Intellektuelle im Neoliberalismus

Der Intellektuelle der sozialen Frage

Juni 2007

„Heute besteht die Tendenz, jeden ‚zweckfreien‘ (nicht unmittelbar zweckgebundenen) und ‚bildenden‘ Schultyp abzuschaffen oder nur ein Exemplar davon zu erhalten, beschränkt auf eine kleine Elite von Herren und Damen, die nicht darauf bedacht sein müssen, sich auf eine berufliche Zukunft vorzubereiten, und immer mehr die spezialisierten Berufsschulen zu verbreiten, in denen das Schicksal des Schülers und seine künftige Tätigkeit von vorneherein feststehen. Die Krise wird eine Lösung haben, die vernünftigerweise auf folgender Linie liegen müsste: zu Beginn allgemeinbildende, humanistische, bildende Einheitsschule, welche die Entwicklung der Fähigkeit zur manuellen (technischen, industriellen) Arbeit und die Entwicklung der Fähigkeiten zur intellektuellen Arbeit in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander bringt. Von diesem Typ der Einheitsschule wechselt man, nach wiederholten Erfahrungen mit beruflicher Orientierung, in eine der spezialisierten Schulen oder in die produktive Arbeit.“ (Gramsci 1996: 1514)

„Heute sind die Verhältnisse klar: die Industrie will die Universitäten unter ihre Kontrolle bringen, um sie zu zwingen, den alten, überholten Humanismus aufzugeben und ihn durch Spezialfächer zu ersetzen, die den Betrieben Umfragespezialisten, höhere Angestellte, Werbefachleute etc. liefern sollen.“ (Sartre 1995: 99f.)

Liest man diese Beschreibungen des „heutigen“ Trends ohne zu wissen, dass sie von Gramsci und von Sartre stammen, so kann man sie beinahe für Beiträge zur aktuellen Bildungsdebatte halten. Die Phrasen, die dem Schulsystem in erster Linie die Funktion zuschreiben, für den Beruf zu qualifizieren, sind ebenso allgegenwärtig wie jene, die die Universitäten in einen „Exzellenzwettbewerb“ setzen wollen, um das Quantum für Kapitalinteressen verwertbarer Forschungsergebnisse zu erhöhen. Die historischen Kontexte, in denen die Texte Gramscis und Sartres in der Früh- und Spätphase des Fordismus entstanden sind, unterscheiden sich deutlich vom gegenwärtigen Bildungsum- und -abbau unter „postfordistisch“ neoliberalen Vorzeichen. Ihr grundlegender Anspruch die Frage nach dem gesellschaftlichen Charakter des Intellektuellen so zu stellen, dass einerseits – deskriptiv – der gesellschaftliche Charakter der Institutionen, in denen er sich bewegt analysiert wird und anderseits mit der Analyse die Forderung verbunden wird, sich in diesen Institutionen und damit in der Gesellschaft zu definieren, muss auch heute der Anspruch jeder Intellektuellentheorie sein.

Gramsci und Sartre – Intellektualität und Demokratie

Das Gramsci-Zitat stammt aus dem zwölften Gefängnisheft von 1932, in dem er „Aufzeichnungen und verstreute Notizen für eine Gruppe von Aufsätzen über die Geschichte der Intellektuellen“ bündelt. Der unmittelbare Bezugspunkt seiner Forderung nach einer humanistischen Einheitsschule ist die „riforma Gentile“, jene faschistische Schulreform in Italien, die ein breites Spektrum unmittelbar berufsbezogener Schulen etablierte: „Der paradoxeste Aspekt dabei ist, daß dieser neue Typ Schule als demokratisch erscheint und verkündet wird, während sie statt dessen nicht nur dazu bestimmt ist, die sozialen Unterschiede zu verewigen, sondern sie in chinesischen Formen erstarren zu lassen.“ (Gramsci 1996: 1528)

Gegen einen Schein von Demokratisierung, den Gramsci darin ausmacht, dass die faschistische Bildungsreform bestimmte individuelle Aufstiegsmöglichkeiten verspricht, formuliert er einen anspruchsvollen Demokratiebegriff: „[D]ie demokratische Tendenz kann eigentlich nicht nur bedeuten, daß ein Handlanger Facharbeiter wird, sondern daß jeder ‚Staatsbürger‘ ‚Regierender‘ werden kann und daß die Gesellschaft ihn, sei es auch nur ‚abstrakt‘, in die allgemeine Lage versetzt, es werden zu können; die politische Demokratie neigt dazu, Regierende und Regierte zusammenfallen zu lassen [...], indem sie jedem Regierten das kostenlose Erlernen der Fähigkeit und der zu diesem Zweck erforderlichen allgemeinen technischen Qualifikation garantiert.“ (ebd: 1528)

