne „das Stadium der kapitalistischen Gesellschaft“ (4) einführen zu wollen. Dabei sieht er die Gefahr eines „Abgleiten(s) in den Kapitalismus“. „In diesem Prozess liegen Altes und Neues, sozialistische und kapitalistische Elemente, liegen Normales und Abartiges miteinander im heftigem Widerstreit.“ (4) Dem ließe sich allerdings entgegen halten, dass China schon längst im neoliberalen Kapitalismus angekommen ist. Zu Recht weist Peters allerdings darauf hin, dass diese Entwicklung durch „gravierende Widersprüche“ gekennzeichnet ist, die allein schon durch geografische und demografische Gegebenheiten – die Größe des Landes und die hohe Bevölkerungszahl - erzeugt werden: zwischen boomenden und zurückbleibenden Regionen, zwischen Stadt und Land, zwischen den profitierenden und den verlierenden sozialen Schichten und Klassen. Im Abschnitt „Kontinuität und Veränderung in der Sozialismus-Rezeption der KP Chinas seit Ende der 1970er Jahre“ (5-6) diskutiert Peters die ideologische Ausrichtung der KP-Führung nach der Mao-Ära. Die KP habe sich vom „Sozialismus nach sowjetischem Modell“ lossagen wollen und habe ideologisch den Weg zu einem „Sozialismus chinesischer Prägung“ bereitet, um die „sozialistische Modernisierung schrittweise zu verwirklichen“ (6). Dies gilt vielleicht bis Ende der 80er Jahre, als tatsächlich viele Intellektuelle an die Möglichkeit der Reform hin zu einem demokratischen Sozialismus glaubten. Doch seit dem Massaker an chinesischen Studenten am 4. Juni 1989 in Beijing und dem damit eingeleiteten Ende der Demokratiebewegung (die Unruhen waren nicht der Ausdruck einer neuen Bewegung, sondern das Ende einer alten) spricht vieles dafür, dass die Hoffnungen auf einen reformierten Sozialismus ad acta gelegt wurden. Peters folgt hier offenbar der KP-Rhetorik von der „sozialistischen Marktwirtschaft“. Die KP-Führung legitimiert ihre Öffnungspolitik heute zwar immer noch mit den Theorien Deng Xiaopings, verbindet diese aber mit radikaler Marktwirtschaft, Liberalisierung und Privatisierung.

Als wesentlich bei der Entwicklung der chinesischen Volkswirtschaft benennt Peters den Übergang von einer vornehmlich agrarisch geprägten Gesellschaft zu einer industriellen auf der Basis einer „wissenschaftlich-technischen Revolution“, die Etablierung einer Marktwirtschaft unter staatlicher Kontrolle, den Übergang von einer arbeitsintensiven zu einer kapitalintensiven (Re-)produktion, die Bildung eines nationalen Marktes sowie die Einbindung in die Weltwirtschaft (7ff.). Nachdem die ursprüngliche Akkumulation (Agrarwirtschaft) abgeschlossen sei, werde die Grundlage der erneuerten chinesischen Wirtschaft von einer neuen Trias von staatlicher Wirtschaft, Privatwirtschaft und ausländischem Kapital gebildet, deren Investitionen sich auf Stadt und Industrie konzentrierten. Diese drei Sektoren sollen Agrarwirtschaft und ländliche Regionen „mitziehen“ (mitgezogen werden aber ohnehin nur die arbeitslos gewordenen Bauern). Der Lebensstandard der Gesamtbevölkerung sei, so Peters, insgesamt angehoben worden (7). Der Agrarsektor bleibt weiterhin dominierend: In der Landwirtschaft arbeiten immer noch die allermeisten Menschen - oder sie bleiben, obwohl arbeitslos, an sie gebunden. In der Industrie, die seit ihrer Modernisierung zunehmend an Bedeutung gewinnt, nehmen die Zahl der Beschäftigten und das Produktionsvolumen kontinuierlich zu - der wichtigste Sektor ist dabei die High-Tech-Industrie. In der Finanz- und Geldpolitik hat sich China den internationalen Standards weitgehend angenähert.

