Nur was ich verändere, begreife ich ...

Begreifen und Verändern

Verfremdung und Kritik bei Brecht und Bourdieu

Juni 2006

Wenn sich Soziologen mit dem Theater befassen, so geschieht dies zumeist um zu klären, welche Bedeutung ihm als institutionellem Apparat in einer bestimmten Zeit zukommt, wie sich Arbeitsverhältnisse im Theater gestalten oder welche Kommunikationsprozesse ein Theatererlebnis bestimmen und strukturieren. Es geht folglich meistens darum, Aussagen über das Theater zu machen und es äußerlich zu klassifizieren – mitunter wird auch der Versuch unternommen, es im Gesamt gesellschaftlicher (Kräfte-)Verhältnisse zu verorten oder in den Kontext etwa der Basis-Überbau-Theorie zu stellen. Das Theater erscheint dann als bloßer Ausdruck von außer ihm liegenden Faktoren.

Stückeschreibern und ästhetischen Theoretikern geht es weniger um diese äußerliche Verortung des Theaters, sondern um seine Ausdrucksmöglichkeiten. Kritische (und speziell marxistische) Kulturproduktion sah sich freilich stets in der Pflicht, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen und diesseits von l’art pour l’art und „reinem“ Ästhetizismus kulturelle Praxis als Teil gesellschaftlicher Kämpfe zu begreifen, deren Zielsetzungen auch außerhalb des „künstlerischen Felds“ liegen. Den Gedanken einer Mimesis (Nachahmung, Annäherung, Widerspiegelung), die sich als „eingreifendes Denken“ (Brecht) beweist, hat Thomas Metscher kürzlich auf folgenden Punkt gebracht: „Entdeckung wirklicher Welt meint, dass ein Wirklichkeitsbereich durchdrungen, erklärt und verstehbar gemacht wird. Bekannte Welt tritt in ein neues Licht, unbekannte Welt wird erkannt. Aneignung heißt hier: Im Prozess künstlerischer Weltentdeckung wird Wirklichkeit als menschliche Welt begriffen, als Ort individueller Schicksale, Handlungen und Taten, als Stätte von Leiden, von Widerstand und von Glück. Wirklichkeit wird zum Eigentum des Menschen, sie wird für uns als unsere Welt über Jahrtausende hinweg.“ (Metscher 2004: 22) Eine so verstandene ästhetische Theorie will dazu beitragen, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in die Richtung universaler menschlicher (auch materieller) Emanzipation zu verschieben. Ein solches Theater muss sich der Gesellschaft öffnen und Ergebnisse soziologischer Forschung „verarbeiten“.

Soziologie und Theater können sich also gegenseitig thematisieren: Die Gesellschaftslehre kann das Theater als soziologisches Objekt betrachten, das Theater soziologisch erlangte Erkenntnisse über Gesellschaft auf die Bühne bringen: Ihre Beziehung zueinander bleibt äußerlich. Methodisch, so scheint es, führt kein Weg vom Theater zur Soziologie und kein Weg von der Soziologie zum Theater. Ein Vergleich der Soziologie Pierre Bourdieus und des Theaters Bertolt Brechts freilich wird zeigen, weshalb ein solcher Schluss zumindest voreilig ist. Kritische Soziologie und Kritisches Theater treffen sich im Anspruch der Feuerbachthesen „die Diesseitigkeit [ ... ihres] Denkens [zu] beweisen“ (vgl. MEW 3: 5). Im folgenden wird zu zeigen sein, dass dabei durchaus methodische Überschneidungen und vergleichbare Kategorien ausgemacht werden können. In der Forderung kritischer Ästhetik, einen im Gegensatz zu „formalistischen“ l’art-pour-l’art-Konzepten stehenden sozialen Realismus zu praktizieren, artikuliert sich der „soziologische“ Selbstanspruch, das was ist, so zu interpretieren, dass die Möglichkeiten seiner Veränderung ersichtlich werden. Das gilt besonders für das Theater Brechts, das soziale Verhältnisse und Verhaltensweisen (zum Zweck einer adäquaten „Unterhaltung“) sinnlich erfahrbar macht. Doch auch die Soziologie greift, dort wo sie – wie bei Bourdieu – von sozialen Rollen handelt, auf Bilder und Modelle aus dem Theater zurück.