Das Sartrezitat hingegen stammt aus seinem „Plädoyer für die Intellektuellen“, einem Vortrag, den er 1965 in Tokio hielt. Die alte Universitätsidee hatte sich bereits verbraucht und die Studentenbewegung war schon im Entstehen. Sartres Text steht folglich am Beginn einer Entwicklung, der zunächst Aufbruch zu einer erneuerten kritischen Intelligenz zu sein schien und auf den Abbau von Bildungsprivilegien und die Öffnung der Universitäten drängte, sich jedoch schon konfrontiert sah mit einer kapitalkonformen Öffnungsdynamik, die zwar ebenfalls die alte Universitätsidee begraben wollte, dies jedoch in erster Linie aufgrund des wachsenden Bedarfs qualifizierter, wissenschaftlich ausgebildeter Fachkräfte, die Sartre „Techniker des praktischen Wissens“ nennt: „Die Beschäftigung als zu besetzende Stelle und zu spielende Rolle, bestimmt a priori die Zukunft eines abstrakten aber erwarteten Menschen: soundso viele Ärzte- und Lehrerstellen etc. für das Jahr 1975 implizieren für eine ganze Kategorie von Heranwachsenden einerseits eine Strukturierung des Feldes des Möglichen, die aufzunehmenden Studien, und anderseits ein Schicksal: tatsächlich erwartet sie häufig, noch ehe sie geboren sind, sowohl die Stelle wie auch ihr gesellschaftliches Sein: dieses ist nämlich nichts anderes als die Einheit aller Funktionen, die sie tagtäglich zu erfüllen haben werden. So bestimmt die herrschende Klasse die Zahl der Techniker des praktischen Wissens gemäß dem Profit, ihrem eigentlichen Zweck.“ (Sartre 1995: 99)

Zwischen dem proklamierten Humanismus und Universalismus des bürgerlichen Denkens und insbesondere der universellen argumentativen Techniken in der Forschung, denen die künftigen „Techniker des praktischen Wissens“ begegnen und der ihnen zugedachten Funktion als „Agenten eines ideologischen Partikularismus, der teils offen bekundet (wie der aggressive Nationalismus der nationalsozialistischen Denker), teils verschleiert wird (wie der liberale Humanismus, das heißt die falsche Universalität)“, besteht nach Sartre ein Widerspruch, der die „Techniker des praktischen Wissens“ in seiner Terminologie zu „potentiellen Intellektuellen“ macht. Auch bei Sartre wird in diesem Zusammenhang ein konsequenter Begriff von Demokratie entwickelt, der den Intellektuellen eine Lösung des ihnen zugemuteten Widerspruchs bietet: „Aufgabe des Intellektuellen ist es seinen Widerspruch für alle zu leben und ihn durch Radikalität (das heißt durch die Anwendungen der exakten Techniken auf die Lügen und Illusionen) für alle zu überwinden.. Sein Widerspruch selbst ist es, der ihn zum Hüter der Demokratie macht: er stellt den abstrakten Charakter der Rechte der bürgerlichen ‚Demokratie‘ in Frage, nicht um sie abzuschaffen., sondern weil er sie durch die konkreten Rechte der sozialistischen Demokratie ergänzen und dabei in jeder Demokratie die funktionale Wahrheit der Freiheit will.“ (Sartre 1995: 130)[1]

Bildung im System der Prekarisierung

Im Zeitalter einer Prekarisierung, die – wie Klaus Dörre betont – „kein Phänomen an der Rändern der Arbeitsgesellschaft“ ist, sondern „eine allgemeine subjektive Unsicherheit, die bis tief hinein in die Lebenslagen der formal Integrierten reicht“ (Dörre 2005: 12) und nicht zuletzt viele kreative und schöpferische Arbeitsverhältnisse längst erfasst, scheint die Problemlage eine durchaus andere zu sein als diejenige, die Gramsci und Sartre im Blick hatten: Nicht mehr das von vorneherein Verplant-sein einer Biographie wird nun zum Hauptproblem, sondern die Angst gar nicht mehr gebraucht zu werden. Nicht das „Erstarren“ der Gesellschaft „in chinesischen Formen“ wird zur Hauptangst der Betroffenen, sondern ein gewaltiger Konkurrenzdruck, dessen Folge eine zunehmende Durchlässigkeit für den gesellschaftlichen Abstieg ist. Wenn die Beschreibung des industriellen Zugriffs auf die „Ressource“ Wissen und die zunehmende Berufsorientierung selbst der frühesten Bildungssysteme dennoch aktuell anmutet, so deshalb, weil diese Verschärfung der Situation den grundsätzlichen Trend der Kapitalisierung von Bildungsprozessen auf – formaler wie inhaltlicher Ebene – umso deutlicher hervortreten lässt. Die PISA-Studie und jüngst der Muñoz-Bericht haben der Bundesrepublik Deutschland bescheinigt, ein Schulsystem zu haben, das Kinder aus migrantischen und armen Familien strukturell benachteiligt. Zudem wird mit der Einführung von Studiengebühren der Zugang zu Hochschulen erneut sozial privilegiert. Die Rückkehr der sozialen Frage hat längst die Bildungseinrichtungen erreicht. Schon deshalb muss sich eine erneuerte Intellektuellentheorie mit ihr beschäftigen. Es reicht jedoch nicht aus, den Blick lediglich auf Zugangsbeschränkungen zu richten. Gleichzeitig ist eine Bildungsreform im Gang, die das Schulwesen auch inhaltlich tangiert: Die Erfahrung des Scheiterns wird in Schulen und Hochschulen durch die Reduktion auf abprüfbares Wissen potenziert, und die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems mit aller Gewalt verteidigt. An den Hochschulen sind ähnliche Prozesse zu beobachten: Im Kontext der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen im Kontext des so genannten Bologna-Prozesses ist festzuhalten, dass auch die Studiengänge selbst immer enger gefasst werden.