Der Transformationsprozess wirkt sich auch auf die soziale Struktur der chinesischen Gesellschaft aus. Peters kritisiert die soziale Gliederung, wie sie die KP heute offiziell wahrnimmt. Diese teilt die Gesellschaft in zehn große Schichten oder fünf Stände (Führungskader, Manager, Fachleute, Privatunternehmer, Arbeiter und Bauern). Zu Recht sieht Peters darin einen „politischen Pragmatismus“, der sich von der Vorstellung einer egalitären sozialistischen Gesellschaft verabschiedet und stattdessen nationalistische Orientierungen als gesellschaftlichen Kitt nutzt. Tatsächlich vertieft sich aber die Klassenspaltung der Gesellschaft zusehends. Die übergroße Mehrzahl der Bevölkerung sind Bauern (330 Mio./43,40%) und (Wander-)Arbeiter (275 Mio./33,20%). Dagegen profitiert nur eine kleine Schicht von den Reformen und bildet sich zu einer aufsteigenden Mittelschicht heraus (Intelligenz: 30 Mio./3,90%; leitendes Management 8,0 Mio./1,10%; allgemeine Kader 50,0 Mio./6,60%)[2]. Dabei lässt sich ein zunehmender Widerspruch zwischen der Volksmassen und den Führungskadern feststellen, die dazu noch oft in identisch sind mit der reichsten Bevölkerungsgruppe. Es bildet sich so eine Konzentration von Macht und Geld in der politisch-ökonomischen Führungsschicht heraus.

Bezüglich der Arbeiterbewegung nimmt Peters eine „neue Rolle der Gewerkschaften“ wahr. Dies macht er an der „Bestimmung zur Kontrolle über Arbeit und soziale Sicherung“ fest, die eine Verbesserung der sozialen Situation und der Situation am Arbeitsplatz ermöglichen soll. Sie erkennt die Gewerkschaften als die Interessenvertretung der ArbeiterInnen an. Nach dieser Bestimmung können Einzelne individuell wie auch mit Unterstützung der Gewerkschaften bei Verstößen ihr Recht einzufordern. Auch in die (Lohn-)Verhandlungen werden Gewerkschaften zunehmend einbezogen. Problematisch bleibt, dass diese Gewerkschaften kaum autonom sind, sondern von Staat und Partei kontrolliert werden. Bei der Beurteilung der Rolle der Gewerkschaften wäre zu beachten, dass sie seitens der KP nur insoweit Handlungsfähigkeit zugestanden bekommen, als es notwendig erscheint, um soziale Unruhen zu katalysieren. Dämpfen. Darüber hinaus ist der Einfluss der Gewerkschaften weiterhin sehr gering.

Zu kritisieren ist an Peters Bericht nicht seine Darstellung der Geschichte des Öffnungsprozesses oder der sozialen Auswirkungen der Transformation, sondern seine sehr optimistische Einschätzung der Rolle der Kommunistischen Partei in diesem Prozess. Offenbar hält Peters eine sozialistische Entwicklung Chinas immer noch für möglich. Zumindest scheint er sich in diesem Punkt an der affirmativen sozialistischen Rhetorik der chinesischen Führung zu orientieren (4). Peters’ Grundthese lautet: „In der Produktions-, Konsumtions- und Lebensweise der chinesischen Gesellschaft sind noch keine Elemente und Beziehungen entstanden, die eine dem Kapitalismus überlegene Gesellschaft verkörpern.“(5) Wenn gesagt wird, es seien „noch keine“ sozialistischen Elemente vorhanden, stellt sich die Frage, ob diese denn in einer historisch überschaubaren Zeit entstehen könnten. Aus Sicht des Rezensenten erscheint es aber fraglich, dass für das gegenwärtige China auf absehbare Zeit eine andere als eine kapitalistische Entwicklung überhaupt vorstellbar ist. Diese Schlussfolgerung ergibt sich auch aus Peters’ Bericht selbst. Ähnlich wie bei Theodor Bergmann[3] scheint hier der Versuch durch, in China und bei der KP Chinas noch den letzten Hort einer möglichen sozialistischen Entwicklung zu sehen. Allerdings erkennt Peters im Epilog an, dass die Politik der gegenwärtigen Parteiführung unter Hu Jintao keine sozialistische Gesellschaft schafft. Doch dies könne „nicht in erster Linie der chinesischen Führung“ angelastet werden, sondern sei auf „Sachzwänge zurückzuführen, denen die heutige [!] Führung Rechnung zu tragen hat.“ (34) Perspektivisch gibt es für ihn nur die Möglichkeit entweder der „Herausbildung einer Art Übergangsgesellschaft (national-demokratische Gesellschaft mit starken Elementen des Kapitalismus) auf dem Wege zum Sozialismus“ oder „das Abdriften in eine bürgerliche Gesellschaft 'chinesischer Prägung' (mit einem betonten Nationalismus, starken patriarchisch-bürokratischen Zügen und ausgeprägten sozialen Widersprüchen).“ Letzteres ist nach Lage der Dinge wahrscheinlicher.

