Berichte

Tabus bundesdeutscher Geschichte

Kongress in Hamburg, 21.-23. Oktober 2005

Dezember 2005

Tabus in der bundesdeutschen Geschichte? Gibt es die überhaupt in unserer doch so offenen Gesellschaft, in der über alles zu reden wir immer wieder aufgefordert sind? Antwort auf diese Frage zu geben, hatte sich der Kongress „Tabus in der bundesdeutschen Geschichte“ (ohne Fragezeichen) zur Aufgabe gestellt. Eingeladen hatten die Bürgerinitiative für Sozialismus, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Geschichtswerkstatt St. Georg e.V. und der ASTA der Universität Hamburg. Eckardt Spoo, verantwortlicher Mitherausgeber der Zeitschrift „Ossietzky“, war Mitinitiator und unaufdringlicher Lenker des Ganzen.

Die Geschichte der DDR liegt kaum15 Jahre nach deren Vereinnahmung wie ein offenes Buch vor uns; kaum ein Aspekt der in der Regel durch „enthüllende“ Forschung und Publizierung noch nicht belichtet ist. Derartige amtlich geförderte und hochdotierte Emsigkeit nebst Zugänglichkeit zu den Archiven hätte sich manch ein Zeitgenosse, wie in Hamburg von Historikern zu hören war, auch für die Forscher und Forschung der Nachkriegsgeschichte der alten BRD im Hinblick auf deren ganz speziellen Art der „Bewältigung“ und Wiederverwendung des geistigen und personellen Erbes der zwölf Jahre faschistischer Herrschaft gewünscht.

Die rund 300 Frauen und Männer, die sich zum Kongress in die Hamburger Universität aufgemacht hatten, waren am Abschlusstag und nach dem Anhören von 32 Vorträgen, regen Diskussionen in fünf Arbeitsgruppen und einer Podiumsrunde sehr wohl von der Notwendigkeit überzeugt, dass da noch einige Leichen aus den tiefen Kellern der bundesdeutschen Geschichte ans Licht zu hohlen sind. Sie halten nach der blickverstellenden Fokussierung einzig auf die Vergangenheitsbewältigung der DDR eine historisch gleichberechtigte Betrachtung der Nachkriegsentwicklung der alten BRD für erforderlich. Eben Tabus zu brechen, die Umstände zu benennen, die unter Missachtung des Potsdamer Abkommens zur Spaltung Deutschlands und Westdeutschland nach der Zerschlagung des Faschismus, zum US-amerikanisch inspirierten „Bollwerk gegen den Bolschewismus“ werden ließen.

Dass die herrschenden Eliten im westlichen Teil Deutschlands nicht eben vergewaltigt wurden auf diesem Weg machte der gerade in den Bundestag gewählte Hamburger Völkerrechtler Norman Paech am Eröffnungstag in seinem Vortrag „Nürnberg 1945-1949 – alles verleugnet, verdrängt und vergessen?“ am Beispiel des Umgangs mit den Urteilen des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses bereits unmittelbar nach deren Verkündung deutlich. Für die Fragezeichen hätten getrost Ausrufezeichen stehen können. Die von ihm angeführten Beispiele für die Nichtverfolgung der Verbrechen der Eliten des Regimes durch die deutsche Justiz und die dazu gehörenden Einstellungsbegründungen, die vielfach auf eine nachträgliche Sanktionierung der Untaten hinausliefen, machten bereits die, auch in den weiteren Beiträgen sichtbare Orientierung deutlich: Wesentliches Element bundesdeutscher Politik war die Erhebung des Antikommunismus zur Staatsdoktrin.

Kurt Pätzold, Faschismusforscher aus Berlin (der einzige Ostdeutsche in der Expertenrunde), führte mit seinem Thema „Über die Produktion von Geschichtsbildern“ nahtlos in die Gegenwart. Seine Bilanz: Im 60. Jahr nach der Befreiung hat es mit der Bewertung des 8. Mai 1945 einen „Rückschritt um 50 Jahre“ gegeben. Das Thema sei nicht mehr gewesen „Was haben wir angerichtet?“ sondern: „Wie wurden wir zugerichtet!“ Nach herrschender Lehre sind die Ostdeutschen erst 2050 mit dem 60. Jahrestag der Befreiung an der Reihe.