Die reale oder scheinbare Berufsorientierung des Hochschulstudiums kombiniert mit der Durchkapitalisierung der Effizienzkriterien für Forschung und Lehre hat unmittelbar die Folge, dass für Studierende und Lehrende alle Muße aus der Hochschule vertrieben wird. Der Philosoph Peter Bieri hat es in einem Interview wie folgt formuliert: „Wenn ich mir ansehe, wer im Fernsehen oder in den Zeitungen die Helden sind, so sehe ich nur Fassaden ohne etwas dahinter. Das Gleiche lässt sich an den Universitäten beobachten, die zurzeit durch die Perspektive der Unternehmensberatung kaputtgemacht werden. Wir bekommen ständig Fragebögen: Wie viele Gastprofessoren haben Sie wahrgenommen? Wie viele Drittmittel haben Sie eingeworben? Eine Diktatur der Geschäftigkeit. All diese Dinge haben mit der authentischen Motivation eines Wissenschaftlers gar nichts zu tun.“ (Bieri 2005: 26) Auch wenn Bieri nicht so weit geht wie Sartre: Der Widerspruch zwischen der „authentischen Motivation eines Wissenschaftlers“ und seiner beruflichen Realität entspricht durchaus dem zwischen der Universalität einer Forschungsmethode und ihrer Unterordnung unter die Interessen der Kapitalverwertung.

Bildungssysteme zeichneten sich stets dadurch aus, dass in ihnen „der Ernst des Lebens“ künstlich produziert und erprobt wurde. Nur so konnten sie ihre disziplinierende, und damit erzieherische, Wirkung entfalten. Auch deshalb fungieren sie als Spiegel der Gesellschaft. Die fordistische Schule hatte in gewisser Weise die Aufgabe, „Affen zu dressieren“. Die „postfordistische“ Schule hat die Aufgabe, künftige Ausgegrenzte, Leiharbeiter und eventuelle Facharbeiter gleichermaßen zu produzieren, wie künftige Professoren, ewige Praktikanten und „Manager“ ihrer eigenen Arbeitskraft. Schon schulische Erfolge und Mißerfolge sind folglich dazu angetan, jene Angst zu produzieren, die unter den Bedingungen prekärer Beschäftigungsverhältnisse als „Verallgemeinerung sozialer Unsicherheit“ den „disziplinierenden Effekt“ hat, sich den Erfordernissen der Kapitalverwertung so gut anzupassen wie irgend möglich.

Intellektuelle und Intellektualität im Labyrinth
der Institutionen

Die Gemeinsamkeit der Intellektuellentheorien von Gramsci und Sartre besteht darin, dass beide auf die Rolle von Institutionen bei der systematischen Ausbildung von Intellektualität verweisen. Sartre bestimmt jedoch den Begriff des Intellektuellen in erster Linie normativ als den Menschen, „der sich bewußt wird, daß es in ihm und in der Gesellschaft einen Gegensatz gibt, zwischen der Suche nach der praktischen Wahrheit (mit allen Normen, die sie impliziert) und der herrschenden Ideologie (mit ihrem System traditioneller Werte).“ (Sartre 1995: 107) Gramsci hingegen fasst den Begriff weiter und bestimmt ihn im wesentlichen als deskriptive Kategorie: „Alle Menschen sind Intellektuelle, könnte man daher sagen; aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen.“ (Gramsci 1996: 1500)

Der Intellektuellenbegriff Gramscis hat gegenüber dem Begriff Sartres den Vorteil, dass er nicht nur einen bestimmten historischen Typus von geistigem Engagement fassen kann, sondern allgemeiner als Funktion „kreativer geistiger Arbeit“ in gesellschaftlichen Zusammenhängen verstanden werden muss. Entscheidend für die Abgrenzung des Begriffs ist, dass er zwar durchaus jede Form der Kopfarbeit thematisiert, sie aber nur insoweit thematisieren kann als ihr eine politische Funktion in der Aufrechterhaltung oder Veränderung hegemonialer Verhältnisse zukommt. Intellektualität ist somit jener Aspekt der Kopfarbeit, der einen Beitrag leistet, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu produzieren, zu reproduzieren und umzustürzen. Damit handelt es sich um einen genuin politischen Begriff.

