Kapitalistische Schwellenländer – Aufstieg der Peripherie?

Die Bedeutung der Zahl: Gedankenexperimente zur Rolle der BRIC-Staaten in der Weltwirtschaft

September 2006

„Als Karl Julius Beloch bei der Frage nach dem wahren Gewicht Europas im 17. Jahrhundert die Menschenzahlen errechnete, über die die drei um die europäische Vorherrschaft konkurrierenden Mächte – das Osmanische Reich, das spanische Kaiserreich und Frankreich unter Ludwig XIII. und Richelieu – in der Alten Welt verfügten, kam er auf jeweils rund 17 Millionen und folgerte daraus, dass man damals von dieser Größenordnung an Anspruch auf den Titel Großmacht erheben konnte. Inzwischen sieht das etwas anders aus...“ (Braudel 1985: 47).

„Wenn alles richtig läuft, könnten die BRIC-Ökonomien in US-Dollar in weniger als 40 Jahren zusammen größer sein als die G6.“ (Wilson/Purushothaman 2003: 1) Zu dieser zufriedenen, ja beinahe euphorischen Feststellung kommt ein viel beachtetes Forschungspapier der Goldman Sachs Group aus dem September 2003. Der Grundtenor der Broschüre: Die globale politische Ökonomie befände sich in einer Umbruchsphase. Die BRIC-Staaten, Brasilien, Russland, Indien und China, hätten gerade in den nächsten 30 Jahren ein großes Potenzial und würden in diesem Zeitraum jährlich zwischen 3,7% und 5,6% wachsen. China könnte in den nächsten vier Jahren die BRD, Japan bis zum Jahr 2015 und schließlich sogar die USA zum Jahr 2039 überholen. Indiens Ökonomie werde bis 2035 größer sein als die aller anderen Staaten, von den USA und China abgesehen. Auch die Volkswirtschaft Russlands und Brasiliens könnten noch vor 2040 das BIP Deutschlands übertreffen (ebd.: 3f.). Südafrika werde hingegen weit hinter den BRIC-Staaten zurückbleiben (ebd.: 11).[1] Als mögliche Folgen des Aufschwungs benennt die Studie steigende Einkommen in den BRIC-Staaten, die Umorientierung von transnationalen Unternehmen auf die Märkte des Südens und die Herausbildung regionaler Wachstumszentren.[2]

Das Papier erfuhr eine lebhafte Resonanz. Egal ob in der Presse, in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, auf dem Börsenparkett oder auf den Reißbrettern der außenpolitischen Think Tanks; der Begriff BRIC ist seit dem Jahr 2004 in aller Munde. So titelt die FAZ vom 3.2.2005 „Selbstbewusste Gäste bei der G7“ und umschreibt die Einladung an die BRICS-Staaten zu den Beratungen des Gipfels. Auch ein bekanntes Online-Magazin für Investmentfondsberater zieht eine positive Bilanz: „Nach anfänglichem Zögern kann sich heute kaum eine der großen Fondsgesellschaften dem Thema BRIC entziehen.“ (fondsprofessionell online, 12.06.2006) Die einschlägige Fachzeitschrift „International Affairs“ kann sogar im Januar 2006 mit einer Schwerpunktnummer zum Thema BRICS aufwarten. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) und die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) gehen kurzerhand zu Taten über: „BRICS+G will einen Anstoß zu einer intensiveren und konkreten Beschäftigung mit Nachhaltigkeit und Wachstum geben“, so der Vorsitzende des RNE und der Geschäftsführer der GTZ bei der Auftaktveranstaltung im März 2005.

Eine Fülle von Einzelaspekten scheint den kühnen Behauptungen Recht zu geben. Was das BIP betrifft, hat China im vergangenen Jahr Großbritannien nach einer beinahe drei Dekaden andauernden rasanten wirtschaftlichen Aufholjagd mit durchschnittlichen Wachstumsraten von ca. 9,4% überrundet. Das indische Unternehmen Mittal Steel mit einem jährlichen Umsatz von ca. 28,1 Mrd. US$ kaufte nach einer mehrmonatigen Übernahmeschlacht im Juli 2005 den luxemburgischen Konkurrenten Arcelor und schuf auf diese Weise den größten Stahlkonzern der Welt. Der russische Staat begann sich schrittweise bei ausländischen Gläubigern, etwa der deutschen Bundesregierung, zu entschulden. BRIC – quo vadis?

Analytische Scheuklappen? Die neue Imperialismusdebatte

Für die Mehrzahl der wissenschaftlichen Beobachter scheint diese Frage einen geringen Stellenwert zu haben. So wird beispielsweise den BRIC-Staaten in der hiesigen Debatte um einen neuen Imperialismus kaum oder zumindest nur selektive Aufmerksamkeit geschenkt. Es können drei unterschiedliche Strömungen unterschieden werden:

a) Panitch und Gindin (2003: 13-23) arbeiten umfangreich den Charakter des US-amerikanischen Staates heraus, der nach ihrer Interpretation der Prototyp eines Globalstaats ist. Die Expansion US-amerikanischer Direktinvestitionen in der Nachkriegsphase hat eine Internationalisierung von Staatlichkeit und eine Transnationalisierung von Klassenfraktionen nach sich gezogen. Dieser Prozess veränderte die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in den einzelnen Staaten maßgeblich. Es entstanden Klassenfraktionen, die von Panitch und Gindin in Anlehnung an Susan Strange (1989: 167) als US-amerikanische „Halbbürger“ bezeichnet werden, die „durch die Straßen von Rio oder Bonn, von London oder Madrid laufen.“ Dieser Prozess ist mit der Durchdringung ausländischer Staatsapparate durch den US-amerikanischen Imperialstaat verbunden. Diese „Penetration“ führt zur Beiordnung anderer Staaten und macht diese für die Vorgaben des US-amerikanischen Imperiums gefügig. Die empirische Basis für die Behauptung bleibt jedoch mit Bezug auf einige der BRIC-Staaten eher fragwürdig.[3]

