Berichte

In der Stagnationsfalle. Perspektiven kapitalistischer Entwicklung

Workshop von Sozialismus und WissenTransfer, 10. Dezember 2005, Berlin

März 2006

Zum Ziel gesetzt hatte sich der Workshop, nach Ursachen der in Deutschland und anderen hoch industrialisierten Ländern seit Anfang der 1970er Jahre zu konstatierenden stagnativen Tendenzen zu suchen. Des weiteren sollte es um die Frage gehen, mit welchen theoretischen Ansätzen marxistischer oder keynesianischer Prägung sich Stagnationen erklären lassen. Um es vorweg zu nehmen: hauptsächlich wurde über die Brauchbarkeit keynesianischer Ansätze für linke Politik diskutiert – dies jedoch kontrovers.

Den Grundstein für den Verlauf der Veranstaltung legte mit seinem Referat „In der Stagnationsfalle. Kapitalismus in der langen Frist und die Aktualität von Keynes“ Karl Georg Zinn (Uni Aachen). Zunächst gab Zinn eine Definition des Phänomens „Stagnation“ als langfristig stärkeres Wachsen des technischen Fortschritts bzw. der Produktivität gegenüber dem realen Wachstum gemessen im BIP. Die daraus resultierende Lücke führe zur strukturellen Arbeitslosigkeit. Der Auslöser für die Stagnation in den OECD-Ländern sei der erste Öl-Preis-Schock gewesen, die tieferen Ursachen lägen in Inflationierungsprozessen, der so genannten Stagflation, der Dollarkrise sowie dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems. Als Hauptmerkmale einer Stagnation nannte Zinn folgende wesentliche Merkmale: einen langfristigen Wachstumsrückgang, eine die Unternehmen kaum negativ tangierende Krise, da ihre politische Macht und ihre Profite zunehmen, eine Transformation des Wachstumswettbewerbs zur Marktanteilskonkurrenz mit der Folge eines Verdrängungswettbewerbs, eine Alimentierung der Gewinne durch Umverteilung und die Erhöhung der absoluten und relativen Mehrwertrate. Auf diese Entwicklungen hätten die Länder jedoch mit unterschiedlichen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Konzepten reagiert. Im Falle Schwedens sei es gelungen, die Vollbeschäftigung bis zum Eintritt in die EU 1990 sicherzustellen, während beispielsweise in den USA schon in den 1980er Jahren das heute weit verbreitete Phänomen der „working poor“ festzustellen gewesen sei. In seinen wissenschaftstheoretischen Bemerkungen führte Zinn aus, dass eine Theorie in der Lage sein müsse, Prognosen zu erstellen, die dann an der Realität zu überprüfen sind. Die Neoklassik leiste dies nicht, im Gegensatz zur Marx’schen und Keynes’schen Theorie. Während im Zentrum der Krisentheorie von Marx die Überakkumulation stehe, sei dies bei Keynes die durch eine Nachfrageschwäche bedingte Stagnation. Hieraus jedoch eine Unvereinbarkeit der beiden krisentheoretischen Ansätze zu schließen, sei nicht angemessen. Die Überlegenheit der Theorie von Keynes sieht Zinn in der sich an der Realität bewahrheitenden Prognose Keynes’ während des Zweiten Weltkrieges für die Nachkriegsentwicklung. In dieser hatte er eine Inflation mit raschem Wachstum, eine Stabilisierung auf hohem Niveau und dann eine Auseinanderentwicklung zwischen der Produktivität und dem BIP vorausgesagt. Das habe sich bestätigt und, so Zinn weiter, darin sei der Vorteil von Keynes gegenüber anderen Ansätzen wie der Regulationsschule zu sehen, die lediglich nachträglich eine zurückprojizierende Analyse vornehme. Der status-quo Diagnose habe Keynes korrigierende wirtschaftspolitische Vorschläge zur Seite gestellt, deren Kernpunkte Kaufkraft stärken, Umverteilung vom privaten zum öffentlichen Sektor und Arbeitszeitverkürzung mit dem Produktivitätsanstieg lauten.

In den Korreferaten von Harry Nick und Klaus Steinitz (beide Berlin) wurde als zentraler Einwand formuliert, dass Wachstum aufgrund der begrenzten natürlichen Ressourcen nicht fortzuführen und kein Wert an sich sei. Steinitz plädierte für eine eindeutige Bestimmung des mittlerweile inflationär verwendeten Begriffs der Nachhaltigkeit seitens der Linken. Vor allem komme es darauf an, die Widersprüche zwischen Nachhaltigkeit und Wachstum aufzuzeigen, da das Grundproblem Steinitz’ Ansicht nach nicht eine temporäre Wachstumsschwäche, sondern die Struktur und Qualität des Wachstums sei. Insofern forderte er eine Effizienssteigerung bei der Energiegewinnung. In der Diskussion unter Einbeziehung des Publikums wurde angemerkt, dass durch Effizienssteigerung das Problem nicht zu lösen sei, da die Grenze des Verbrauchs auf diese Weise nur hinausgeschoben werde. Die zentrale Herausforderung sei vielmehr die Umstellung auf regenerative Energiegewinnung. Zinn gestand zu, dass langfristig die Umwelt- zentraler als die Wachstumsproblematik sei.