Theatergleichnis und Theatersoziologie

Die Frage nach dem Verhältnis von Theater und Soziologie freilich ist alles andere als neu. Bereits Anfang der siebziger Jahre legte der Soziologe und Theaterwissenschaftler Uri Rapp eine systematische Theatersoziologie vor, die vom Versuch geprägt war, die Analyse des Theaters für die Gesellschaftslehre nutzbar zu machen: „[D]as Phänomen des Theaters hat eine spezifische Beziehung zu der Gesellschaft, und hiermit auch zur Gesellschaftslehre, die nicht denen anderer Künste und auch nicht denen anderer Teil- oder Querschnitt-Soziologien vergleichbar ist. Es handelt sich um die ‚auffallende Affinität‘ zwischen Theater und Gesellschaft, die auch dem Volksmunde hinreichend bekannt ist, und ihren Niederschlag in dem berühmten Theatergleichnis – die Welt ist ein Theater, die Menschen sind Schauspieler – gefunden hat.“ (Rapp 1973: 12)

Dass Rapp das Theatergleichnis nicht in seiner quasitheologischen Dimension aktualisiert, wonach Gott als ideeller Gesamtzuschauer das den Regeln des tragischen Fatums unterworfene Treiben seiner Geschöpfe betrachtet, wird deutlich, wenn er die in Anlehnung an Georges Gurvitch formulierte Affinität von Theater und Gesellschaft näher ausführt. Sein Ausgangspunkt ist die von Eric Bentley formulierte Bestimmung einer „theatralischen Minimalsituation“: „Die theatralische Situation (theatrical situation), auf ein Minimum reduziert, besteht darin, dass A B darstellt (impersonates), während C zuschaut (looks on).“ (Bentley 1965:150) Im Theatererlebnis müssen folglich drei Funktionen zueinanderkommen, die Uri Rapp – in Variation zu Bentley – als Akteur, Rolle und Spektateur bezeichnet (vgl. Rapp 1973: 18). Das alte Theatergleichnis mündet somit bei Rapp in eine Soziologie gesellschaftlicher Rollen. Dass er zu ihr über eine Analyse der theatralischen Minimalsituation gelangt, folglich nachdenkend über das Theater zu Erkenntnissen über soziale Rollenverhältnisse kommt, offenbart bereits implizit, dass das Theater ein Erkenntnismedium für gesellschaftliche Zusammenhänge sein kann. Im Kern besteht es nämlich in der „Verobjektivierung“ im Lebensvollzug praktizierter Haltungen, Gefühle und Verhaltensweisen. So kommt Rapp zu einer entscheidenden Feststellung: „Distanzierung ist eine ästhetische Kategorie, es ist die Kategorie – auf die Gefühle angewendet –, die das Ästhetische erst ausmacht.“ (Rapp 1973: 57) Zugleich ist Distanzierung auch eine soziologische Kategorie. Auch in der Gesellschaftslehre geht es schließlich darum, durch die Darstellung alltäglich praktizierter Haltungen und Verhaltensweisen Aufschlüsse über die konkrete Beschaffenheit gesellschaftlicher Strukturen und Verhältnisse zu erlangen. Der Unterschied zwischen Soziologie und Theater besteht darin, dass das Theater mit künstlerisch-theatralischen Mitteln, die Gesellschaftswissenschaft mit soziologischen Mitteln distanziert und Aufschlüsse ermöglicht. Beide können voneinander lernen.

Bereits in einer funktionalen, deskriptiven Bestimmung lässt sich somit der mimetische Charakter von Theaterkunst aufzeigen. In diesem Sinne soll hier „Theatersoziologie“ verstanden sein. Festzustellen freilich ist, dass in der bisherigen Bestimmung noch keine inhaltliche Aussage darüber gemacht wurde, wie die Soziologie das Theater nutzen kann und wofür es sie nutzen sollte. Rapps deskriptive Feststellung über eine stets vorhandene Affinität von Theater und Gesellschaft zeigt zumindest eines: Da das Theater, indem es Rollen darstellt, gar nicht umhin kann, Aussagen über das menschliche Zusammenleben zu machen, steht es immer in gesellschaftlicher Verantwortung. Die Auswahl dessen, was es darstellt, ebenso wie der Modus der Darstellung sind Teil gesellschaftlicher Praxiszusammenhänge und somit immer politisch. Gleiches gilt für die Soziologie.