b) Eine weitere imperialismustheoretische Diskussion wird über die Rolle der EU in der neuen Weltordnung geführt. Hier lassen sich zwei Thesen unterscheiden. Auf der einen Seite hat vor allem in der Antikriegsbewegung das Argument an Einfluss gewonnen, dass die EU auf dem Wege zu einer „Welt-Macht Europa“ (Pflüger/Wagner 2006) sei. Als Begründung werden die wachsenden militärischen Ressourcen, die Institutionalisierung der EU-Militärpolitik und das Gewicht der EU in der Weltwirtschaft angeführt (Neuber 2006: 12ff. Krüger 2006: 28ff.). Die Gegenseite stimmt zwar der Tendenz zu imperialen Ambitionen zu, weist aber auf „zahlreiche – institutionelle, finanzielle und politisch-kulturelle – Hindernisse“ hin, „die der Realisierung dieser Strategie entgegen stehen“ (Bieling 2005: 175). Ein eigenständiger Euro-Imperialismus erscheint nach dieser Interpretation eher als ein politisches Projekt mächtiger Fraktionen des Blocks an der Macht, das durch rivalisierende nationalstaatliche Interessen ausgebremst werden könnte. Ungeachtet der empirischen und theoretischen Aufarbeitung dieser Dynamiken haftet beiden Interpretationsfolien eine Verengung auf die transatlantischen Beziehungen an. Die BRIC-Nationen fallen weitgehend aus dem Analyseraster heraus.

c) Vertreter des Weltsystemansatzes stellen hingegen die These auf, dass sich das kapitalistische Weltsystem im Übergang befindet. Zwar sei die USA in einer Phase des Abstiegs, aber „die unangefochtene militärische Stärke der USA erscheint den herrschenden Gruppen [...] als ausreichend genug, die ganze Welt in ein Empire von Tributpflichtigen der USA verwandeln zu können.“ (Arrighi 2003: 97) Als potenzieller Gegenhegemon wird China wahrgenommen: „China’s ascent is indeed reminiscent of the US ascent during the world wars of the first half of the twentieth century. Just as the United States emerged as the real winner of the Second World War after the USSR had broken the back of the Wehrmacht in 1942-43, so now all the evidence seems to point to China as the real winner of the War on Terrorism whether or not the United States eventually succeeds in breaking the back of al Qaeda and the Iraqi insurgency” (Arrighi 2005: 115). Außer der Untersuchung Chinas sind in den bisherigen Studien kaum Hinweise auf die Rolle der übrigen BRIC-Staaten enthalten. Der Weltsystemansatz läuft deswegen Gefahr, den alten Eurozentrismus in den Sozialwissenschaften gegen einen neuen Sinozentrismus auszutauschen.

Nationale Verschiedenheiten der BRIC-Staaten

Die Lobeshymnen des politischen und wissenschaftlichen Mainstream auf der einen und die einseitige Ausrichtung der neuen Imperialismusdebatte auf der anderen Seite machen ein genaueres Studium der Rolle der BRIC-Staaten in der Weltwirtschaft lohnenswert. Hierzu bedarf es zunächst der Analyse der einzelnen BRIC-Länder selbst. Denn die wirtschaftlichen Prozesse in diesen Nationen lassen sich auf sehr unterschiedliche Entwicklungsdynamiken zurückführen. Sie variieren insbesondere in vier Momenten:

a) Zunächst sind die Hochphasen des ökonomischen Wachstums in den BRIC-Staaten zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten angesiedelt. Teilweise scheint die Epoche der Wachstumseuphorie wie in Brasilien bereits vergangen zu sein, während sie in Staaten wie Indien vielleicht gerade erst begonnen hat.

b) Auch unterscheiden sich die Entwicklungsmodelle und die industriellen Grundlagen des Wachstums der einzelnen Länder erheblich. In Russland steht ein Exportboom von Rohstoffen im Vordergrund. In Indien wiederum ist ein konkurrenzfähiger Dienstleistungssektor entstanden.

c) Hiermit sind verschiedenartige Formen der Außenabhängigkeit verbunden. In Brasilien spielt die Außenverschuldung weiterhin eine zentrale Rolle. In den chinesisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen hat sich hingegen eine Interdependenz zwischen chinesischer Exportabhängigkeit und der Schuldenaufnahme des US-amerikanischen Staates herausgebildet.

d) Die BRIC-Staaten sind außerdem von divergierenden sozialstrukturellen Grundmustern geprägt. Einer sehr hohen sozialen Spaltung in Brasilien mit einem Gini-Koeffizienten von 0,59 steht ein vergleichsweise niedriger Wert in Indien von 0,33 gegenüber (Weltbank 2006: 336ff.). Auch variiert das BIP pro Kopf zwischen 620 US$ in Indien und 3410 US$ in Russland. In den einzelnen Staaten haben sich zudem verschiedene Machtblöcke herausgebildet, die durch das unterschiedliche Gewicht einzelner Kapitalfraktionen gekennzeichnet sind.

Bei näherer Betrachtung erscheint der Begriff BRIC deswegen als keine einheitliche analytische Kategorie zur Charakterisierung der Transformationsprozesse in den Ländern.

Brasilien

Brasilien zeichnet sich seit rund 25 Jahren durch eine träge wirtschaftliche Entwicklung mit jährlichen BIP-Steigerungsraten von ca. 2,3% aus (vgl. Faria in dieser Ausgabe: 39). Die Krise folgte einem Boom: Brasilien wies in der Phase der Militärdiktatur (1964-1985) zeitweilig Wachstumsraten von durchschnittlich 11,5% (1969-1974) auf. Die Basis für den wirtschaftlichen Höhenflug bildete eine Dreierallianz (Tripé) aus ausländischem, nationalem und staatlichem Kapital. Das brasilianische Wirtschaftsmodell wurde ab den 1970er Jahren durch Auslandskredite finanziert und geriet mit der Schuldenkrise 1981/82 in strukturelle Probleme. Es wurde schließlich durch eine massive Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik Anfang der 1990er Jahre zerschlagen. Die Regierung Cardoso (1995-2002) forcierte eine neue Akkumulationsstrategie, die durch eine Dollaranbindung des Real, durch die Inflationsbekämpfung, durch eine Hochzinspolitik und durch eine Fortsetzung der Privatisierungen geprägt war (vgl. Rocha 2002). Die Dynamik dieses Modells blieb jedoch sehr gering. Das Wirtschaftsregime zeichnet sich durch einen finanzmarktvermittelten Ressourcentransfer von Brasilien in die Zentren der kapitalistischen Weltwirtschaft aus. Im Jahr 2005 flossen durch die Zinszahlungen für öffentliche Auslandschulden beinahe 2% des BIP in die Zentren ab (Neue Zürcher Zeitung, 15.7.2005). Die Industriearbeiterklasse, deren Anteil im Zeitraum von 1960-1980 von 12,9% auf 24,4% gestiegen war, begann sich ab den späten 1970er Jahren politisch zu artikulieren. Sie brachte 2003 mit der Regierung Luiz Inácio „Lula“ da Silva ein Mitte-Links-Bündnis ins Amt. Ihr gelang es bisher jedoch nur ansatzweise, eine Strukturveränderung des ökonomischen Regimes einzuleiten und die sehr hohe soziale Spaltung zu bekämpfen.

