Berichte

Deutsche Arbeiterbewegung, Nation und Hegemonieproblem

Tagung der Marx-Engels-Stiftung, Berlin, 25./ 26. November 2006

März 2007

Da die deutsche Linke ein Problem mit der Nation hat, fällt es ihr traditionell schwer, eine hegemoniale Position zu erringen bzw. zu bewahren. Was in Italien, Frankreich oder Großbritannien so selbstverständlich ist, nämlich das Bekenntnis, im Rahmen und für die jeweilige Nation Politik aktiv gestalten zu wollen, ist in unserem Land immer noch anrüchig. Erst vor wenigen Monaten konnte man dies gut studieren: Dem schwarzrotgoldenen Fahnenmeer aus Anlass der Fußballweltmeisterschaft stand die Linke hilflos bis ablehnend gegenüber. Sächsische Jungpolitiker der Linkspartei.PDS meinten gar, solche Flaggen gegen korrektes antifaschistisches Agitationsmaterial eintauschen zu müssen. Dies geschah offensichtlich in völliger Unkenntnis der Tatsache, dass Schwarz-Rot-Gold als Fahne der Demokratiebewegung auf dem Hambacher Fest 1833 diente und dann als deutsche Nationalflagge in der Weimarer Republik von Kaisertreuen und vor allem von den Nazis als Schwarz-Rot-Mostrich geschmäht wurde. Es war deshalb nur konsequent, dass beide deutsche Staaten sie wie selbstverständlich 1949 zu ihren Flaggen machten. Es gäbe daher mehr als nur einen guten Grund, dass sich die Linke diese Farben heute zu Eigen macht. Und es ist eine große politische Dummheit, sie der Rechten zu überlassen.

Doch das Thema Nation ist in der Linken ein weithin vermintes Gelände. Wer sich ihm – wenn auch noch so vorsichtig – nähert, wird umgehend des Populismus oder gar des Chauvinismus, ja selbst der Wegbereitung des Antisemitismus verdächtigt. Der Diskurs der „Antideutschen“, vorgegeben von Zeitschriften wie „Konkret“ und „Jungle World“, hat längst breite Kreise der intellektuellen Linken erreicht und wird in der Linkspartei.PDS mehr und mehr zur Waffe derer, die sich gegen die offensive Politik Lafontaines wenden, da er sich nicht scheut, auch von Volk und Nation zu sprechen. Die Kontroverse in der Linkspartei.PDS um die Positionen von Jürgen Elsässer (vgl. auch die Rezension seines neuen Buches „Angriff der Heuschrecken. Zerstörung der Nationen und globaler Krieg“ in diesem Heft) ist ein Beleg dafür.

Es zeugt daher sowohl von Mut als auch von Weitsichtigkeit, dass sich die Marx-Engels-Stiftung nun dieses Themas in einer Tagung annahm. Bestimmt wurde die Veranstaltung vor allem durch Beiträge von Wissenschaftlern aus der ehemaligen DDR. So konnte man sich dem Thema von Aspekten her nähern, die heute weitgehend vergessen sind. Da der vorgesehene Referent Domenico Losurdo aus Italien seine Teilnahme aus gesundheitlichen Gründen hatte absagen müssen, fehlte leider der Blick von außen auf die deutsche Misere.

Den Auftakt bildeten Referate von Jürgen Hofmann (Die Crux mit der Nation - Anmerkungen zu einer widersprüchlichen Beziehung) und Walter Schmidt (Die deutsche Linke und die Nation - Historisches und Aktuelles). Beide Wissenschaftler standen in der DDR über viele Jahre in einem engen Arbeitszusammenhang, und so ergänzten sich denn auch ihre Referate. Jürgen Hofmann schritt in einem historischen Abriss noch einmal die Stationen der verschiedenen Diskussionen in der Arbeiterbewegung über die Nation ab. Angefangen beim Kommunistischen Manifest, in dem die Erhebung der Arbeiterklasse zur Nation gefordert wurde, über Bebels Reichstagsrede zur Nation und die von Austromarxisten angestoßene Diskussion über eine mögliche Nationalitätenpolitik in Österreich-Ungarn, die vor allem von Otto Bauers Schrift „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ geprägt und von Josef Stalin in scharfer Abgrenzung zu Bauer in der Broschüre „Marxismus und nationale Frage“ beantwortet worden war, bis hin zur leninschen These vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen.

