Berichte

Neuaufstellung der gesellschaftlichen Linken?

Tagung der „Initiative für einen Politikwechsel" am 11. September 2005 in Frankfurt am Main

Dezember 2005

Welche Chancen und Basis hat die Linke, parlamentarisch und außerhalb der Parlamente miteinander zu agieren? Dies auszuloten und eine mögliche Verständigung über Eckpunkte eines Politikwechsels nach der Bundestagswahl, formulierte Horst Schmitthenner für die „Initiative für einen Politikwechsel“ als das ehrgeizige Ziel der Debatte, die sowohl bisherige und künftige Bundestagsabgeordnete als auch Vertreter/innen gesellschaftlicher Be­wegungen zusammenbrachte. Für die parlamentarische Linke stritten Thomas Händel (WASG), Katja Kipping (Die Linke.PDS), Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) und Rüdiger Veit (SPD). Als außerparlamentarische Linke waren Nele Hirsch (Bündnis linker und radikaldemokratischer Hochschulgruppen), Angelika Klahr (Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen), Jean-Francois Ameloot (Katholische Arbeitnehmer-Bewegung), Sabine Leidig (Attac), Franz Segbers (Bündnis „soziale Gerechtigkeit in Hessen“) und Peter Strutynski (Bundesausschuss Friedensratschlag) vertreten. Die Konferenz war von etwa 250 Teilnehmer/inne/n besucht.

Die inhaltlichen Eckpunkte für die Diskussion über die (Neu)Bildung einer gesellschaftlichen, pluralen Linken steckte Hans-Jürgen Urban (Grundsatzabteilung der IG Metall) ab. Als Grundverständnis sei bei linken Akteur/inn/en die Notwendigkeit nicht „kleinerer Korrekturen“, sondern einer „grundlegenden Wende“ in der aktuellen Politik vorauszusetzen. Vor dem Hintergrund, dass die im Verein mit den GRÜNEN etablierte „neue sozialdemokratische Politik gescheitert“ sei, müsse es abgelehnt werden, die Ausgestaltung der sozialen Frage an den Kapitalinteressen zu orientieren und diesen unterzuordnen. Als akute Handlungsfelder der neuen wie alten parlamentarischen Linken nach der Bundestagswahl am 18. September 2005 in Richtung Politikwechsel bezeichnete Hans-Jürgen Urban:

- eine Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, welche (auch öffentlich finanzierte) Arbeitsplätze mit hohen qualitativen Standards (soziale Sicherheit, Arbeitnehmer/innenrechte) bereitstellt;

- eine Universalisierung der Sozialversicherung durch Erweiterung der Solidargemeinschaft und Bedarfsorientierung;

- den Ausbau des Angebots öffentlicher Güter und Dienstleistungen beispielsweise in den Bereichen Erziehung, Bildung und Gesundheit;

- die Reform des Steuersystems durch Besteuerung nach ökonomischer Leistungsfähigkeit;

- die Einführung von Elementen direkter Demokratie als Möglichkeit der Teilnahme von mehr Menschen an politisch und gesellschaftlich relevanten Entscheidungsprozessen;

- die Stabilisierung und der Ausbau von betrieblicher Interessenvertretung und Arbeitnehmer/innenrechten sowie die Stärkung der Gewerkschaften;

- eine Friedenspolitik, die eine direkte und mittelbare Beteiligung an Kriegen grundsätzlich ablehnt und eine EU-Verfassung fordert, die Abrüstung und Entmilitarisierung anstrebt.

Während die Vertreter/innen von WASG, Linkspartei.PDS und außerparlamentarischer Bewegungen sich – bei marginalen Unterschieden im Detail – diesen drängenden politischen Arbeitsschwerpunkten sehr leicht und schnell anschlossen, versuchte Rüdiger Veit auch bisherige Erfolge linker Politik im Bundestag (Absage an direkter Beteiligung am Irak-Krieg; Korrekturen am ursprünglichen Entwurf von Hartz IV; Überarbeitung der EU-Dienstleistungsrichtlinie) stärker ins Blickfeld zu rücken. Und Hans-Christian Ströbele signalisierte eine erkennbare Bereitschaft der SPD-Grünen-Koalition, die Spitzensteuern für hohe Einkommen und Unternehmen heraufzusetzen, mit der Einführung von Mindestlöhnen die Zumutbarkeitsregelungen bei Erwerbslosigkeit zu entschärfen, die Anrechnung von Partnerschaftseinkommen beim Bezug von ALG II und Sozialhilfe „sozial“ zu gestalten sowie das ALG II in Ost- und Westdeutschland anzugleichen.

Die Glaubwürdigkeit solcher Zeichen einer Korrektur der bisherigen Politik der Bundesregierung wurden von vielen Teilnehmer/inne/n der Tagung nicht nur angezweifelt, sondern als wahltaktische Reaktion auf die Linkspartei.PDS interpretiert. Gleichwohl unterstrichen Katja Kipping und Thomas Händel ihre Bereitschaft, aus der Opposition heraus die von Hans-Jürgen Urban und von den Vertreter/inne/n der außerparlamentarischen Bewegungen thematisierten Fragen gemeinsam mit Linken aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen in parlamentarischen Initiativen aufzugreifen. Dazu gehören beispielsweise gesetzlicher Mindestlohn, Ausbildungsabgabe, Abschaffung von Studiengebühren, „Giftzähne“ von Hartz IV sofort beseitigen, Grundsicherung für Erwerbslose, konsequent progressiver Steuertarif, Rücknahme der Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr – und bei diesen Fragen den globalen und europäischen Rahmen „mitdenken“. Doch sowohl Katja Kipping als auch Thomas Händel ließen sich von Rüdiger Veit und Hans-Christian Ströbele nicht auf eine eventuelle Regierungsbeteiligung „verpflichten“, weil die Ziele der Linkspartei.PDS in zentralen Punkten nicht mit dem politischen Handeln der anderen Parteien übereinstimmten. Die Konferenzteilnehmer/innen erwarteten allerdings, dass allein schon die Existenz einer Fraktion von Linkspartei.PDS den Handlungsspielraum von Linken in anderen Fraktionen erweitert.

Als Fazit stellte Horst Schmitthenner fest, dass mit der Wahl der Linkspartei.PDS und ihrem Einzug in den Bundestag die angesprochenen Probleme nicht automatisch gelöst werden könnten. Vielmehr müsse es darum gehen, alle Möglichkeiten außerparlamentarischen Handelns zu nutzen, um eine gesellschaftliche Debatte über den notwendigen Politikwechsel in den verschiedensten Feldern zu entwickeln. Zugleich seien alle Chancen einer fraktionsübergreifenden Zusammenarbeit sowie einer wechselseitigen Unterstützung in der parlamentarischen und außerparlamentarischen Arbeit zu nutzen. Als Basis für den Austausch von Standpunkten und die Entwicklung konkreter Alternativen sollten gemeinsame Konferenzen, Zukunftsforen und die regionale Kooperation der verschiedenen Initiativen dienen.