Russland

Die Entwicklung der russischen Ökonomie war maßgeblich durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 geprägt. Im Rahmen der „Schocktherapie“ wurden bereits 1992/93 die Mehrzahl der Staatsbetriebe in Aktiengesellschaften umgewandelt und die Verbraucherpreise freigegeben (Conert 2001: 166f.). Meist kauften institutionelle Anleger oder eine kleine Gruppe von Privatleuten die Aktienpakete auf. Die Folge war „die schlimmste industrielle Krise des 20. Jahrhunderts“ (Cohen zit. n. Conert 2001: 169). Sie schlug sich in einem Rückgang der Industrieproduktion im Jahr 1998 auf rund 46% und in einer Verringerung der Realeinkommen auf 49% der Werte des Jahres 1989 nieder. Erst nach der Finanz- und Währungskrise im Jahr 1998 begann ein langsamer Regenerationsprozess einzusetzen. Die Abwertung des Rubels von 6,2 auf über 26 Rubel für den US-Dollar Ende 1998 heizte in Wechselwirkung mit den rasch steigenden Energiepreisen die wirtschaftliche Dynamik an. Zudem erhöhte die Regierung Putin (ab 2000) die staatlichen Kontrollbefugnisse im Energiesektor. Auch wenn es nicht gelang, die Industrieproduktion in Bereichen wie dem Maschinenbau, der Textilindustrie oder der Lebensmittelverarbeitung annähernd auf das Niveau des Jahres 1990 zu heben (vgl. Meyer in dieser Ausgabe: 57), hat die Rohstoffhausse seit 1999 für Wachstumsraten von durchschnittlich 6,5% gesorgt. Der Wirtschaftsboom wurde zwar durch Realeinkommensgewinne, ca. 5,5% im Jahr 2004 und 8,8% im Jahr 2005, begleitet. Aber die soziale Situation ist für viele Bevölkerungsgruppen, etwa für die Rentner oder die Arbeitslosen, weiterhin prekär. Die Einführung von sozialpolitisch fragwürdigen Gesetzen wie einer einheitlichen Einkommenssteuer von durchschnittlich 13% weist auf eine Zementierung sozialer Ungleichheiten hin (Kagarlitsky 2004: 276).

Indien

Das indische Entwicklungsmodell orientierte sich seit den Regierungen Jawharal Nehru (1947-1964) und Indira Gandhi (1966-1977) an einer staats- und binnenmarktzentrierten Importsubstitutionspolitik. Es stellte die Steigerung der Agrarproduktivität und die Förderung der Schwerindustrie in den Mittelpunkt der Entwicklungsbemühungen. In den 1980er Jahren erfolgte durch staatliche Kreditprogramme und selektive Deregulierungsmaßnahmen eine Beschleunigung des der BIP-Steigerungsraten auf über 5,5% (vgl. Desai in dieser Ausgabe: 68f.). Nach einer Krisenphase zu Beginn der 1990er Jahre folgte die Außenöffnung der Ökonomie durch die Regierung P. V. Narasimha Rao (1991-1996). Sie ging mit der Privatisierung von staatlichen Konglomeraten und entschiedenen Außenzollsenkungen einher. Das weiterhin staatszentrierte Modell zeichnet sich nun durch erhöhte Auslandsinvestitionen von heute rund 5,8 Mrd. US$ im Jahr (2005/06) und eine Stabilisierung der Schuldensituation aus. Allerdings hat die Liberalisierung die soziale Ungleichheit erhöht und zu keiner zusätzlichen Beschleunigung des Wirtschaftswachstums beigetragen. Neu ist lediglich die Dynamik im Dienstleistungssektor. Das rasche Wachstum der IT-Branche durch Outsourcing-Prozesse wird bis 2009 einen Informationstechnologie-Sektor mit einem Umsatz von 57 Mrd. US$ und 4 Mio. Beschäftigen erzeugen. Das macht rund 7% des BIP aus (Harris 2005: 489). Auch hat sich ein hegemonialer Blocks gefestigt, der etwa ein Fünftel der Bevölkerung wie die große Industrie- Handels und Finanzbourgeoisie, die Landoligarchie, Teile der staatlichen Bürokratie, wohlhabende Bauern und urbane Mittelschichten umfasst (vgl. Amin 2005). Indien gleicht weiterhin einem Entwicklungsland. 59% der Erwerbsbevölkerung lebt von der Landwirtschaft. Ungeachtet des vergleichsweise niedrigen Gini-Koeffizienten von 0,33 leiden 221 Mio. Menschen Hunger. Neben der Klassenspaltung bleibt Indien sehr stark durch die soziale Differenzierung in verschiedene Kasten geprägt (Neelsen 2005: 1371ff.). In den 1990er Jahren wurden die sozialen Spannungen von der minderheitenfeindlichen nationalistischen Hindutva-Bewegung politisch instrumentalisiert. Das hohe Bevölkerungswachstum ließ die Einwohnerzahl von Indien mittlerweile auf über 1,1 Mrd. anschwellen und wird bei einem geschätzten jährlichen Zuwachs von 1,4% das ökonomische und politische Gewicht des Landes zwangsläufig erhöhen.