Rechtsanwalt Heinrich Hannover aus Bremen besichtigte aus der Sicht eines langjährigen Anwalts in politischen Strafprozessen ein halbes Jahrhundert antikommunistisch dominierter „Rechtsprechung“ durch einen Justizapparat, der sich seine Sporen in den Jahren 1933-1945 erworben hat, der übergangslos und fast vollständig in die bundesdeutsche Justiz übernommen worden war. Vor allem nach dem KPD-Verbot 1956 war ihre „Rechtsprechung“ gefragt – auch gegen Frauen und Männer, die in den Jahren des Faschismus Zuchthaus und Konzentrationslager durchlitten hatten. (Dies auch noch auf der Grundlage einer Gesetzgebung, an der auf diesem Gebiet bereits erfahrene Experten mitgewirkt hatten. Etwa Josef Schafheutle, beteiligt am Entstehen des „Heimtückegesetzes“ von 1934 und dann am 1. Strafrechtsänderungsgesetz von 1951, mit dem u.a. das Gesinnungsstrafrecht und das flächendeckende System der Politischen Sonderstrafkammern eingeführt worden war.)

Zu den ideologischen Quellen des sich mit diesem Gesetzeswerk wie Mehltau über das gesamte gesellschaftliche Leben der jungen BRD legenden Antikommunismus führte Wolfgang Wippermann, Berlin. In seinem Beitrag „‚Nach Moskau’ – Feindbild Osten“ projizierte er zu Illustration kaum zu unterscheidende Plakate aus der NS-Zeit und dem Wahlkampf der CDU aus dem Jahre 1953 „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“ auf die Leinwand. Der „jüdisch-bolschewistische Untermensch“ mutierte zur „asiatisch-bolschewistischen“ Gefahr. Das Feindbild „Osten“ war stets sowohl nach außen als auch nach innen gerichtet. Mit Barings „Verostung“ der DDR und Schönbohms „Verproletarisierung“ ist es, so Wippermann, in die Gegenwart gerückt.

Die Kongressregie hatte es gefügt, daß sich Erich Schmidt-Eenbohm anschließend einer an der Exekutierung faschistischer Ostpolitik („Wir brauchen Raum, aber keine Läuse im deutschen Pelz“) maßgeblich beteiligten Einrichtung annehmen konnte. „Es gab nicht nur die Stasi – Personelle und operative Kontinuitäten der deutschen Nachrichtendienste“ war sein Thema. Mit einer Fülle kaum aufzunehmender Details belegte er den Aufbau der westdeutschen Sicherheitsbehörden (BND, BKA und Verfassungsschutz) mit dem Rückgriff auf die entsprechenden, vom Geist des Antikommunismus beseelten Instrumente des „Dritten Reiches“, schon durch die Westmächte unmittelbar nach Kriegsende.

In diesen Kontext passte Klaus Körner, Hamburg, mit seinen Überlegungen zum Thema „Wie die deutsch-deutsche Politik klandestin beeinflusst wurde“. Sein Beitrag beleuchtete die umfassende massive Rolle des CIA als „Sponsor“ nicht nur des bürgerlichen Antikommunismus sondern auch seine Einwirkung auf den Antikommunismus der SPD, die sich wiederum unter dem Stichwort „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“ wegen ihrer anfangs ablehnenden Haltung gegen die Remilitarisierung an den Pranger gestellt sah.

Gegenstand einer eigenständigen Veranstaltung könnte und müsste schließlich wegen seiner in die Gegenwart reichenden Bedeutung für die sozialen und gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Themenkomplex sein, den Peter Scherer, Frankfurt Main, ( „Wie SPD und DGB vom Antikapitalismus gesäubert wurden“), Gregor Kritidis, Hannover,( „Sozialistische Gruppen und Publikationen im antikommunistischen Treibhaus der Bundesrepublik“) und Jörg Wollenberg, Bremen, „Vergebliche Heimkehr – Emigranten unerwünscht“ abhandelten. Hier wäre auch umfassender Platz zur Beantwortung der Frage, ob es nicht doch eine Alternative zum erlebten Weg der BRD gegeben hat. Vielleicht wird die Lektüre des für das Frühjahr 2006 geplanten Readers der Hamburger Tagung dahingehende Überlegungen fördern.

Fazit: Die in Hamburg benannten Tabus bundesdeutscher Geschichte in Erinnerung zu rufen, die Auswirkungen des Antikommunismus auf 60 Jahre bundesdeutscher Geschichte anzuerkennen und in die gesamtdeutsche Geschichte aufzunehmen, ist 15 Jahre nach der „Wiedervereinigung“ zwingend. Eine Aufgabe nicht nur für Historiker. Die Öffnung der Archive etwa der Justiz- und Innenministerien der Länder und des Bundes ist dazu ebenso unumgänglich wie die der Gewerkschaften und der politischen Parteien.