Der Diskussion über die Funktion und den Charakter intellektueller Arbeit und ihrer institutionellen Vermittlung kommt eine Schlüsselfunktion für die Kritik der Gesellschaft und ihrer kulturellen Praxen zu. Gerade die funktionale Rolle, die Bildungseinrichtungen in einem auf Kapitalverwertung ausgerichteten System spielen, macht es nötig, die Frage ihrer konkreten Gestaltung nicht als ein partikulares „Politikfeld“ zu betrachten, sondern die Kritik an ihnen als Teil einer umfassenden Kritik am Prinzip der Kapitalverwertung und der jeweiligen diesem Prinzip dienlichen Kultur zu begreifen. Wo über Bildungssysteme geredet wird, wird über die spezifische Funktion und den Charakter von Intellektualität in einer Gesellschaft geredet. Als Bildungssysteme im weiteren Sinn wirken in diesem Zusammenhang nicht nur die „ideologischen Staatsapparate“ (Althusser), sondern auch vielfältige private Institutionen wie Think Tanks, Selbsterfahrungs- und Motivationskurse aber auch ein weitverzweigtes System von Medien – etwa Zeitungen, Radio- und Fernsehprogramme und Angebote im Internet.

Wo immer Welterklärungen angeboten und Informationen argumentativ „übermittelt“ werden, befinden sie sich in der Gefahr, dass partikulare Zwecke in Widerspruch geraten können zu universellen Ansprüchen, die im Verkehr der Menschen stets unterstellt sein müssen. Schon jede Form von Argumentation erhebt den universellen Wahrheitsanspruch des Arguments, der im Widerspruch stehen kann etwa zu ihrer propagandistischen Funktionalisierung als herrschende Meinung oder Meinung der Herrschenden.

Diese Widersprüche machen das gesamte „intellektuelle Feld“ (Bourdieu) – einschließlich des Schul- und Hochschulsystems – zu einem Kampfplatz nicht nur um hegemoniale und gegenhegemoniale Deutungsmuster, sondern auch um den Bildungsbegriff und die ihm entsprechenden intellektuellen Haltungen selbst. Dass Gramsci und Sartre in ihren Untersuchungen nicht bei einer gegenwärtigen Bestandsaufnahme stehen bleiben, sondern die Theorie der Intellektualität und des Intellektuellen als eine historische Theorie konzipieren, hat seinen Grund darin, dass die Versuche diese Widersprüche zu lösen, Dynamiken hervorbringen, die sowohl den Typus des Intellektuellen als auch die Institutionen, in denen er sich bewegt, zu ständiger Weiterentwicklung zwingen. Diese Dynamiken wirkten in den sozialen Kämpfen ihrer Zeit zudem als Triebkraft und Bestandteil größerer und kleinerer gesellschaftlicher Transformationen, Umbrüche und Revolutionen. Deshalb gilt auch für die Intellektuellendiskussion der Satz, den Bertolt Brecht seinem „Dreigroschenprozess“ voranstellt: „Die Widersprüche sind unsere Hoffnungen!“ (BGW 18: 139)

Der moderne Intellektuelle und die Aufklärung

Der Begriff des Intellektuellen ist keine 120 Jahre alt. Geprägt wurde er in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts im Kontext des erbitterten Streits um den Prozess gegen den Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus als Bezeichnung für die Gruppe prominenter Journalisten und Schriftsteller, die – wie Emile Zolá in seinem berühmt gewordenen Artikel „J’accuse“ („Ich klage an“) – Partei für Dreyfus ergriffen und ein Wiederaufnahmeverfahren verlangten. Das, was der Begriff als Schimpfwort oder Selbstbezeichnung benannte, freilich ist älter als die Dreyfusaffäre und berührt ein grundlegendes Element des Emanzipationsbegriffs, dessen Wurzeln in die bürgerliche Aufklärung zurückreichen und der im Selbstverständnis des Sozialismus und Kommunismus vom Kopf auf die Füße gestellt wurde.

Die geistige Haltung des modernen Intellektuellen wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert von Kant auf den Begriff des sapere aude gebracht, den „Mut sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Kant 1974: 9). Insbesondere mit zwei grundlegend revolutionären Einsichten verbindet sich dieser Initiationsakt des modernen Intellektuellen: mit dem Pathos der „nun gereiften Philosophenvernunft“, vor deren „Richterstuhl“[2] (vgl. MEW 19: 206) sich alles zu rechtfertigen habe und mit der Lehre von der Autonomie, die den „Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ (Kant 1974: 9) als universales Prinzip formulierte. In ihrem Anspruch nach unbedingter Geltung und Freiheit („Spontaneität“) zieht die Kantsche Formulierung die Konsequenz aus jenem damals bereits mehr als zweihundertjährigen Kulturkampf zwischen dem aufstrebendem Bürgertum und den Partikularismen der feudalen Herrschaft und des klerikalen Deutungsmonopols: „Die ‚Philosophen‘ erscheinen also als organische Intellektuelle in dem Sinn, den Gramsci diesem Wort verleiht [...]. [V]or allem daher, daß das Vorgehen der praktischen wissenschaftlichen Forschung und jenes der aufsteigenden Klasse einander entsprechen: Widerspruchsgeist, Ablehnung von Autorität und Behinderung des freien Handels, Universalität der wissenschaftlichen Gesetze, Universalität des Menschen im Gegensatz zum feudalen Partikularismus; all diese Werte und Gedanken – letztlich laufen sie auf zwei Formeln hinaus: jeder Mensch ist Bürger, jeder Bürger ist Mensch – tragen einen Namen: bürgerlicher Humanismus.“ (Sartre 1995: 98)