In diesem Zusammenhang offenbarte sich eine auch bei anderen Fragen deutlich werdende Schwäche des Workshops, die möglicherweise als paradigmatisch für manche derzeitigen linken Diskussionen angesehen werden könnte. Die Behandlung eines Themenkomplexes – wie in diesem Falle Stagnation und Wachstum – läuft Gefahr, die fundamentale Voraussetzung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse und – so ein anderer Kritikpunkt der Diskussion – der internationalen Perspektive nicht adäquat zu berücksichtigen. International stellt sich, wie angemerkt wird, die Frage der Wachstumsschwäche nämlich nicht. Auf der anderen Seite ist es – dies wurde freilich auch eingewandt – angesichts des Zeitrahmens nicht möglich, alles erschöpfend zu behandeln. Doch bleibt die Frage, ob die Themenstellung vernünftig gewählt wurde, wenn fundamentale Probleme nicht als Grundlage der Diskussion dienen, sondern lediglich im Nebensatz und nachgeschoben als solche rhetorisch anerkannt werden.

In einem weiteren Referat skizzierte Jörg Huffschmid (Uni Bremen) die Entwicklung der Finanzmärkte und die daraus resultierenden Ungleichheiten, Unsicherheiten und Krisentendenzen. Durch die Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte sei die Macht der professionellen Investoren und institutionellen Anleger enorm gestiegen, sowohl ihre ökonomische Macht in Hinblick auf produzierende Unternehmen (shareholder-value) als auch ihr Einfluss auf die Politik (Standortkonkurrenz, exit-option). Die Instabilität führte Huffschmid u.a. auf das Herdenphänomen zurück: Die scheinbare Möglichkeit einer hohen Renditeerwartung führe dazu, dass schnelle, wellenartige Kapitalströme entstünden, die ganze Volkswirtschaften in den Ruin treiben können. Als Gegenmaßnahmen nannte Huffschmid folgende Punkte: Verbot oder Besteuerung von Hedge-Fonds, Einführung von im EU-Vertrag Art. 59 ausdrücklich erlaubten Kapitalverkehrskontrollen, Arbeitszeitverkürzung sowie eine Wirtschafspolitik, die die Verteilungsproportion zwischen Profiten und Löhnen wiederherstellt. Wir leben nämlich nicht über unseren Verhältnissen – so wandelte Huffschmid ein neoliberales Standargument um –, sondern unter unseren Verhältnissen. Die unproduktive Akkumulation von liquiden Mitteln sei gigantisch.

Joachim Bischoff (Hamburg) fasste im letzten Vortrag mit dem Titel „Wege aus der Stagnation“ die gemachten Vorschläge in Hinblick auf eine alternative Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zusammen. Zentrale Stichworte waren hier: Ausbau des öffentlichen Sektors, Arbeitszeitverkürzung, Erhöhung der Konsumnachfrage und Regulierung der Finanzmärkte. Besonders interessant an Bischoffs Ausführungen waren die Passagen über Keynes These des „Tods des Rentiers“. Hierbei hat Keynes, so die Auffassung Bischoffs, an eine nachkapitalistische Gesellschaft sowie die Transformation dahin gedacht, allerdings habe dies nichts mit Sozialismuskonzeptionen im herkömmlichen Sinne zu tun. Wichtige Aspekte seien vielmehr eine radikale Arbeitszeitverkürzung und eine Grundsicherung. Damit war die Systemfrage angesprochen, die in der Diskussion kontrovers diskutiert wurde. Einig Diskutanten hielten die Keynes-Interpretation von Bischoff für nicht ausreichend, langfristig sei nur Sozialismus die Lösung. Hingewiesen wurde auf die Schwammigkeit des Ausdrucks „nachkapitalistische Gesellschaft“. Darunter könne lediglich eine Einschränkung der Kapitaldominanz verstanden werden, die die Eigentumsfrage nicht genügend berücksichtige. Dagegen wurde betont, dass das Ziel der sozialen Sicherheit in Abgrenzung zu einem Sozialismus der Vormundschaft sowie die Entwicklung des Binnenmarktes vor der Systemtransformation die nächsten Schritte seien. Wichtig auch der Hinweis, dass der „Tod des Rentiers“ in der Keynschen Argumentation „B“ sei, „A“ sei die endogene Entwicklung des Systems. Neben diesen unterschiedlichen Einschätzungen der Aktualität von Reform und Revolution wurde in diesem Kontext auch deutlich, dass die Bewertung des Realsozialismus und des Etatismus umstritten waren. Während Bischoff sich gegen eine etatistisch-planmäßige Lösung der sozialen Frage wandte und daher die Debatte um den Sozialismus verschieben wollte, betonte Harry Nick, dass eine Kritik am Etatismus des Realsozialismus notwendig sei, ebenso jedoch auch eine Kritik des Anti-Etatismus der PDS. Dieser mache sie nämlich anfällig für Privatisierungen.

Insgesamt ergaben sich viele Anregungen für weitere Diskussionen. Das gilt insbesondere für die Umwelt- und Nord-Süd-Problematik, das Verhältnis von Reform und Systemtransformation, die Einschätzung des Realsozialismus und vor allem die Brauchbarkeit von Keynes für aktuelle Probleme der Linken. Gerade Diskussionen um die Relevanz von Begrifflichkeiten bei Keynes, wie (absolute und relative) Bedürfnisse, Sättigung, Gesamtnachfrage, anthropogene Bedürfnisse waren umstritten bzw. es konnte sich nicht auf eine exakte Definition geeinigt werden.