Diesseits der allgemeinen Affinität von Theater und Gesellschaftslehre, lässt sich eine besondere Affinität des Theaters von Bertolt Brecht zur Gesellschaftslehre von Pierre Bourdieu ausmachen.

Verfremdung und Kritik

Im Zentrum des Brechtschen Theaters steht der Begriff des „Verfremdungseffekts“ (V-Effekt): „Der V-Effekt besteht darin, daß das Ding, das zum Verständnis gebracht, auf welches das Augenmerk gelenkt werden soll, aus einem gewöhnlichen, bekannten, unmittelbar vorliegenden Ding zu einem besonderen, auffälligen, unerwarteten Ding gemacht wird. Das Selbstverständliche wird in gewisser Weise unverständlich gemacht, das geschieht aber nur, um es dann um so verständlicher zu machen.“ (BGW 15: 355) Dieses Spiel mit dem Begriff der Verständlichkeit bedeutet, dass unreflektiert hingenommenes nun durch den Darstellungsvorgang auf der Bühne derart gebrochen wird, dass es „befremdet“ und in seiner Absurdität, Unerträglichkeit oder Unvernünftigkeit erkannt und schließlich – reflektiert – verworfen werden kann: „Der Zweck dieser Technik des Verfremdungseffekts war es, dem Zuschauer eine untersuchende, kritische Haltung gegenüber dem darzustellenden Vorgang zu verleihen.“ (BGW 15: 341) Der Zuschauer soll das, was er im Alltag hinnimmt, im Theater so befremdlich finden, dass er es künftig auch im Alltag nicht mehr hinzunehmen bereit ist. Das unerkannt Befremdliche als Befremdliches darzustellen ist der ästhetische Imperativ der Verfremdung: „Es ist einleuchtend, daß das Befremden, das wir gegenüber dem Verhalten unserer Mitmenschen fühlen und das uns auch gegenüber unserm eigenen Verhalten so oft befällt, wenn wir Kunst machen, diese Kunst beeinflußt.“ (BGW 15: 359) So wird das Theater zu einem gesellschaftlichen Erkenntnismedium.

Der in die Theorie und Praxis der Verfremdung investierte Begriff der Kritik ist folglich zuerst in seiner klassischen Bedeutung als unterscheidendes Verstehen von bislang nur Hingenommenem zu rekonstruieren. Es gilt (aktiv) zu begreifen, anstatt nur (passiv) ergriffen zu sein. Dieses Verstehen freilich soll aktivierend auch im Sinn der Feuerbachthesen sein: „Die passive Haltung des Zuschauers, die der Passivität des Volkes im Leben überhaupt entsprochen hatte, wich einer aktiven, das heißt, dem neuen Zuschauer war die Welt als eine ihm und seiner Aktivität zur Verfügung stehende darzustellen.“ (BGW 15: 358)