Noch deutlich stärker als bei Peters findet sich bei Theodor Bergmann[4] eine sehr optimistische Beurteilung der Transformationsprozesse in China. Bergmann erwartet von der derzeitigen Parteiführung um Hu Jintao/Wen Jiabao, die beide wesentlich jünger sind als es ihre Vorgänger waren, eine Forcierung des Öffnungsprozesses im Sinne einer „sozialistischen Marktwirtschaft“. Bergmann stützt sich bei dieser Prognose vor allem auf die Tatsache, dass mit der neuen Führung die Generation derjenigen, die die Mao-Ära noch erlebt haben und von ihr auf die eine oder andere Weise geprägt wurden, abgetreten ist. Die Hoffnung auf eine „sozialistische Marktwirtschaft“ gründet Bergmann außerdem auf die Tatsache, dass sich der Reformprozess in China im Gegensatz zu dem in Osteuropa gradualistisch vollziehe.

Intellektuelle in China heute

In dem beschriebenen Transformationsprozess nehmen die verschiedenen Intellektuellen und Intellektuellengruppen eine wichtige Funktion wahr. Aufschlussreich ist dafür ein Interview mit einer der HerausgeberInnen von 'China Reflected', Lau Kin Chi[5]. Diese gehört zu der sogenannten „Neuen Linken“ in China, vergleichbar mit der europäischen „Neuen Linken“. Sie benennt die unterschiedlichen intellektuellen Strömungen in China und sieht unter den Intellektuellen zwei Hauptgruppen, die der „Neuen Linken“ sowie die ihrer Ansicht nach stärkste, der „Neoliberalen“: „Sie unterstützen die Idee des freien Marktes, die Liberalisierung und die Vorstellung, dass China sich zu einem modernen Staat wie die USA entwickeln soll.“ (20) Unter den „Neoliberalen“ gebe es aber auch zahlreiche Widersprüche: „Zum Beispiel kursierte unmittelbar vor der Entwicklung der Demokratiebewegung 1989 unter neoliberalen Intellektuellen die Vorstellung, dass China eine Art neo-autoritären Staat wie Singapur bräuchte, dass politische Kontrolle nötig sei, um die Wirtschaft zu entwickeln. die Ereignisse von April bis Juni 1989, die zum Tiananmen-Zwischenfall führten, nötigten dieselben Leute schließlich zu einem Bekenntnis für Demokratie und Bürgerrechte.“ (21) Dagegen zeichne sich die „Neue Linke“ dadurch aus, dass „sie die sozialistische Vision von Gleichheit und Gerechtigkeit unterstützt. Sie lehnen nicht die gesamte neuere Geschichte Chinas ab, sondern versuchen, die Komplexität von individueller und sozialer Entwicklung zu verstehen.“ (20)

Wang Hui[6], Historiker und einer der bedeutendsten unter Chinas Intellektuellen der „Neuen Linken“, verfasste unlängst einige interessante Aufsätze über die Bedeutung der verschiedenen chinesischen Intellektuellengruppen in der jüngsten Geschichte Chinas. 2003 wurden zwei dieser Aufsätze in englischer Übersetzung als Buch veröffentlicht. Der im Folgenden besprochene Text ist eine gekürzte Version eines dieser Aufsätze; er ist ebenfalls in „China Reflected“ erschienen. Im Focus des Beitrags steht die demokratische Bewegung, die ihren Gipfel wie ihr Ende als politische Bewegung für einen demokratischen Sozialismus im Tiananmen-Massaker am 4. Juni 1989 fand.