China

Anders als in Russland setzte das sozialistisch orientierte China seit 1978 auf eine langsame Außenöffnung der Ökonomie und auf eine Stärkung des Privatsektors. Hierbei können drei Phasen des rasanten Wachstumsprozesses unterschieden werden (Burkett/Hart-Landsberg 2004: 31ff). Der Zeitraum von 1978-83 war durch erste Deregulierungsschritte geprägt. Die Schaffung von vier Sonderwirtschaftszonen für ausländische Investoren und die Entkollektivierung der Landwirtschaft bildeten signifikante Merkmale der ersten Reformepoche. Auch die Zulassung von kleinen Privatunternehmen war zentral. Seit den späten 1970er Jahren wuchs die Beschäftigtenanzahl im Privatsektor von 270.000 auf 3,4 Mio. im Jahr 1984 an. In der zweiten Phase von 1984-1991 beschleunigte die Regierung die Marktliberalisierung. Die Sonderwirtschaftszonen wurden ausgedehnt, Arbeitsmarktderegulierungen vorangetrieben und Preisbindungen gelockert. Nach einer Rezession im Jahr 1989 und der Niederschlagung der Tiananmen-Proteste im Mai 1989 begann man ab 1991 den Reformprozess zu beschleunigen. Nun wurden aktiv ausländische Investitionen gefördert und die Privatisierung von Staatsbetrieben (ab 1993) forciert. Eine vierte Reformepoche kann mit dem WTO-Beitritt Chinas ab 2001 ausgemacht werden. Die Reduzierung der Außenzölle und die Liberalisierung des Investitionsverkehrs zog ein sprunghaftes Wachstum der Exporte um 22,3% (2002), 34,6% (2003) und 35,4% (2004) nach sich. Die Investitionsrate schnellte von 36,3% im Jahr 2000 auf ungeheuere 48,6% im Jahr 2005 (Cho 2005: 72, vgl. Cho in dieser Ausgabe: 81f.). Das Ergebnis des Wachstumsbooms mit Steigerungsraten von jährlich ca. 9,4% besteht in einem exportgetriebenen Wirtschaftsmodell, das mit 36% des BIP eine vergleichsweise hohe Außenverflechtung aufweist. Es trug zu einer Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens von 350$ (1989) auf 1290 US$ (2005) bei. Die Wachstumszentren konzentrieren sich auf die östlichen Küstenregionen und umfassen Sektoren von der Textil- bis zu Hochtechnologieindustrie. China ist durch eine Überhitzung der Ökonomie gekennzeichnet. Im Reich der Mitte hat die soziale Spaltung mit einem Gini-Koeffizienten von 0,47 ein vergleichsweise hohes Niveau erreicht. Die Anzahl der Beschäftigten im kollektiven Sektor und im Staatssektor verringerte sich zwischen 1995 und 2005 um insgesamt 67,4 Millionen. Dennoch werden immer noch rund 70% der Investitionen von Staatsunternehmen getätigt.

Die BRIC-Staaten in der Weltökonomie

Was haben diese Länder mit ihren divergierenden Entwicklungspfaden also gemeinsam, um das Etikett BRIC angeheftet zu bekommen? Die Antwort ist so banal wie einleuchtend: Durch den Aufstieg und die Kooperation der BRIC-Staaten werden bestehende Strukturen in der globalen politischen Ökonomie umgewälzt. Die strukturale Macht innerhalb dieses Gefüges besteht vor allem in „the power to shape and determine the structures of the global political economy within which other states, their economic enterprises and (not least) their scientists and other professional people have to operate“ (Strange 1994 zit. n. Bieling 2003: 369).[4] Susan Strange (1988: 43ff.) unterscheidet mit den Bereichen der Produktion, der Finanzen, des Wissens und der Sicherheit vier (primäre) Machtstrukturen, die miteinander korrespondieren und untereinander verflochten sind. Um diese strukturalen Beziehungen wirksam zu verändern, ist eine Anhäufung von Machtressourcen in den einzelnen Sektoren bedeutsam. Diese Bündelung von Ressourcen lässt sich relativ einfach überschauen:

Produktionsstruktur

Im Bereich der Produktionsstruktur lässt sich ein Wandel erkennen. Der Anteil der BRIC-Staaten am weltweiten BIP hat sich in den Jahren 1994-2004 von 7,0% auf 8,4% erhöht (vgl. Tab 1).[5] Diese Steigerung geht vor allem auf die dynamische Wirtschaftsentwicklung in China und Indien zurück. Die beiden Staaten wiesen im Zeitraum von 1989-2004 durchschnittliche Wachstumsraten von 10,1% bzw. 6,2% auf. Die Einbindung der BRIC-Staaten innerhalb von transnationalen Wertschöpfungsketten veränderte sich (nicht zuletzt durch die steigenden Rohstoffpreise) nur geringfügig. So sank sogar der Anteil der Hochtechnologieexporte Brasiliens zwischen 2000 und 2004 von 19% auf 12% der Fertigungsexporte, während er in Russland zwischen 9% und 19% schwankte. In Indien blieb der Wert stabil bei 5%. Lediglich in China änderte sich die interne Struktur. Der Anteil wuchs von 19% (2000) auf 30% (2004) an. Zuletzt ist in den vergangenen drei Jahrzehnten ein genereller Trend zur Herausbildung von leistungsfähigen industriellen Sektoren in Lateinamerika, Süd(ost)asien und China zu beobachten (Arrighi/Brewer/Silver 2003: 12). Auch hier sind große Unterschiede zwischen den BRIC-Ländern vorhanden: „China hat 100 Mio. Arbeiter in der Manufaktur, während es nur 9 Mio. in Indien sind.“ (Harris 2005: 489). Der Industrialisierungstrend in der Mehrzahl der BRIC-Staaten wird zudem von einer nur äußerst geringfügigen Verbesserung der Einkommensunterschiede zur ersten Welt begleitet (Arrighi/Brewer/Silver: 15).

Tabelle 1: Anteil der BRIC-Staaten am weltweiten BIP in US$

Tabelle siehe Datei zum Download!