Vom Brechtschen Begriff der Verfremdung einen Bogen zu Pierre Bourdieus Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ zu schlagen, mag auf den ersten Blick nicht einsichtig sein. Schließlich geht es Bourdieu darin nicht darum, einer kritischen Kulturproduktion den Weg zu bahnen, sondern einer Soziologie, die ihr kritisches Potential gerade darin sieht, nachzuzeichnen wie Kunst als soziales Distinktionsmittel wirkt und bestehende Milieu- und Klassenunterschiede zu festigen hilft. In diesem Zusammenhang wird ein offener Gegensatz zwischen Bourdieu und Brecht deutlich. Während Brecht darauf pocht, dass die von ihm formulierte Theorie der Verfremdung eine politische Theorie ist, und das mit ihr verbundene Theater erst entstehen konnte, „als eine neue Klasse, das Proletariat, in einigen Ländern Europas die Herrschaft beanspruchte“ (vgl. BGW 15: 358), verwendet Bourdieu viel Mühe darauf, nachzuzeichnen, dass eine Ästhetik der Distanz typischer Ausdruck des Geschmacks der herrschenden Klasse und ihrer Milieus ist: „Bei Roman und Theater wird dies augenscheinlich: in beiden Fällen sperrt sich das Publikum aus den unteren Klassen gegen jede Art formalen Experimentierens und gegen alle Effekte, die dadurch, daß sie gegenüber den einschlägigen Konventionen (in Bezug auf Ausstattung oder Handlung, etc.) eine Distanz einführen, auch zum Zuschauer oder Leser auf Distanz gehen, diesen damit den Zutritt zum Spiel und die volle Identifizierung mit den Gestalten verwehren (ich denke an die Brechtsche ‚Verfremdung‘ wie an die Auflösung der traditionellen Romanhandlung im Nouveau Roman).“ (Bourdieu 1987: 23) Bourdieu verkennt, dass das Brecht-Theater sich nicht darin erschöpft einen Stil zu etablieren und – wie große Teile des Gegenwartstheaters – formale Neuerung mit inhaltlichem Substanzverlust und allgemeiner Phraseologie zu verbinden.[1] Gerade die Verfremdung als unterhaltsame Methode der Erkenntnis auch der eigenen Lebensverhältnisse der unteren Klassen entgeht Bourdieu, wenn er über Theater spricht.

Auffälligerweise ist Bourdieu dieser Charakter der Verfremdung dort durchaus bewusst ist, wo er sein eigenes (soziologisches) Programm erläutert: „Nichts trägt jedenfalls universelleren Charakter als das Projekt einer Objektivierung der an die Partikularität einer sozialen Struktur gebundenen geistigen Strukturen: Weil sie einen epistemologischen und zugleich gesellschaftlichen Bruch voraussetzt, ein Fremdwerden der vertrauten familialen und angestammten Welt, ruft die im Kantschen Sinn verstandene Kritik der Kultur mittels des von ihr provozierten Effekts der ‚Verfremdung‘ jeden Leser auf, den kritischen Bruch, aus dem sie selbst hervorgegangen ist, neuerlich selbst zu vollziehen. Deshalb stellt sie gewiß das einzige rationale Fundament einer universellen Kultur dar.“ (Bourdieu 1987: 15) Dieses Projekt eines soziologischen V-Effekts betrifft auch und gerade den Modus der Darstellung. So kommt Bourdieu am Schluss des Buchs – in der Methodenreflexion – auf seine Schreibweise zu sprechen: „Die Hauptschwierigkeit zumal eines solchen Themas beruht darin, daß die verwendete Sprache gleichzeitig mit der Alltagserfahrung brechen muß – ein Bruch, der nicht weniger notwendig ist zur adäquaten Aneignung der herausgearbeiteten Erkenntnisse, wie zu ihrer Herausarbeitung selbst – und bei denjenigen, die diese Erkenntnis nicht haben oder nicht wahrhaben wollen, die entsprechende gesellschaftliche Erfahrung auslösen soll.“ (Bourdieu 1987: 796) Auch Brecht reflektiert in diesem Sinne die Methode des alten Theaters, die er dem neuen Theater gegenüberstellt: „Das Theater, das wir in unserer Zeit politisch werden sahen, war vordem nicht unpolitisch gewesen. Es lehrte die Welt so anzuschauen, wie die herrschenden Klassen sie angeschaut haben wollten. Insofern diese Klassen unter sich uneinig waren, gab sich auch der Aspekt der Welt auf dem Theater unterschiedlich.“ (BGW 15: 358)

Zusammenfassend läßt sich also konstatieren, dass Brecht und Bourdieu einen Bruch mit Selbstverständlichkeiten des alltäglichen Lebens bezwecken, den sie für die kritische Reflexion gesellschaftlicher (Kräfte-)Verhältnisse für unabdingbar halten. Kritik bedeutet ihnen zum einen Begreifen, zum anderen aber davon ausgehend Verändern. Während es Bourdieu um die Stiftung einer universellen Kultur geht, die die Partikularitäten der Distinktionskultur in der Klassengesellschaft aufhebt, sieht Brecht sein Theater als Teil jener Klassenkämpfe, die perspektivisch in die klassenlose Gesellschaft führen können. Bourdieu schießt dort über das Ziel hinaus, wo er – vermutlich aufgrund formalistischer Kulturdebatten – das gesellschaftskritische Potenzial des Brecht-Theaters verkennt. Wie ähnlich sich indes die Theorien von Kritik und Verfremdung bei Brecht und Bourdieu sind, wird deutlich, wenn man die soziologische Kategorie des Habitus und die ästhetische Kategorie des Gestus vergleicht.