Seit dem Ende der 1970er Jahre, insbesondere seit 1989, so Wang, wurde die Einführung einer radikalen Marktwirtschaft forciert und China schrittweise in die globale Wirtschaft hineingeführt. Während viele Kritiker die ökonomische Öffnung willkommen hießen, bemängelten sie aber das Fehlen politischer Reformen. Um dies zu verstehen, müsse man einen Blick auf die Wechselbeziehungen zwischen der Rolle des Staates und der Einführung der Marktwirtschaft werfen. Denn die Reformen hätten zu einer Umverteilung des Wohlstands und einer Privatisierung von (vormals staatlichen) Ressourcen geführt, und zwar zum Nutzen „neuer spezieller Interessengruppen“ (211), die den Reformprozess zu ihren Gunsten lenkten. Wangs Argumentation weiter: Die Folge waren neue Ungleichheiten, soziale Unsicherheiten nahmen zu (die alten Sicherungssysteme wurden abgebaut und neue kamen bisher nicht hinzu), die Lücke zwischen Arm und Reich wurde größer. Massenarbeitslosigkeit wurde keineswegs abgebaut, und die Migration von den armen in die reichen Provinzen, vom Land in die Städte nahm zu. Die Marktöffnung wurde wesentlich durch den Staat forciert, und somit ist er verantwortlich für die Folgen. Der Staat habe zwar das politische System nicht transformiert, aber seine Funktion in Ökonomie und Gesellschaft verändert. Die Reformen gingen nur so weit, wie der Staat und seine Eliten ihre Macht nicht gefährdet sahen. Der Charakter dieser Transformation weist die Reformen nach Hui als neoliberal aus: Der Neoliberalismus wurde in den 90er Jahren zum hegemonialen Diskurs im China. Politische Kontinuität und krasser sozioökonomischer Wandel haben dem chinesischen Neoliberalismus seinen speziellen Charakter gegeben.

Dass der Neoliberalismus hegemonial werden konnte, geht nach Wang wesentlich auf diese auf „Reformen“ drängenden Intellektuellen zurück. Der Staat verfolgte dabei das Ziel, seinen Legitimationsverlust nach der Krise von 1989 auszugleichen. Der Neoliberalismus habe sich so unter staatlicher Führung und letztlich mit Hilfe von Gewalt durchsetzen können. Die neuen Unternehmen und der ‚ultrakonservative ideologische Staatsapparat’ stünden in einem ‚komplexen Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit’. Viele als erfolgreich gepriesene Manager seien Staatsbürokraten gewesen oder seien es immer noch, die KP habe beschlossen, auch Kapitalisten aufzunehmen, weil ihre Funktionäre von dem Privatisierungs- und Liberalisierungsprozess profitierten. Im chinesischen Neoliberalismus verbinden sich nach Wang Marktradikalismus, 'Neo-Konservatismus' und 'Neo-Autoritarismus'.

Um den historischen Ursprung des chinesischen Neoliberalismus kenntlich zu machen, untersucht Wang die ökonomschen Reformen Ende der 80er Jahre sowie das Scheitern der Demokratiebewegung von 1989. Die Demokratiebewegung von 1989 sei noch stark sozialistisch orientiert gewesen. Doch habe sich diese Orientierung nicht auf die alte Staatsideologie, sondern auf einen neuen, demokratischen Sozialismus bezogen, der soziale Sicherheit, Gleichheit, Recht und Demokratie unter Beibehaltung der ökonomischen Reformen einforderte. Trotz der internen Widersprüche und der unterschiedlichen Vorstellungen der verschiedenen Interessengruppen innerhalb der Bewegung habe sie die Ablehnung des ökonomischen und politischen Monopols der herrschenden Klasse und ihrer Privilegien geeint.