Wie man an die Nationalitätenfrage herangehen sollte, wurde von Hofmann anhand der Schriften eines heute fast vergessenen Autors dargestellt. Es handelt sich dabei um die Darlegungen des KPÖ-Politikers Alfred Klahr aus den Jahren 1937/38, die 1994 unter dem Titel „Zur österreichschen Nation“ erneut erschienen. Alfred Klahr hatte damals, in scharfer Abgrenzung gegenüber dem in der österreichischen Sozialdemokratie vorherrschenden Pangermanismus, Thesen zum Sinn und zur Berechtigung des Kampfes um eine österreichische Nation entwickelt. Dazu rechnete er sowohl die notwendig zu ziehenden Konsequenzen aus den gescheiterten Versuchen von 1848 und 1918 zur Bildung einer gesamtdeutschen Nation als auch die damals aktuellen Abwehrkämpfe gegen den drohenden Anschluss des bereits klerikalfaschistisch geprägten Österreich an das offen faschistische NS-Deutschland. Anhand der Positionen von Klahr zeigte Hofmann, dass die nationale Frage sinnvoll nur im Zusammenhang mit der sozialen Frage gedacht werden kann. So wie das Bürgertum im 19. Jahrhundert die nationale Einigung zur Beförderung ihrer sozialen Interessen nutzte, muss auch die Arbeiterbewegung vorgehen und ihren Standpunkt unter der Fragestellung „wem nützt es?“ jeweils pragmatisch klären. Schmidt zeigte auf, wie sich Marx auch in seiner Haltung gegenüber Irland von diesem Zusammendenken von nationaler und sozialer Frage lenken ließ. Die irische Aufstandsbewegung fand seine Sympathie, da sie antibürgerlich und antifeudal ausgerichtet war. In einer Art Resümee kam Schmidt zu dem Ergebnis, dass die deutsche Linke, im Unterschied zu vergleichbaren Ländern wie etwa Frankreich und Italien, nicht nachdrücklich auf die deutsche Geschichte Einfluss nehmen konnte. Darin besteht der eigentliche deutsche Sonderweg. Erst die Entwicklung der DDR, die sich – wenn auch halbherzig und widersprüchlich – in einem bestimmten Abschnitt ihrer Geschichte zur sozialistischen Nation erhob, hat einen anderen Blick auf die deutsche Geschichte möglich gemacht.

Die DDR-Führung ging ab 1967 von einer sich herausbildenden sozialistischen Nation aus, da die unterschiedlichen sozialen Entwicklungen beider deutscher Staaten eine einheitliche deutsche Nation mehr und mehr zur Fiktion hatte werden lassen. Eine ganz andere Frage war, dass dieser Positionswechsel damals von oben, unvermittelt und administrativ durchgesetzt und auch deshalb nur halbherzig von der DDR-Bevölkerung akzeptiert worden war. So stellte die Nichterwähnung des Deutschen in der Verfassung von 1974 mit Sicherheit einen großen Fehler dar. Das soziale Moment im Nationenbegriff wurde so gegenüber dem ethnischen Element eindeutig überbetont. Wohl auch deshalb kollabierte die DDR als Staat, als ihr Regierungssystem 1989 in eine tiefe Krise geriet, und das gesamtdeutsche Denken erlebte eine Renaissance. Dass dieses Denken aber nicht unbedingt stabil ist, zeigte sich in den auf den Untergang folgenden Jahren, als die Wiedervereinigungseuphorie wieder schnell verflog und einer realistischen Bewertung des bloßen Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik Platz machte. Nicht wenige sprechen daher davon, dass ein DDR-Nationalbewusstsein sich erst nach 1989/90 innerhalb der breiten Masse der ostdeutschen Bevölkerung ausbildete. Heinz Niemann zeigte in seinem Beitrag „Zur Entwicklung des Nationalbewusstseins der Ostdeutschen und seiner Rolle für die Hegemoniefrage im Wende-Prozess 1989/90“, dass dieses Bewusstsein auch in den Zeiten der DDR großen Schwankungen unterlag. So ergaben Meinungsumfragen aus den siebziger Jahren, dass sich damals ein erheblicher Teil der Bevölkerung sehr wohl als DDR-Bürger fühlte. Auch wenn von Niemann die Offenheit und damit die Repräsentanz dieser Umfragen in einem doch allgemein repressiven und zur Konformität erziehenden Klima im Nachhinein überschätzt wurde, so zeigen diese Umfragen doch, dass keineswegs davon ausgegangen werden kann, dass die gesamtdeutsche Stimmungslage der Wendejahre das Bewusstsein der DDR-Bevölkerung über die gesamten vier Jahrzehnte bestimmt hat.

In einem historischen Rückblick ging Eckhard Trümpler auf die Auseinandersetzungen um das KPD-Programm zur nationalen und sozialen Befreiung ein. Allgemeine Betrachtungen zu Nation und Epochenproblematik steuerte Heinz Engelstädter bei.