Von der Darstellung sozialer Rollen: Klasse und Milieu

Es gehört zu den Gemeinsamkeiten von (mimetischer) Kunst und kritischer (Sozial-)Wissenschaft, dass sie versuchen, bestimmte Strukturen, Verhältnisse und Verhaltensweisen kenntlich zu machen. Um sie in ihren Determinanten und Transformationsmöglichkeiten zu verstehen, werden Phänomene des gesellschaftlichen Erlebens herausgehoben, objektiviert, verfremdet. Wie Bourdieu hervorhebt, besteht das so genannte kulturelle Kapital nur scheinbar als Selbstzweck: „Distinktion oder besser ‚Klasse‘ – legitimer, d.h. verklärter Ausdruck von ‚sozialer Klasse‘ – gibt es nur aufgrund der Auseinandersetzungen um exklusive Aneignung der Merkmale, die ‚natürliche Distinktion‘ ausmachen.“ (Bourdieu 1987: 389) Damit holt Bourdieu die oftmals im Ideenhimmel des immerwährenden Werts von Kultur, Kultiviertheit und Eleganz verorteten Prämissen dessen, was von der „Gesellschaft“ als besonders exquisit betrachtet wird, zurück auf den Boden der Klassenverhältnisse in Ungleichheitsgesellschaften. Suggeriert das sprichwörtliche „diese Person hat Klasse“, dass ihr aufgrund ihres Verhaltens und „Charakters“ die Zugehörigkeit zu einer besonderen „Klasse“ kultivierter Menschen als „Auszeichnung“ (Distinktion) zugesprochen werden kann, so enthüllt Bourdieu, dass es umgekehrt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse ist, die sich im individuellen Benehmen ausdrückt. Das, was unhinterfragbar erscheint – wie der Geschmack über den man nicht streiten kann – wird zum Gegenstand soziologischer Analyse. In der Sprache Bourdieus gehört Kultiviertheit – von den Tischsitten bis zum Musikgeschmack – zum Habitus einer Person: „Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Strukur: das Prinzip der Teilung in logische Klassen, das der Wahrnehmung der sozialen Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen.“ (Bourdieu 1987: 279) Damit wird die Sphäre des Geschmacks wie diejenige des Benimms oder der Ausdrucksweise in ihrer Determiniertheit durch die Klassenstruktur, in ihrem Fetischismus, erkennbar. Die als vorbildlich empfundene Individualität ist bloße Scheinindividualität, die affirmativ den Gesetzen des Marktes wie denjenigen des Jahrmarkts der Eitelkeiten folgt. „Habitus“ ist ein Relationsbegriff, der es ermöglicht, die unreflekiert hingenommene Selbstverständlichkeit alltäglicher Lebensvollzüge im Zusammenhang mit der Klassenkonfiguration und den Kräfteverhältnissen einer historischen Epoche zu thematisieren. Das „kultivierte“ oder „unkultivierte“ Individuum wird bei Bourdieu als sozialer Typus gezeigt, als Repräsentant, der weniger sich selbst, als seine Klasse darstellt. Der – dem Theater entlehnte – soziologische Begriff der sozialen Rolle wird in der Analyse konkreter habitueller (gewohnheitsmäßiger) Vorgänge bestimmt.[2] Darin, diese Abhängigkeit zu zeigen, statt sie bloß zu reproduzieren, erfüllt sich der Anspruch Bourdieus, einen Bruch zu formulieren, der die alltäglich vollzogenen, doch nicht erkannten, „Habitualitäten“ durch einen „Effekt der Verfremdung“ kenntlich macht.

