Editorial

Dezember 2006

Die Anfang Oktober durch eine eher beiläufige Bemerkung des SPD-Vorsitzenden Beck in den Medien losgetretene „Unterschicht“-Debatte über Armut, soziale Polarisierung und sozial wie kulturell de facto aus dem gesellschaftlichen Normal-Zusammenhang ausgeschlossene soziale Gruppen lässt erkennen, dass die Realität der Klassenverhältnisse sich mit den klassischen Formulierungen von „Wohlstands-“ oder „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“ nicht mehr verdrängen lässt. Die konservative Seite geht damit offensiv um. „Deutschland ist eine Klassengesellschaft. Schuld daran trägt der Wohlfahrtsstaat, der die Ungleichheit verfestigt.“ So der nachgeschobene Kommentar der FAZ (22.10.06), die auch das Interview mit Beck veröffentlicht hatte. Die „Unterschicht“ muss, so die Schlußfolgerung, durch Mittelentzug aktiviert werden. „Es sind die langen Sozialhilfekarrieren, die auf Dauer jeden Gedanken daran töten, es könnte auch einmal ein anderes Leben geben. Und das staatlich auf diese Weise festgelegte finanzielle Anspruchsniveau erstickt Antrieb und Selbständigkeit.“

Für die Gewerkschaften und die politische Linke wirft der Umgang mit den neuen Klassenverhältnissen jede Menge strategische Fragen auf. Wie kann der sozialen Polarisierung gesamtgesellschaftlich begegnet werden, wie kann der „prekäre Sektor“ für eine Politik gegen die soziale Polarisierung gewonnen werden? In Beiträgen der letzten Hefte („neue Unterklasse“ und Mindestlohnforderung, Z 66; Klassentheorie; Gewerkschaften und Klassenfragmentierung, Z 65; Armut und Reichtum, Z 64; Prekarität und soziale (Des-)Integration, Z 63; soziale Polarisierung und betriebliche Kämpfe, Z 61 und 62) war deutlich geworden, dass „Prekarisierung“ keineswegs nur auf einen bestimmten Sektor beschränkt ist, sondern auf die Arbeits- und Reproduktionsbedingungen aller Lohn- und Sozialabhängigen ausstrahlt, sich aber in bestimmten Bereichen zugleich verdichtet. In diesem Heft geht es mit unterschiedlicher Akzentsetzung um Erfahrungen und Einstellungen von Betroffenen, um Handlungsmöglichkeiten und Gegenstrategien.

Mario Candeias vertritt die Ansicht, dass es sich bei der neoliberalen Umstrukturierung der Produktions- und Lebensweise um einen widersprüchlichen Prozess handelt, dem nicht durch eine Rückkehr zum „Fordismus“ und eine Wiederherstellung des traditionellen Normalarbeitsverhältnisses begegnet werden könne. Andere Formen möglichst selbstbestimmter Arbeit müssten gefördert werden. Der Neoliberalismus nähme in „ver-rückter“ Form Interessen einzelner sozialer Gruppen auf und integriere sie in seine antisoziale Politik. Ohne die Beachtung der widersprüchlichen – und z.T. auch als befreiend empfundenen – Aspekte der postfordistischen Formation ist es seiner Ansicht nach kaum möglich, die Prekarisierten zu organisieren und die Prekarität wirkungsvoll zu bekämpfen. Ursula Schumm-Garling macht auf die wachsende Zahl von HochschulabsolventInnen aufmerksam, die als „Praktikantinnen und Praktikanten“ unbezahlte Arbeit leisten, ohne dadurch ihre Berufsperspektiven verbessern zu können. Sie zeigt, dass diese neue Art von Ausbeutung durchaus mit Aussicht auf – auch juristischen – Erfolg bekämpft werden kann, um „mehr Sicherheit in der Unsicherheit“ zu erreichen. Carlo Postiglione berichtet über den Umgang der italienischen Gewerkschaften mit dem sich ausweitenden Bereich prekärer Beschäftigung, wobei das Moment der Einbeziehung prekär Beschäftigter in die Organisation und der Ausweitung von Schutzrechten für „flexible“ Beschäftigungsformen im Vordergrund steht. Johannes Schulten beschreibt den zumindest teilweise erfolgreichen Versuch der argentinischen Gewerkschaftsbewegung, die wachsende Zahl von Arbeitslosen und prekär Beschäftigten zu integrieren und so den Fragmentierungstendenzen von sozialen Auseinandersetzungen wirksam entgegen zu wirken. Mit der Zunahme von Einstellungsmustern, die mit der extremen Rechten verbunden sind und die in der Bundesrepublik zu anhaltenden Wahlerfolgen der NPD geführt haben, befasst sich Gerd Wiegel. Solche Einstellungen haben eine ihrer Ursachen in Prekarität und sozialen Krisenerscheinungen, die sich besonders in Ostdeutschland bemerkbar machen. Wiegel arbeitet dabei die neue Qualität der Gefahren von rechts heraus, verbunden mit der Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die Linke ergeben.

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Weitere Beiträge: In der Rubrik „Staat – Imperialismus – Ideologie“ kritisiert Michael Krätke die These eines Bedeutungsverlusts der Nationalstaaten und der staatlichen Interventionsmöglichkeiten im Prozess der „transnationalen Globalisierung“. Frank Unger konstatiert einen entscheidenden Einfluß der Energie- und Öl-Interessen auf die US-amerikanische Außenpolitik. Wege und Widersprüche der spontanen Herausbildung und absichtsvollen Steuerung von ideologischem Massenbewusstsein unter Bedingungen der „unheiligen Allianz von Globalisierung und Neoliberalismus“ untersucht Erich Hahn. Auf den „normativen Etikettenschwindel“ in Menschen- und Bürgerrechtserklärungen macht Hermann Klenner u.a. mit Blick auf den „global war on terror“ oder die Diskussion um die theoretischen Grundlagen einer Linkspartei aufmerksam. Theoretische Überlegungen von Gottfried Stiehler zu Subjekt, Subjektivität und Selbstidentität stellt Karl Hermann Tjaden vor.

Im letzten Heft hatten wir eine Rubrik dem Gedenken an Wolfgang Abendroth gewidmet. Diesmal müssen wir durch ein Dossier von Friedrich Martin Balzer auf einen beschämenden Vorfall an der Universität Marburg aufmerksam machen, wo eine Mehrheit des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften und Philosophie – die alte Wirkungsstätte Abendroths – dem Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt die Ehrendoktorwürde angetragen hat.

Im letzten Drittel des Heftes drucken wir – neben den der Lektüre empfohlenen Zuschriften, Tagungsberichten und Buchbesprechungen – eine anregende Besprechung des Dritten Bandes des „Kapital“ aus dem „Vorwärts“ von 1894/95 nach, deren Verfasser Julian Marchlewski war.

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Z 69 (März 2007) wird Fragen von Demokratie und Demokratietheorie im Schwerpunkt behandeln.