Der moderne Intellektuelle ist ein genuines Produkt des Bürgertums und seines Aufstiegs. Bekanntlich identifiziert der Begriff des Bürgers im Deutschen zwei – im französischen auch sprachlich – unterscheidbare Funktionen, deren Verhältnis von Marx als das zwischen Basis und Überbau, von kapitalistischer Produktionsweise und bürgerlicher Gesellschaft rekonstruiert wurde. „Bürger“ im Sinne der Basis ist der Bourgeois. „Bürger“ im emphatischen Sinn der Anredeform während der französischen Revolution ist der Citoyen, der an der gesellschaftlichen Realität partizipiert und seinen Anspruch auf Partizipation einfordert und wenn nötig erkämpft. Der moderne Intellektuelle ist Citoyen par excellance: Er steht für die Aufhebung eines Dualismus, der das Selbstverständnis vorbürgerlicher Vergesellschaftung geprägt hatte: Vita activa und vita contemplativa fallen bei ihm in eins. Wie Jürgen Kuczynski betont, entwickelte sich dieser Typus in den aufgeklärten Kaffeehäusern, Salons und Akademien des 18. Jahrhunderts (vgl. Kuczynski 1987: 271). Kuczynskis Hinweis ist deshalb entscheidend, weil er ein Indiz dafür gibt, dass sich die Entstehung des modernen Intellektuellen in klar benennbaren Institutionen vollzogen hat. Was in privaten Diskussionszirkeln, einer avantgardistischen Keimform bürgerlicher Öffentlichkeit, beginnt, strebt als große Bildungsbewegung, als Aufklärung, zur Verkündigung universaler Rechte und der Herrschaft der Vernunft.

Was für die gesellschaftliche Funktion des „Bourgeois“ die Erfindung der Dampfmaschine war, war für die Funktion des Intellektuellen als Antizipation des allgemeinen Citoyen die Erfindung des Buchdrucks. Mit ihm brach das Reich der Bildung aus den Klöstern aus. Die technische Reproduzierbarkeit der Textproduktion ermöglichte eine fortschreitende Verbreitung der gesellschaftlichen Literalität.[3] Mit der Möglichkeit der mechanischen Textproduktion veränderten sich nicht allein die Institutionen des Bildungssystems: Was sich hier herausbildete, war eine bislang in der Menschheitsgeschichte nicht gekannte Form der Öffentlichkeit. Die Zeitung ersetzte das, was in der Antike das Forum und im Mittelalter der Marktplatz gewesen ist: Sie wurde zum Ort öffentlicher Debatte und damit zum Austragungsort von Machtkämpfen.[4]

Auch im sukzessiven Sinken des Analphabetismus seit der Erfindung des Buchdrucks wird die ungeheure Innovationskraft des Bürgertums greifbar, die den modernen Intellektuellen hervorgebracht und den gesamtgesellschaftlichen Charakter der Intellektualität revolutioniert hat. Die Geschichte des modernen Intellektuellen als Antizipation des allgemeinen Citoyen und das Pathos allgemeiner Vernunft, die den Aufstieg des Bürgertums begleitete, ist somit tatsächlich die Geschichte eines unwahrscheinlichen Erfolgs.

Der moderne Intellektuelle und sein Widerspruch

Gleichzeitig ist die Geschichte des modernen Intellektuellen jedoch auch die Geschichte eines gescheiterten Anspruchs. Der große Widerspruch, der den modernen Intellektuellen erfasst, vollzieht sich an der Grenze von Basis und Überbau und findet seinen Ausdruck darin, dass die Funktion des Bourgeois und die des Citoyen sich antagonistisch gegeneinander stellen: „Wenn die Philosophen die Freiheit, das Recht auf freie Gewissenserforschung fordern, verlangen sie damit nur die zur praktischen Forschung (die sie gleichzeitig betreiben) notwendige Unabhängigkeit des Denkens, für die bürgerliche Klasse aber meint diese Forderung die Abschaffung der feudalen Handelsbeschränkungen, den Liberalismus oder den freien Wirtschaftswettbewerb. Ebenso bedeutet der Individualismus für die bürgerlichen Eigentümer die Bestätigung des Realbesitzes, der unmittelbaren Beziehung zwischen Besitzer und Besitz gegenüber dem feudalen Eigentum, das vor allem eine Beziehung zwischen Menschen ist.“ (Sartre 1995: 97)