Quelle: Weltbank 1991, 1996, 2001, 2006

Finanzstruktur

Drei wichtige Transformationsdynamiken beeinflussen die Position in der Finanzstruktur. Zunächst haben sich die außenwirtschaftlichen Daten aller BRIC-Staaten verbessert. Brasilien hat seit dem Jahr 2000 wieder eine positive Leistungsbilanz, die mittlerweile auf 14,2 Mrd. US$ angewachsen ist. Indien wies 2005/06 ebenfalls eine positive Leistungsbilanz von 15 Mrd. US$ auf. Russland kam 2005 auf einen Leistungsbilanzüberschuss von 84,6 Mrd. US$ und China sogar auf 160,8 Mrd. US$.

Eng mit dieser Entwicklung ist die Anhäufung sehr hoher Devisenreserven in den einzelnen Ländern verbunden. China hat 941,1 Mrd. US$ (Juli 2006) angesammelt, Russland kommt auf 255,7 Mrd. US$ (Juli 2006), Indien hält 151,6 Mrd. US$ (April 2006) und Brasilien hat Reserven von 65 Mrd. US$ (Juli 2006). Die Devisen räumen ihnen eine verbesserte Position auf den internationalen Finanzmärkten ein, sind aber zugleich das Ergebnis einer einseitigen Exportausrichtung.

Diese Entwicklung wird von der Herausbildung einer veränderten globalen Gläubiger-Schuldner-Struktur begleitet, die mittelfristig die strukturalen Machtbeziehungen umwälzen könnte. Die chinesische Zentralbank und verschiedene chinesische Staats- und Geschäftsbanken halten inzwischen „US treasury bonds“ im Wert von 326,1 Mrd. US$. Das sind rund 250 Mrd. US$ mehr als vor fünf Jahren. Während China zur Gläubigernation aufsteigt, scheinen in den anderen BRIC-Staaten Entschuldungsprozesse in Gang gekommen zu sein. So kündigte der russische Finanzminister Alexej Kudrin an, zum 21.8.2006 die verbliebenen Schulden von 20,8 Mrd. US$ beim Pariser Klub zu begleichen (Mayr/Neef 2006: 93). Ferner entschuldete sich Brasilien im Dezember 2005 mit einer Zahlung von 15,5 Mrd. US$ beim IWF.

Wissensstruktur

Deutlich geringer ist die Umschichtung der Ressourcen im Wissenschaftssektor. Zwar existieren in sämtlichen BRIC-Staaten Hochtechnologie-Cluster, die oftmals einer hohen staatlichen Förderung unterliegen. Aber Sektoren wie die brasilianische Flugzeugindustrie Embraer, das russische Raumfahrtprogramm oder das ausgeklügelte indische Satellitensystem täuschen über die allgemeine Vorherrschaft der traditionellen Zentren im Wissenschaftsbereich hinweg: „Da die Mitgliedsstaaten der OECD nach wie vor für über 95 Prozent der Patentanmeldungen an den großen internationalen Ämtern bzw. unter Verwendungen des PCT-Verfahrens verantwortlich sind, entsprechen die Zahlen dieser Ländergruppe nahezu den Zahlen in der gesamten Welt. Zwar haben andere Länder, wie bspw. China oder Indien in der jüngeren Vergangenheit die Anzahl der international relevanten Patente steigern können, aber die absoluten Zahlen fallen im internationalen Vergleich (noch) nicht sonderlich ins Gewicht.“ (Frietsch/Gauch/Breitschopf 2005: 11) Selbst das im Wissenschaftsbereich am weitesten entwickelte China bleibt z.B. bei den Forschungsausgaben deutlich hinter der EU, den USA und Japan zurück (vgl. Tab 2).

Tabelle 2: Forschungsausgaben 2003 (in Mrd. US$)

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* Jahr 2004; 2003 19.2 Milliarden; Quelle : Delgado 2006: 8

Allerdings lässt sich in einzelnen Bereichen eine klare Verschiebung ausmachen. Gerade auf der Ebene der Ausbildung hochqualifizierter Arbeitskräfte kann China erste Erfolge verbuchen (Delgado 2006: 8f.). Im Jahr 2001 wurden 39% aller Ingenieurs-Diplomanden weltweit in China ausgebildet. Die Anzahl der Doktoranden im Bereich der I&K-Technologien könnten nach Schätzungen im Jahr 2010 die Anzahl derer in den USA übersteigen. Auch werden mittlerweile 4,38% der Publikationen im I&K-Bereich in China verfasst.

Sicherheitsstruktur

Im Bereich der Sicherheitsstruktur ist die Bündelung von Machtressourcen durch die USA unanfechtbar. Auch wenn die Anschläge vom 11. September 2001 auf die Transnationalisierung der Gefahrenpotenziale hingewiesen haben, gibt es im zentralen Militärbereich keine ernsthafte Herausforderung. Die Militärausgaben der USA übersteigen jene der BRIC-Staaten um ein Vielfaches (vgl. Tab 3).

Tabelle 3: Militärausgaben 2005 (in Mrd. US$)

Tabelle siehe Datei zum Download!

Quelle: SIPRI military expenditure database 2006

Dennoch existieren drei Momente, die auf eine bedeutende Stellung der BRIC-Staaten hinweisen. 1) Gerade Indien und China haben ihre Militärausgaben in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. Umfasste der indische Verteidigungshaushalt 1995 noch 11,0 Mrd. US$, hatte sich diese Summe 2005 mit ca. 20,4 Mrd. US$ beinahe verdoppelt. China verdreifachte seine Ausgaben von 14 Mrd. US$ auf 41 Mrd. US$. 2) Mit China, Indien und Russland sind drei BRIC-Staaten Atommächte. Sie werden deswegen in der Regelung von internationalen Konflikten unüberhörbare Stimmen haben und auch in internationalen Institutionen, etwa dem UN-Sicherheitsrat, Gehör finden. 3) Sämtliche BRIC-Staaten verfügen über eine weitgehende eigenständige Rüstungsindustrie. Teilweise ist diese wie in Brasilien sehr stark in transnationale Wertschöpfungsketten eingebunden. In Russland jedoch hat sich mit Rosoboronexport ein Rüstungsunternehmen herausgebildet, dessen Exporte im Jahr 2004 auf 5,12 Mrd. Dollar angestiegen sind (Die Welt, 14.2.2005). Russland hat 2005 Rüstungsgüter an 74 Länder geliefert, darunter Raketensysteme und Kampfflieger. Eine (langfristige) Herausforderung für die Zentrenstaaten sind die BRIC-Staaten im Militärsektor nur dann, wenn sie verstärkt in Kooperation miteinander treten. Auf eine solche Dynamik deuten erste gemeinsame Manöver zwischen China und Russland im August 2005 hin.