Zwar spielten dabei die Studenten eine wichtige Rolle, da mit der Öffnungspolitik der 80er Jahre auch eine Liberalisierung kritischen Denkens - wenn auch begrenzt - möglich wurde. Doch seien sehr viel mehr Bevölkerungsgruppen an der Bewegung beteiligt gewesen: neben den Studenten und Intellektuellen auch Teile der Bürokratie und der Arbeiterschaft sowie einzelne Unternehmer, staatliche Kader, Lehrer, Mitglieder des Zentralkomitees der Partei, Angehörige verschiedener Ministerien, des Volkskongresses und verschiedener Zeitungen. Eine Ausnahme bildeten die Bauern, die nur marginal beteiligt waren. Andere Kräfte hätten kein Interesse an konsequenter Veränderung des politischen Systems gehabt oder das sozialistische System immanent verändern wollen. Da die Reformen die soziale Ungleichheit verschärft hätten und den Widerspruch zwischen Staatsideologie und Liberalisierungspraxis offensichtlicher werden ließen, sei es zu einer Legitimationskrise des Staates gekommen. Den kritischen, sozialistisch orientierten Intellektuellen sei es in dieser Situation aber nicht gelungen, realistische Alternativen anzubieten. Der Irrglaube vieler Intellektueller, die Einführung der Marktwirtschaft bedinge Demokratisierung und politische Liberalisierung, habe das Scheitern mit verursacht. Allein den sozialistischen Staat zum Ziel von Kritik und Opposition zu machen, sei an dem Charakter der neuen sozialen Widersprüche vorbei gegangen. Während der alte sozialistische Staat die vorhandenen sozialen Ungleichheiten unter der rhetorischen Maske von Gleichheit durch Zwang und Planung verdeckt habe, habe der „Reformstaat“ (212) die strukturellen Ungleichheiten in verstärkte Einkommensunterschiede zwischen den Klassen transformiert und damit die soziale Zuspitzung gefördert. Die Ereignisse vom 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz hätten so die historische Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus, den große Teile der Bewegung anstrebten, zunichte gemacht. Die Niederlage sei Resultat sowohl der Gewaltanwendung durch den Staat als auch der Unfähigkeit der Bewegung, demokratische Rechte mit sozialer Gleichheit zu verbinden.[7]

In der Frage, ob China heute noch erkennbar auf dem Weg zum Sozialismus sei und ob die gegenwärtigen politischen Verhältnisse im Lande, vor allem die Führung durch die autoritäre KP Anlass zum Optimismus oder eher zum Pessimismus geben sollten, ist die Position des Autors klar. So sieht er derzeit z.B. keine Möglichkeit der Entwicklung einer starken, autonomen Arbeiterbewegung. Zwar habe sich die soziale Krise in China seit 1989 verschärft, soziale Unruhen hätten zugenommen, doch verdecke das schnelle Wirtschaftwachstum vielerorts die sozialen Gegensätze. Wang interpretiert die chinesischen Reformen als einen gescheiterten Versuch der Einführung eines demokratischen Sozialismus; stattdessen sei es zur Durchsetzung eines chinesisch geprägten neoliberalen Kapitalismus gekommen. Dieser Erklärungsansatz steht im Kontext der globalen Entwicklung seit der Krise des Fordismus und der weltpolitischen Wende von 1989. Aus dieser Perspektive ist die Entwicklung in China kein Sonderfall, so sehr sie sich von der Transformation Russlands und Osteuropas unterscheidet, sondern auch ein Beispiel der Durchsetzung einer neuen Regulationsweise des Kapitalismus, die eine entsprechende Transformationen von Staatlichkeit zu erfordern scheint – nämlich einen autoritär geprägten Staat. Wang Hui positioniert sich mit dieser Position gegen diejenigen Kräfte, die eine ausschließlich ökonomische Liberalisierung anstreben.