An dieser Stelle wird alsbald der Widerspruch hervortreten, der die Funktionen von Citoyen und Bourgeois zum Gegensatz macht und den Intellektuellen der Arbeiterklasse die Weltbühne betreten lässt. Entscheidend für die Funktion des modernen Intellektuellen der Aufklärung ist, dass der Antagonismus ihn selbst und den durch ihn repräsentierten Begriff von Emanzipation und Autonomie erfasst. Letztlich scheitert die bürgerliche Aufklärung und der in ihr zum aktivistischen Programm gewordene Humanismus an jener für das Bürgertum konstitutiven Beschränktheit, die Autonomie nur politisch-geistig denken kann und somit die leibhaftige Gesellschaftlichkeit des bedürftigen und sinnlichen Menschen ignoriert. Das Versäumnis die materiellen Bedingungen des Menschseins zu reflektieren, wurde insbesondere in der postjakobinischen Welt des frühen neunzehnten Jahrhunderts offenbar, als sich entgegen dem einstigen Glücksversprechen etwa eines Adam Smith zeigte, dass die unsichtbare Hand der Marktgesetze vielleicht in der Lage war, den Wohlstand einiger Nationen zu mehren, dafür aber die in ihnen lebenden subalternen Klassen in umso größere Armut stürzte. Spätestens mit den pessimistischen Visionen der Malthus und Ricardo zerbricht die große Vision, wonach der Handelsgeist die Welt befrieden (Kant) und das allgemeine Wohl sich verwirklichen würde. Die „Emanzipation“ des Bourgeois vom Citoyen besteht nicht zuletzt darin, die Druckerpresse wie die Dampfmaschine zu zwingen, sich einem gesellschaftlichen Leitprinzip zu unterwerfen, dessen kategorischer Imperativ nicht „sapere aude!“ lautet, sondern G-W-G‘.[5]

Diese „Kolonisierung“ der praktischen (und geistigen) Lebenswelt durch das kapitalistische Verwertungsparadigma stürzte den modernen Intellektuellen in eine tiefe Krise, die insofern selbstverschuldet war, als sie die Folge eine der Reduktionen war, die das bürgerliche Denken ausgezeichnet hatten: „Welches sind die ‚äußersten‘ Grenzen der Bedeutung von ‚Intellektueller‘?“ fragt Gramsci, und er antwortet: „Der verbreitetste methodische Irrtum scheint mir der, daß dieses Unterscheidungskriterium in der Eigenart der intellektuellen Tätigkeiten gesucht worden ist, statt im Ensemble des Systems von Verhältnissen, in dem sich jene (und folglich die Gruppen, die sie personifizieren) im allgemeinen Zusammenhang der gesellschaftlichen Verhältnisse befinden.“ (Gramsci 1996: 1499)

Die Blindheit gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen Intellektualität ausgebildet wird, drohte nun zur Perversion der Stellung des Intellektuellen zu den (noch) in Unmündigkeit Befangenen zu werden. Die Funktion, die den Berufsintellektuellen ausmacht, muss, um überhaupt fungieren zu können, die Anfälligkeit derer, auf die sie Einfluss ausüben will, für argumentative Zusammenhänge voraussetzen. Der Umgang der Intellektuellen mit dieser „Anfälligkeit“ wird zum wesentlichen Unterscheidungsmoment zwischen einem progressiven und einem regressiven Einsatz von Intellektualität. Anders formuliert: Bildungsprozesse sind im wesentlichen Argumentationsprozesse, die zugleich dramaturgische Methoden ausbilden, die man – je nach Kontext – Rhetorik oder Didaktik nennt.

Jede Argumentation, ob rhetorisch oder didaktisch, zielt auf Einsicht desjenigen, dem sie vorgetragen wird. Rhetorische Argumentation stellt – mit überlegtem Aufbau – eine These oder ein Bündel von Thesen zur Diskussion, richtet sich folglich an ein Auditorium, von dem sie voraussetzt, dass es der argumentativen Kette folgen kann. Didaktische Argumentation versteht sich als die Hinführung zum Folgen-können. Sie geht folglich von einem bestehenden Unterschied aus, den es im Bildungsprozess zu überwinden gilt. Damit fungiert sie im klassischen Sinn avantgardistisch, als die spielerische Vorwegnahme argumentativer Praxis und rezeptiver Fähigkeit, die auf argumentativen Austausch auf Augenhöhe zielt. Die Haltung, die die Didaktik daher einzunehmen befähigen sollte, ist eine kritische.

Gleichzeitig beinhaltet die Dramaturgie der Argumentation jedoch stets die Gefahr, dass sie nicht Einsicht – also begründete Zustimmung, die immer auch die Möglichkeit begründeter Ablehnung implizieren kann – hervorruft, sondern einfachen Glauben. Rhetorik und Didaktik können dazu neigen, dass die Kohärenz ihrer Methodik die Inkohärenz des Inhalts verdeckt. In diesem Fall wird sie zu bloßer Propaganda, die nicht mehr auf aktive Einsicht, sondern auf bloße Affirmation zielt und bestehende Wissens- und Funktionsunterschiede nicht in argumentativer Praxis überwinden, sondern durch Überwältigung verfestigen soll. Eine solcherart scheinkohärente Rhetorik und Didaktik fungiert elitenbildend und bestimmt sich durch dauerhaften Ausschluss. Soziale Auslesemechanismen und die Reduktion von Bildungs- auf Prüfungsprozesse schafft somit den grundlegenden Glauben, dass es immer Gewinner und Verlierer geben wird. Gleichzeitig erscheint das systemisch erzeugte Schema von Sieg und Niederlage als Sache des Siegers, der aufgrund eigener Qualifikation gewinnt, oder des Verlierers, der versagt. So wird der Bildungsprozess als disziplinierender Vorgang erlebt, der befähigt, sich auf die Unbill alles bestimmender Konkurrenzverhältnisse einzustellen.