Die Untersuchung der Machtressourcen legt nahe, dass eine Herausbildung bzw. Verfestigung von (neuen) regionalen Machtzentren erfolgt. China ist dabei in den meisten Bereichen den anderen BRIC-Staaten weit voraus. Allerdings haben auch die übrigen Länder, etwa Russland innerhalb der Finanzstruktur, ihre Handlungsfähigkeit deutlich verbessern können und sind von äußeren Vorgaben unabhängiger geworden. Lediglich Brasiliens Entwicklung scheint zu stagnieren. Freilich bleibt gerade auf der Ebene der Sicherheit und der Wissenschaft die Vormachtstellung der traditionellen Zentren in näherer Zukunft unangefochten. Vorerst ist nur eine Verschiebung von Machtressourcen in einzelnen Sektoren zu beobachten, die sich allerdings mittelfristig in der Veränderung strukturaler Machtbeziehungen äußern könnte.

Neue Kooperationsmuster und Konflikte in der
internationalen politischen Ökonomie

Eine solche Veränderung wird sich wahrscheinlich am ehesten durch gezielte Kooperationsmuster zwischen den BRIC-Staaten und durch eine Beeinflussung der Entwicklungsprozesse in den Zentren und der Peripherie durch die BRIC-Länder ergeben. In diesem Kontext lassen sich vier Dynamiken beobachten:

a) Ein interessantes Phänomen besteht in der Herausbildung von bedeutenden multinationalen Unternehmen in den BRIC-Staaten, die mittlerweile erfolgreich als Marktakteure in den Zentren agieren. In der Liste Fortune Global 500 dieses Jahres sind vier brasilianische, zwanzig chinesische, sechs indische und fünf russische Unternehmen unter den 500 größten Unternehmen weltweit zu finden. Das sind acht Unternehmen mehr als im Vorjahr. Die Folge dieser Veränderung besteht darin, dass erste Übernahmen von Unternehmen in den Zentren durch Firmen aus der Semiperipherie stattfinden. Neben dem spektakulären Kauf des luxemburgischen Stahlriesen Arcelor durch das indische Unternehmen Mittal Steel im Juli 2005 kam es zu mehreren Übernahmen durch chinesische Firmen. So kaufte der Computerhersteller Lenovo im Jahr 2004 die PC-Sparte von IBM. Die Nanjing Automobile Group erwarb 2005 die britische MG Rover Group und der Elektronikkonzern TCL erstand den deutschen TV-Hersteller Schneider (Cho in dieser Ausgabe: 84). Analysten erwarten nicht nur weitere chinesische Übernahmen, sondern vermuten, dass auch russische Unternehmen verstärkt in Europa investieren werden (Spiegel Online, 12.5.06; Wiener Zeitung, 12.7.06).

b) Außerdem ist es zu einer politisch moderierten Verschiebung von Handelsstrukturen gekommen. Die Grundlage hierfür bildet der erhöhte Warenaustausch zwischen den BRIC-Staaten und anderen bedeutenden Schwellenländern. Der Anteil der Handelsströme der EU und USA mit Brasilien ist seit der Amtsübernahme der neuen Regierung Lula in den letzten drei Jahren um über 8% gesunken. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil von China am brasilianischen Gesamthandel von 3,8% auf 6,4%, von Russland von 1,6% auf 1,9% und von Indien geringfügig von 1,1% auf 1,2% (und im Nachbarland Argentinien von 6,6% auf 8,4%) an. Diese bewusste ökonomische Neuorientierung spiegelt sich auf der politischen Ebene in einer Fülle von bilateralen Verträgen zwischen den BRIC-Staaten wieder.

c) Die Veränderung lässt sich auch an der Entstehung von neuen Entwicklungs- und Schwellenländerkoalitionen beobachten. Die Gründung der G-20 im Vorfeld der Ministerkonferenz in Cancún im September 2003 veränderte die Verhandlungsstrukturen in der WTO nachhaltig (vgl. Deckwirth in dieser Ausgabe: 112ff.). Dieses auf brasilianische Initiative gegründete Bündnis, das auch andere große Schwellenländer wie Indien, Indonesien, China und Südafrika umfasst, trug zusammen mit der G-90 (einer Gruppe von AKP-Staaten und asiatischen Entwicklungsländern sowie der Afrikanischen Union) zum Scheitern des Gipfels bei. In den weiteren Verhandlungen wurden Brasilien und Indien in die Gruppe der Five Interested Parties (USA, EU, Australien, Brasilien und Indien) eingebunden, die sich als ein zentraler Ort der WTO-Verhandlungen durchsetzte und im Jahr 2006 um Japan erweitert wurde. Auch außerhalb von etablierten Institutionen wie der WTO kam es zu neuen Bündnissen. So hat sich mit dem India, Brazil and South Africa Dialogue Forum eine Institution herausgebildet, in der neben handelspolitischen Fragestellungen eine enge Zusammenarbeit im Energie- und Technologiesektor vorangetrieben wird (Schmalz 2004: 29f.).

d) Zuletzt nehmen die BRIC-Staaten eine veränderte Rolle innerhalb der Peripherie wahr. Als Beispiel für diesen Prozess können die Aktivitäten der chinesischen Regierung auf dem afrikanischen Kontinent herangezogen werden (vgl. Gu 2005). Neben dem Zugang zu Rohölreserven dienen die afrikanischen Länder als Absatzmärkte für einfache Konsumgüter und als Zielgebiet für chinesische Investitionen im Infrastruktursektor. Inzwischen wirtschaften 600 chinesische Unternehmen in 49 afrikanischen Ländern; der Handelsaustausch mit Afrika hat im Jahr 2004 mit 18,54 Mrd. US$ die Hälfte des US-Handelsvolumens mit der Region erreicht (ebd.: 16). Peking hat zudem 156 Schuldverträge annulliert und damit 31 Ländern eine Schuldenlast von insgesamt 1,3 Mrd. US$ erlassen. Auch die brasilianische Regierung engagiert sich verstärkt in Afrika und konnte zwischen 2002 und 2005 den Handelsaustausch mit dem subsaharischen Afrika von 5 Mrd. US$ auf 12,4 Mrd. US$ steigern.