Einen ganz anderen Blick – sozusagen einen von oben – bot das Referat von Andreas Wehr zu der Frage „Europa als Nation?“. Er zeigte, wie die Europäische Union von ihrer Gründung an bemüht war, sich identitätsstiftende, quasistaatliche Symbole zu geben. Mit dem zur Ratifizierung anstehenden Verfassungsvertrag sollen nun erstmals Flagge, Hymne, Leitspruch und Gedenktag der Union vertraglich festgelegt werden. Noch wirkungsmächtiger zur Herausbildung einer europäischen Identität sind die von ihm so bezeichneten großen Erzählungen, wie etwa „Die europäische Integration hat den Frieden in Europa bewahrt“ oder „Die europäische Integration bewahrt den Sozialstaat“. Wehr stellte dar, dass dies Mythen sind, die einer kritischen Analyse nicht standhalten. Die Ausgestaltung der Unionsbürgerschaft und die Bestimmungen der Grundrechtecharta zeigen, dass es der EU an der besonderen, reziproken Treuepflicht fehlt, die Grundlage einer jeden modernen nationalen Staatsbürgerschaft ist. Diese besteht darin, dem Staatsbürger im Austausch für seine Unterstellung unter die staatliche Hoheitsgewalt ein Mindestmaß an sozialem Schutz zu gewähren. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist diese reziproke Treuepflicht in Absatz 1 des Artikel 20 fest verankert: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ heißt es dort. Eine solche Bestimmung sucht man im europäischen Verfassungsvertrag vergeblich. Wehr beklagte, dass trotz vielfältiger Kritik an einzelnen Maßnahmen der europäischen Integration innerhalb der Linken eine generell unkritische Haltung gegenüber Europa weiterhin sehr verbreitet ist. Es werde kaum wahrgenommen, dass sie als wichtiges Einfallstor dient, um die auf nationalstaatlicher Ebene vor allem von der Arbeiterbewegung erkämpften demokratischen und sozialen Rechte systematisch zu unterminieren und abzubauen. (Das Referat von Andreas Wehr ist von der Zeitschrift „Marxistische Blätter“ als MASCH-Skript veröffentlicht worden und kann unter http://marxblaetter.placerouge.org/page.php?page=masch-skripte aus dem Internet herunter geladen werden.)

Den Abschluss der Tagung bildete das Referat von Hermann Kopp zum Thema „Die DKP und die ‚nationale Frage’“. Ging die aus der westdeutschen FDJ kommende Gründergeneration der DKP noch wie selbstverständlich von einem Bekenntnis zur deutschen Nation aus, so sahen dies Mitglieder, die in Folge der 68er Bewegung zur Partei stießen, durchaus differenzierter. Aus dieser Generation gab und gibt es denn auch immer wieder Kritik am Schwarz-Rot-Gold in der Parteifahne. Kann und muss man, nach Kopp, im Nachhinein durchaus zu Recht Kritik an der allgemeinen und bedingungslosen Unterordnung der Politik der DKP unter die Interessen der DDR üben, so war jedoch die frühzeitige Forderung der DKP nach völkerrechtlicher Anerkennung der DDR dennoch richtig und entsprach den damaligen Bedingungen.

Aufgrund der unterschiedlichen Ebenen, die in den Referaten angesprochen wurden, lässt sich nur schwer ein allgemeines Fazit der Tagung ziehen. Ein Konsens unter den Referenten und wohl auch unter den Teilnehmern ließe sich vielleicht wie folgt umreißen:

Erstens: Das Ende der Nation wird seit 150 Jahren behauptet, ohne das es eingetreten ist. Im Gegenteil: Seit der Wende 1989/91 hat sich allein in Europa die Zahl der Staaten von 25 auf 50 verdoppelt. In weiten Teilen der Welt hat die Errichtung von Nationen sogar erst begonnen.

Zweitens: Der Nationenbegriff lässt sich aus einer Verschmelzung von ethnischen und sozialen Elementen verstehen, wobei die ethnischen Gegebenheiten in sich wandelbar aber zugleich sehr stabil (nicht abschaffbar) sind.

Drittens: Die DDR hat das Soziale in dieser Kombination übermäßig betont.

Viertens: Nationalstaaten sind auch weiterhin die wichtigsten Gegenmächte gegenüber dem Kapitalismus, da andere internationale Gegenmächte nicht erkennbar sind.

Fünftens: Die Europäische Union bietet keinen Nationenersatz. Ihre Politik trägt vielmehr dazu bei, den in erster Linie auf nationalstaatlicher Ebene zu führenden Kampf um die Bewahrung sozialer Rechte zu schwächen.

Die insgesamt wichtige und interessante Tagung litt leider unter mangelndem Publikumsinteresse, was sicherlich auch auf ein gegenwärtiges Überangebot an Kongressen, Seminaren und Tagungen in Berlin zurückzuführen ist (so tagte etwa parallel der außerordentliche Parteitag der Linkspartei.PDS in der Stadt). Aber auch die viel zu spät und dann unzureichend bekannt gemachte Einladung trug dazu bei. Die Veranstaltung sollte daher eher als Beginn einer längst überfälligen Debatte angesehen werden, die in geeigneter Weise fortzusetzen ist.