Er stellt die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen systemtransformierender Reformen. Dabei kritisiert er die historische sozialistische Bewegung Chinas als eine „Widerstandsbewegung“ und „Modernisierungsbewegung“ (220), die in „Geschichtsdeterminismus“ und „Systemfetischismus“ erstarrt sei. Diese Erstarrung müsse aufgebrochen werden. Dabei verhält sich Wang allerdings kritisch gegenüber einem Modernisierungsbegriff, wie er ihn bei den Maoisten, aber auch bei den gegenwärtigen Reformer sieht: Diese verstünden ökonomischen Fortschritt als eine Entwicklung des immer schneller, besser, größer. Solche Ideen aus dem „westlichen Kapitalismus“ (220) sollten nicht das Modell für China sein.

Wang Huis Analyse der Demokratiebewegung sowie ihr Verhältnis zum Staat kommt einer kritisch-materialistischen Staatsanalyse sehr nah, da er auf die unterschiedlichen Klassen und Klassenfraktionen mit ihren Interessen eingeht und ihre Rolle im und zum Staat beleuchtet. Er zeigt, wie sich diese Klassen und Fraktionen ihrer Möglichkeiten bedienen, in einer Phase des Umbruchs die offene Situation in die jeweils gewünschte Richtung zu lenken, und wie sich bestimmte Gruppen, neoliberale Reformer und Teile der staatstragenden Eliten zu einem Klassenkompromiss gefunden haben. Selbst unter der Voraussetzung, dass es der chinesischen Arbeiterbewegung - die dann nicht mehr die alte, traditionelle sein wird - gelingt, sich zu reorganisieren und zu erstarken, bleibt für die sozialistische Perspektive die Frage, wie dieser neoliberale Klassenkompromiss aufgebrochen werden kann und welche Bündniskonstellationen möglich sind.

Literatur

Peters, Helmut 2005: China zwischen Gestern und Morgen. Wohin geht China? isw-Report Nr. 61

Peters, Helmut 2005: Der chinesische Transformationsprozess, in : Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 61, März

Herr, Hansjörg 2000: Chinesischer Kapitalismus, in: Prokla 119, Nr. 2, Juni

Bergmann, Theodor 2004: Rotes China im 21. Jahrhundert, Hamburg

Ping, Huang 2003: China: Rural Problems and Uneven Development in Recent Years, in: China Reflected, Asian Exchange, Vol. 18, No. 2, 2002/Vol. 19, No. 1, 2003

Hui, Quin 2004: Vom Aufteilen des Familiensilbers. Chinas ländliche Bevölkerung und die Modernisierung, in: Widerspruch 47, Heft 2

Eifler, Ulrike 2004: Neoliberale Globalisierung und Arbeiterbewegung in China. Magisterarbeit im Fach Politikwissenschaft an der Universität Marburg

Wang Hui 2003: Chinas New Order Society, Politics, and Economy in Transition, Cambridge

Wang Hui 2003: The 1989 Social Movement and the Historical Origins of Neo-Liberalism in China, in: China Reflected, Asian Exchange Vol. 18, No. 2, 2002/Vol. 19, No. 1, 2003

Jinhua, Dai 2003: The Imagination of Intellectuals and the Role of the Mass Media, in: China Reflected, Asian Exchange Vol. 18, No.2, 2002/ Vol.19, No.1

Lau Kin Chi 2004: „Es gibt Raum für Veränderungen”. Interview mit Lau Kin Chi, Mitherausgeberin von ‚China Reflected’, in: iz3w, Juni/Juli 2004, 20-23

[1] Helmut Peters: China zwischen Gestern und Morgen. Wohin geht China?, isw-Report 61, Mai 2005, hrsg. vom Münchener Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (isw).

[2] Alle Zahlen nach Peters.

[3] Bergmann, Theodor 2003: Rotes China im 21. Jahrhundert.

[4] Ebenda.

[5] Lau Kin Chi 2004: „Es gibt Raum für Veränderungen”. Interview mit Lau Kin Chi, Mitherausgeberin von ‚China Reflected’, in: iz3w, Juni/Juli

[6] Wang Hui 2003: The 1989 Social Movement and the Historical Origins of Neo-Liberalism in China, in: China Reflected, Asian Exchange Vol. 18, No. 2, 2002/Vol. 19, No. 1

[7] Auf der globalen Ebene allerdings ordnet Wang Hui die Bewegung in die durchaus erfolgreiche globalisierungskritische Bewegung ein (Seattle 1999).