Anstelle einer Schlussfolgerung: Offene Forschungsfragen

Eines ist gewiss: Die Tendenz zu einem Einflussgewinn der BRIC-Staaten in der internationalen politischen Ökonomie ist unverkennbar. Ihre Mehrheit hat in dem vergangenen Jahrzehnt große Machtressourcen angehäuft. Allerdings muss klar zwischen den BRIC-Ländern differenziert werden. Vor allem die chinesische Volkswirtschaft, aber auch im geringeren Umfang die indische Ökonomie, werden in näherer Zukunft eine gewichtige Rolle spielen. Das Wirtschaftswachstum Russlands beruht auf Regenerationseffekten und einem Rohstoffboom, während Brasilien sich ungeachtet der BRIC-Euphorie wenig dynamisch entwickelt.[6] Eine Umwälzung von strukturalen Machtbeziehungen ist bisher nur ansatzweise, etwa im Finanzsektor, zu erkennen und hängt maßgeblich von zukünftigen politischen Weichstellungen ab. Folglich ist noch kein einheitliches Bild der Transformation erkennbar. Die zahlreichen Entwicklungen gleichen vielen Mosaikstücken, die durch eine intensive Forschungsarbeit zusammengesetzt werden müssen. Zu diesem Zweck sollten in der weiteren Theoriedebatte drei wichtige Fragestellungen reflektiert werden:

1) Zunächst bedarf es einer intensiven Diskussion um die Abhängigkeitsmuster und Strukturen räumlicher Ungleichheit in der internationalen politischen Ökonomie. Auf der einen Seite sind die BRIC-Nationen als (semi-)periphere Staaten allesamt von einer vergleichsweise hohen „strukturellen Heterogenität“ (Cordova 1973) gekennzeichnet: einem Flickenteppich marginalisierter und eingeschlossener Sektoren, einem Nebeneinander verschiedener Produktionsweisen und der Nichtexistenz eines auf den Binnenmarkt ausgerichteten kohärenten Produktionsapparats. Auf der anderen Seite setzt die „Bedeutung der Zahl“ (Braudel 1985: 21), die schiere Größe der Mittel- und Oberschichten in den BRIC-Staaten, viele Gesetze der Entwicklungstheorie außer Kraft. Es besteht demnach Klärungsbedarf, inwieweit das interne Zentrum-Peripherie-Gefälle einen weiteren Entwicklungsprozess blockieren könnte und welche staatlichen Steuerungskapazitäten für eine erfolgreiche Transformation generiert werden können. Hierzu wird ein Begriff von Abhängigkeit entwickelt werden müssen, der sich nicht nur auf ökonomische Außenbeziehungen bezieht, sondern auch sozialstrukturelle Aspekte, Akteurskonstellationen und strukturale Machtbeziehungen berücksichtigt.[7]

2) Eine zweite Fragestellung bezieht sich auf die sozialstrukturelle Konfiguration der BRIC-Länder. Sehr oft wird im hiesigen wissenschaftlichen Diskurs mit einem Klassenbegriff operiert, der an die Überlegungen von Nicos Poulantzas (2001, 2002) anschließt. Für die Untersuchung bedeutet dies, dass auf die Transnationalisierung von Klassenfraktionen hingewiesen wird (vgl. Panitch/Gindin 2003). Oftmals wird hierbei die Bourgeoisie in semiperipheren Staaten als bloße Kompradorenbourgeoisie, die über keine eigenständige Akkumulationsbasis verfügt, oder als innere Bourgeoisie verstanden, die durch ausländische Direktinvestition ihre Unabhängigkeit verloren hat. Ein Blick auf die Klassenstruktur in den BRIC-Staaten zeigt jedoch, dass diese Annahme auf empirischer Ebene angezweifelt werden muss. In vielen BRIC-Staaten existiert eine nationale Bourgeoisie, die über eine eigene Wertschöpfungsbasis verfügt.[8] Folglich gilt es, eine sorgsame Untersuchung des Reichtums in den BRIC-Staaten vorzunehmen. Diese sollte als Analyseraster auch die beinahe vergessenen Schriften von Ralph Miliband (1971) zur Kenntnis nehmen und nicht nur die florierende Poulantzas-Rezeption.

3) Die letzte Fragestellung widmet sich den Interaktionen in der internationalen politischen Ökonomie. Denn neben den Kooperations- und Konfliktmöglichkeiten zwischen den BRIC-Staaten und anderen Nationen in der (Semi-)Peripherie und den Zentren wird eine Umwälzung strukturaler Machtbeziehungen an die Herausbildung einer neuen Hegemonialmacht gebunden sein. Diese Problematik wird bereits vom Weltsystemansatz untersucht. Allerdings wird bisher die zentrale Frage, worin der Vorbildcharakter eines Entwicklungsmodells für andere Staaten bestehen könnte, nicht gestellt. Eine BRIC-Hegemonialmacht wird ihre Ausstrahlungskraft schwerlich gegenüber den Zentren entfalten können. Es handelt sich bei den BRIC-Staaten um Länder mit einer ausgeprägten sozialen Spaltung und einer beträchtlichen Gewaltrate. Diese Zustände wird die Bevölkerung der Zentren kaum als Heimstätten eines attraktiven „way of life“ wahrnehmen. Hegemoniefähigkeit kann aber auch über den Umweg der (Semi-)Peripherie erreicht werden. Ein begeisterter Artikel von Wladimir Pomar (2004: 48) im zentralem Theorieorgan der PT lässt eine solche Entwicklung schemenhaft erahnen: „China setzt weiterhin auf sein sozialistisches System, das Marktwirtschaft und makroökonomische und soziale Planung miteinander kombiniert. Die Chinesen bekräftigen, dass ihr Entwicklungsmodell die Menschen zum Mittelpunkt macht und versucht, die Beziehung zwischen ihnen und der Natur zu harmonisieren. Sie sagen, dass ihr Wirtschaftswachstum mit der Verbesserung der Lebensqualität einhergehen wird. Dies soll durch wissenschaftliche und technologische Entdeckungen und der Vereinbarkeit von sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung auf der einen Seite mit der Bevölkerungsentwicklung, der natürlichen Ressourcen und der Umwelt auf der anderen Seite ermöglicht werden.“