Das avantgardistische Grundverhältnis des Berufsintellektuellen zur abstrakten Intelligibilität der „unaufgeklärten“ Massen war den Philosophen des 18. Jahrhunderts nicht fremd, wie der leidenschaftliche Appell des Kantschen sapere aude zeigt. Die Verengung auf intellektuelle Leistungen des Geistes und die Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sich Intellektuelle bewegten, hatte jedoch zur Folge, dass dem abstrakten, begrifflichen Avantgardismus in dem Moment, als das Bürgertum sich durchgesetzt hatte, kein politischer Universalismus mehr entsprach. An diesem Punkt glitt der einst so emanzipierte idealistische Subjektivismus in die Funktion propagandistischer Scheinkohärenz ab, dessen emphatischer Begriff von Freiheit sich in der Realität längst als doppelt freie Lohnarbeit enttarnt hatte.

Der Intellektuelle der Arbeiterklasse

Der Intellektuelle der Arbeiterklasse als erste konsequente Erscheinungsform eines Intellektuellen der sozialen Frage, der das Kantsche sapere aude aus seiner bürgerlichen Beschränktheit gelöst hat, ist ein Produkt der Widersprüche und Verwerfungen, die die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hat. Seine geistige Haltung ist ein sozialer Materialismus, der als Antwort auf das Dilemma der Aufklärung konzipiert ist. Die Erkenntnis der Bedürftigkeit, die schon im frühen 19. Jahrhundert insbesondere bei den Frühsozialisten ins Zentrum gestellt und im „Hessischen Landboten“ von Büchner, obwohl selbst noch im Kampf gegen feudalen Partikularismus stehend, auf die Formel „Friede den Hütten und Krieg den Palästen!“ (Büchner 1988: 41)[6] gebracht wurde, hat Marx bereits in den Pariser Manuskripte systematisch konkretisiert: „Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. [...] Daß der Mensch ein leibliches, naturkräftiges, lebendiges, wirkliches, sinnliches gegenständliches Wesen ist, heißt, daß er wirkliche, sinnliche Gegenstände zum Gegenstand seines Wesens, seiner Lebensäußerung hat oder daß er nur an wirklichen, sinnlichen Gegenständen sein Leben äußern kann. [...] Der Hunger ist ein natürliches Bedürfnis; er bedarf also einer Natur außer sich, eines Gegenstandes außer sich, um sich zu befriedigen, um sich zu stillen. Der Hunger ist das gestandne Bedürfnis meines Leibes nach einem außer ihm seienden zu seiner Integrierung und Lebensäußerung unentbehrlichen Gegenstande. [...] Aber der Mensch ist nicht nur Naturwesen, sondern er ist menschliches Naturwesen; d.h. für sich selbst seiendes Wesen, darum Gattungswesen, als welches er sich sowohl in seinem Sein als in seinem Wissen bestätigen und betätigen muß. [...] Und wie alles natürliche entstehn muß, so hat auch der Mensch seinen Entstehungsakt, die Geschichte, die aber für ihn eine gewußte und darum als Entstehungsakt mit Bewußtsein sich aufhebender Entstehungsakt ist. Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen.“ (MEW Ergbd.1: 578f.) Dieser Grundgedanke, der die Leiblichkeit des Menschen und damit seine Bedürftigkeit ins Kalkül einbezieht und zudem Tätigkeit als eine soziale Praxis des Entäußerns und Produzierens enthüllt und genau daraus die Kategorie der Geschichtlichkeit bestimmt, ist es, der den Intellektuellen der Arbeiterklasse als bestimmte Negation des bürgerlichen Aufklärers auszeichnet.[7] Denn so wie der moderne Intellektuelle genuines Produkt des Bürgertums und seines Aufstiegs war, konstituierte sich der neue Intellektuellentypus als das genuine Produkt der Entstehung des Proletariats und seiner Klassenbewegungen.

Seine Innovation besteht darin, dass er die Lösung der sozialen Frage als die Bedingung entdeckte, jenen Universalismus einer Assoziation zu verwirklichen, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (MEW 4: 482) Indem er die Herrschaft des Bürgertums als die Herrschaft des fetischistischen Kapitalverwertungsprinzips enttarnte und sein Selbstbild, die Herrschaft der Vernunft erreicht zu haben, ad absurdum führte, transformierte der soziale Materialismus das nun so bescheiden wirkende sapere aude, in den „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (MEW 1: 385) Ganz in diesem Sinne wurde auch der Avantgardismus, der bereits den Intellektuellen der Aufklärung ausgezeichnet hatte, in doppelter Hinsicht reformuliert:

Erstens: Indem der Intellektuelle der Arbeiterklasse im Proletariat seinen Adressaten ausmachte, begriff er radikaler als einst der Aufklärungsphilosoph sein Involviertsein in die sozialen Kämpfe seiner Zeit. Anders als das sapere aude, das seinen Universalismus dadurch zu beweisen suchte, dass es sich der Bestimmung eines Adressaten enthielt und schlechterdings an jeden zu richten schien, wandte sich der Intellektuelle der Arbeiterklasse explizit jenen zu, die ihre Reproduktion durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft organisieren mussten. Diesem expliziten Bekenntnis zur Arbeiterklasse und ihrer sozialen Bewegung jedoch lag die universalistische Gewissheit zugrunde, dass es jene Klasse ist, deren historische Mission – avantgardistisch – die Befreiung der Menschheit als Ganzer sei. Dem neuen kategorischen Imperativ entsprach somit die politische Forderung des „Kommunistischen Manifests“: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ (MEW 4: 493)