Auch Brecht spezifiziert das, was durch den V-Effekt gezeigt werden soll, in ähnlicher Weise: „Es ist der Zweck des V-Effekts, den allen Vorgängen unterliegenden gesellschaftlichen Gestus zu verfremden. Mit sozialem Gestus ist der mimische und gestische Ausdruck der gesellschaftlichen Beziehungen gemeint, in denen die Menschen einer bestimmten Epoche zueinander stehen.“ (BGW 15: 346) Mit der Theorie des sozialen Gestus wird das Theater, das laut Brecht im „Kleinen Organon“ darin besteht, „dass lebende Abbildungen von überlieferten oder erdachten Geschehnissen zwischen Menschen hergestellt werden, und zwar zur Unterhaltung“ (vgl BGW 16: 663), auf ein Programm verpflichtet, das ihm Diesseitigkeit im Sinne der Feuerbachthesen abverlangt. Voraussetzung dafür ist, dass der Schauspieler eine Haltung einnimmt, die den Zuschauer herausfordert: „Der Standpunkt, den er einnimmt, ist ein gesellschaftskritischer Standpunkt. Bei seiner Anlage der Vorgänge und Charakerisierung der Person arbeitet er jene Züge heraus, die in den Machtbereich der Gesellschaft fallen. So wird sein Spiel zu einem Kolloquium (über die gesellschaftlichen Zustände) mit dem Publikum, an das er sich wendet. Er legt es dem Zuschauer nahe, je nach seiner Klassenzugehörigkeit diese Zustände zu rechtfertigen oder zu verwerfen.“ (BGW 15: 346) Was damit erreicht werden soll, ist also nichts anderes, als dass die soziale Bedingtheit der Verhaltensweisen der Rollen durch eine spezifische Haltung der Akteure so dargestellt (gezeigt) werden soll, dass die Spektateure, sich der Bedingtheit auch ihrer eigenen Verhaltensweisen bewusst werden. Der hier verwirklichte (theatralische) Bruch ist dem von Bourdieu beabsichtigten (soziologischen) Bruch durchaus analog. Ein wesentlicher Unterschied freilich bleibt, dass das Theater mit anderen Mitteln arbeitet als die Soziologie. Wenn „sozialer Gestus“ und „Habitus“ auch auf das selbe gesellschaftliche Phänomen zielen, so bleiben sie doch – gemäß den Modi von soziologischer und theatralischer Darstellung – zu unterscheidende Begriffe.

Sozialer Realismus und kritische Soziologie

Der Soziologie stellt sich die Frage nach einem sozialen Realismus als einer besonderen Anforderung an ihre Praxis nicht, da es ihr schließlich immer darum gehen muss, gesellschaftliche Verhältnisse zu thematisieren. In der Art und Weise freilich, wie sie solche Verhältnisse thematisiert, kommt ihr eine besondere Verantwortung zu. Sie muss sich entscheiden, ob sie affirmativ oder kritisch sein will, ob sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse einfach als Gegebenheiten hinnehmen will, oder ob sie dazu beitragen will, sie in die Richtung einer sozialen und kulturellen Emanzipation zu verändern. Der von Bourdieu gewählte Modus der Darstellung, das Konzept der Kritik klassenspezifischer Habitualitäten durch Verfremdung und Kenntlichmachung ist nur sinnvoll unter der Prämisse, die der Distinktionskultur unterliegenden Ungleichheitsstrukturen zu beseitigen. Indem der Habitus, der im gewohnheitsmäßigen Lebensvollzug als quasi natürliche Charaktereigenschaft erscheint, in seiner ganzen fetischistischen Strukturabhängigkeit von kapitalistischen Klassen- und Konkurrenzverhältnissen gezeigt wird, erfüllt der Begriff seinen soziologischen und politischen Zweck, für die Klassenspezifik der Handlungsweisen in kapitalistischen Gesellschaften zu sensibilisieren. Eine solche Soziologie bezieht eine engagierte Position in den Klassenkämpfen ihrer Zeit: Sie ist kritische Theorie.[3]