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[1] Oftmals wird der Begriff BRIC um ein S für Südafrika auf BRICS erweitert. Denn Südafrika nimmt im subsaharischen Afrika den Status einer Regionalmacht ein und weist einen ähnlichen Entwicklungsstand wie die übrigen BRIC(S)-Staaten auf. Allerdings ist Südafrika aufgrund der bloßen Größe der BRIC-Staaten, etwa die Gesamtbevölkerung und die Staatsgröße, weit von diesen Ländern entfernt. Südafrika wird deswegen hier nicht weiter untersucht. Für weitere Informationen zum südafrikanischen Entwicklungsmodell vgl. den Beitrag von Jens Erik Ambacher in diesem Heft.

[2] Eine Auseinandersetzung mit der Behauptung, dass der Aufstieg der BRIC-Staaten mit positiven sozialen Auswirkungen verbunden sei, findet sich im Beitrag von Radhika Desai in diesem Heft. Sie enttarnt den modernisierungstheoretischen Bias dieser Argumentation.

[3] Das von Leo Panitch und Colin Leys herausgegebene Socialist Register enthält im Jahr 2005 u.a. Länder-Studien zu China und Russland. In dem Beitrag zu Russland wird ein Schwerpunkt auf die Herausbildung von zwei gegensätzlichen Klassenfraktionen gelegt, die entweder den USA oder der BRD nahe stehen (Kagarlitsky 2004: 281). Neuere Tendenzen zu einer Re-Militarisierung und Re-Nationalisierung der russischen Eliten werden hingegen ausgeblendet. Auch in dem Artikel zu China wird anhand einer Studie zur Öffnung des Marktes für Kommunikationsmedien die These vertreten, dass „es plausibler ist, zumindest unter den aktuellen historischen Umständen, China als eine Regionalmacht darzustellen, die in das ‚informelle amerikanische Empire’, wie es Panitch und Gindin beschreiben, integriert ist“ (Zhao 2003: 197). Zwar wird in dem Text ein sehr deutliches Bild der Transnationalisierungstendenzen im Film- und Zeitschriftensektor gezeichnet, aber der vergleichsweise geringfügige Grad des ausländischen Einflusses in der chinesischen Medienlandschaft bleibt in dem Artikel unterbelichtet.

[4] Strukturale Macht zeichnet sich folglich nicht dadurch aus, anderen Akteuren direkt den eigenen Willen aufzudrängen, sondern die Spielregeln für ihr Handeln zu setzen. So ist z.B. die US-amerikanische Zentralbank durch die Rolle des Dollars als Weltgeld und die Wallstreet als zentralem Finanzmarkt dazu befähigt, die Finanzbeziehungen maßgeblich zu beeinflussen und die Handlungsweisen anderer Wirtschaftsakteure zu beeinflussen.

[5] Es ist anzunehmen, dass der Prozentsatz sehr viel höher sein könnte. Die Währungsabwertungen in Brasilien 1999 und 2002 führen in den Berechnungen zu einem wesentlichen niedrigeren Wert im Jahr 2004 (604,85 Mrd. US$) als 1999 (760,35 Mrd. US$), obwohl das BIP real jährlich um 2,0% angestiegen ist. Außerdem gilt die chinesische Währung Renmenbi gegenüber dem US$ als bis zu 50% unterbewertet.

[6] Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch Andrew Hurrell (2006: 19) in einem vergleichenden Artikel über die BRIC-Staaten in der Zeitschrift International Affairs: „Russia is a power that has been in decline for at least the past 20 years, and whose foreign policy has centred on trying to arrest decline. [...] China is in a league of its own. […] For the foreseeable future India and Brazil may be seen not as great powers but as increasingly activst and influential intermediate states.”

[7] Hier sollte auf die Überlegungen von Cardoso/Faletto (1976: 31) zurückgegriffen werden. Für sie ist Abhängigkeit ein Ausdruck eines „Modus der strukturellen Beziehungen, eines spezifischen Typs von Beziehungen zwischen Klassen und Gruppen, der eine Situation bezeichnet, welche eng mit der ‚Außenwelt’ vermittelt ist. Daraus folgt, dass Abhängigkeit nicht länger als ‚externe Variable’ betrachtet werden darf; die Abhängigkeitsanalyse muß statt dessen von der Struktur [...] des Systems der Beziehungen ausgehen, die zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen innerhalb der abhängigen Nation selbst besteht.“

[8] Ein Blick auf die Forbes Liste The World's Billionaires mit den 793 Milliardären weltweit zeigt, dass lediglich in China und Brasilien von einer eher subordinierten herrschenden Klasse gesprochen werden kann. Die Anzahl der chinesischen Milliardäre ist mit acht Nennungen aufgrund des hohen staatlichen Einflusses verhältnismäßig klein. Sie sind im Einzel-, und Immobilienhandel, aber auch in der Industrie aktiv. Die zwölf brasilianischen Milliardäre verfügen zwar allesamt über eine unabhängige Akkumulationsbasis, sind aber neben dem Bankensektor vor allem in der Konsumgüterindustrie aktiv, was auf eine nicht zu unterschätzende Außenabhängigkeit hinweist. Die 23 indischen Supereichen verorten sich in einer diversifizierten Industriestruktur, die von der Softwareherstellung, über Stahlproduktion und einfache Konsumgüter bis zur Telekommunikation und Windenergie reicht. Auch sie sind überwiegend nationale Kapitaleigentümer. Die 33 russischen Milliardäre lassen sich fast alle im Export von Rohstoffen, der Rohstoffverarbeitung und im Bankensektor wieder finden. Sie sind der nationalen Bourgeoisie angehörig. Beachtlich ist der Zuwachs des Reichtums der Bourgeoisie in den BRIC-Staaten: Die Anzahl der indischen Milliardäre stieg im vergangenen Jahr um 10 Personen. Mit diesem Anstieg kann lediglich die USA mithalten!