Im Theater stellt sich die gleiche Frage grundsätzlicher. Wie Uri Rapp herausarbeitet, besteht zwar eine grundsätzliche Affinität zwischen Theater und Gesellschaft, zugleich aber kann sich das Theater diese Affinität bewusst machen oder sie implizit lassen. Im zweiten Fall wird es affirmativ und genügt sich (als E-Kunst) in den formalen Innovationen der l’art pour l’art, die meint den allgemeinmenschlichen Abgründen und Tiefen möglichst nahe zu kommen, oder sie betreibt (als U-Kunst) seichte Vor- und Spätabendberieselung. Macht es sich hingegen seine Affinität zur Gesellschaft bewusst und bezieht eine kritische Haltung, so trifft es sich – ohne dabei aufzuhören Theater, also unterhaltsam zu sein – mit kritischer Theorie darin, dass es gesellschaftliche Verhältnisse (in exemplarischen Gesten) bis zur Kenntlichkeit verfremdet und ihre Veränderbarkeit offenlegt: „Es ist eine Art Theater zu spielen, bei der die Welt, die dargestellt wird, keine bloße Wunschwelt ist, wo die Welt nicht so dargestellt wird, wie sie sein sollte, sondern so wie sie ist. Es ist dies das realistische Theaterspielen.“ (BGW 15: 340)

Literatur

Bentley, Eric (1965): The Life of the Drama, London.

BGW 12 = Brecht, Bertolt (1967): Me-ti / Buch der Wendungen, in: Bertolt Brecht Gesammelte Werke 12, Frankfurt/Main.

BGW 15 = Brecht, Bertolt (1967): Neue Technik der Schauspielkunst, in: Bertolt Brecht Gesammelte Werke 12, Frankfurt/Main.

BGW 16 = Brecht, Bertolt (1967): Kleines Organon für das Theater, in: Bertolt Brecht Gesammelte Werke 12, Frankfurt/Main.

Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede – Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main.

Metscher, Thomas (2004): Mimesis, Bibliothek Dialektischer Grundbegriffe Bd. 10, Bielefeld.

Kebir, Sabine (2002): Wert und Vergänglichkeit bei Brecht und Bourdieu, in: Sebastian Kleinschmidt und Therese Hörnigk: Brechts Glaube – Religionskritik, Wissenschaftsfrömmigkeit und Politische Theologie, Berlin.

MEW 3 = Marx, Karl (1958): Thesen über Feuerbach, in: Marx Engels Werke 3, Berlin.

Rapp, Uri (1973): Handeln und Zuschauen – Untersuchungen über den theatersoziologischen Aspekt der menschlichen Interaktion, Darmstadt und Neuwied.

[1] Bezeichnend hierfür ist eine Anektote, die sich in den neunziger Jahren während eines Publikumsgespräches zu „Wassa Schelesnowa“ im Frankfurter Schauspielhaus zutrug: Der Intendant und Regisseur Peter Eschberg, begründete die Figurenzeichnung der revolutionären Schwiegertochter in seiner Inszenierung damals sinngemäß wie folgt: „Die Marxismusdebatte ist ja nicht mehr aktuell. Deshalb habe ich aus der Schwiegertochter eine Heulsuse gemacht, eine Sufragette.“ Dass er dabei dem Stück seinen Spannungsbogen genommen hatte, war ihm offenbar nicht bewusst.

[2] Diese Klassenspezifik individueller Charaktereigenschaften lässt sich fruchtbar machen, den liberalen Mythos von der Diversität in kapitalistischen Gesellschaften zu „dekonstruieren“. In Wirklichkeit wird die als liberale Freiheit beschworene Ungleichheit als klassenspezifisch homogenisierende „Gleichmacherei“ enttarnt. Den Gedanken, dass erst der Sozialismus wirkliche Individualität ermöglicht, hat Brecht im „Meti“ wie folgt formuliert: „Meti sagte: Erst wenn die Gleicheit der Bedingungen geschaffen ist, kann von Ungleichheit gesprochen werden. Erst wenn die Füße aller gleich hoch stehen, kann entschieden werden, wer höher ragt als andere.“ (BGW 12:488)

[3] Gerade darum lässt sich die Soziologie Bourdieus, der sich – wie Sabine Kebir betont – „selbst nicht als Marxisten an[sah]“ (vgl. Kebir 2002: 132), für eine marxistische Gesellschafts- und Intellektuellentheorie fruchtbar machen.