Dieser Forderung nach politischer Organisation freilich entsprach zweites die Notwendigkeit auch die andere – didaktische und eigentlich intellektuelle – Dimension des Avantgardebegriffs zu reformulieren. Die soziale Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts erhielt ihre Würde nicht zuletzt auch aufgrund ihres universal konzipierten Bildungsanspruchs, den sie, wenn man sie ließ, sowohl in traditionellen Institutionen des Bildungswesens vertrat, wie in einem breiten Spektrum eigener Institute und Bildungseinrichtungen: von Lesekreisen in Betrieben bis zur MASCH in den zwanziger Jahren, vom Theater eines Piscator und den ungezählten Agitprop-Gruppen der Weimarer Republik bis zum Berliner Ensemble, vom Bitterfelder Weg und den Kulturhäusern der DDR bis zur Arbeiter-und-Bauern-Fakultät und der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit in der BRD. Die Arbeiterbewegung war Bildungs- und Kulturbewegung für das Proletariat und wo möglich auch über das soziale Proletariat hinaus. Die Arbeiterklasse sollte nicht durch mobilisierungskräftige „Mythen“ (Sorel), sondern durch praktische Erkenntnisprozesse in die Lage versetzt werden, ihre Bewegung als großes menschheitliches Befreiungsprojekt zu begreifen. Somit zeichnet sich der Intellektuelle der Arbeiterklasse durch eine doppelte Aufgabe aus: Er hat zum einen (normativ) den Anspruch der Befreiung in der Klasse zu verbreiten, zu unterstützen und ihm zu politischer Artikulation zu verhelfen. Dafür aber ist notwendige Bedingung zum anderen (deskriptiv), die reale Klassenlage zu untersuchen und aus ihr heraus Strategien und Taktiken zu entwickeln, die freilich ihre Legitimität stets daraus schöpfen müssen, Bedingungen für universale Autonomie zu schaffen.

Insbesondere Gramsci reflektiert im Zusammenhang mit dieser anders als avantgardistisch gar nicht fassbaren Situation des Intellektuellen der Arbeiterklasse auch die Funktion der (Avantgarde)Partei: „[F]ür einige gesellschaftliche Gruppen ist die Partei nichts anderes als ihre Art und Weise die eigene Kategorie von organischen Intellektuellen auszuformen, die sich auf diese Weise direkt auf dem politischen und philosophischen Gebiet bilden und sich angesichts der allgemeinen Merkmale und der Bildungs-, Lebens- und Entwicklungsbedingungen der gegebenen gesellschaftlichen Gruppe auch nur hier bilden können und nicht etwa im Bereich der Produktionstechnik.“ (Gramsci 1996: 1505)[8] Diese Betonung der Notwendigkeit, Angehörige der Klasse in den Institutionen ihrer Bewegung zu einem berufsintellektuellen Funktionariat auszubilden, macht das avantgardistische Prinzip deutlich, dem auch die Intellektuellen der Arbeiterklasse folgten. Zugleich ist genau hier die Stelle, an der die Widersprüche auftreten, die schließlich das Konzept eines Intellektuellen der Arbeiterklasse fragwürdig werden ließen.

Die „Neue Unübersichtlichkeit“
und der Intellektuelle der sozialen Frage heute

Das Scheitern des „realexistierenden Sozialismus“ und die Selbstneutralisierung der europäischen Sozialdemokratien markieren einen erneuten Wendepunkt in der Geschichte der menschheitlichen Emanzipation und damit notwendig auch in der Geschichte der Intellektualität. Anders als im Übergang vom feudal-klerikalen Partikularismus zur bürgerlichen Gesellschaft, die sich im Bereich der Intellektualität durch den emphatischen Autonomiebegriff der Aufklärung ausdrückte, aber auch anders als bei der Blamage des bürgerlichen Universalismus durch seine Unfähigkeit die soziale Frage und die gesellschaftliche Leibhaftigkeit des Menschen zu denken, handelt es sich heute jedoch nicht um eine umfassende Revolutionierung der Lebenswirklichkeit durch das Auftreten einer neuen Klasse.

Das Problem, das die Intellektuellentheorien des 19. und 20. Jahrhunderts angesichts der Niederlage ihrer politischen Organisationen und Bewegungen offenbarten, ist nicht so sehr prinzipieller als vielmehr empirischer Natur. Der materialistisch reformulierte Avantgardismus des neunzehnten und vor allem des zwanzigsten Jahrhunderts musste die Erfahrung machen, dass der Begriff von Klasse, den er investiert hatte, zu homogen gedacht war. Erlagen die materialistischen Intellektuellen des Manchester-Zeitalters der „gleichmacherischen“ Gewalt, mit der die jungen Industrien alle Besitzlosen in der Hitze der Dampfmaschinerie zu einem einheitlichen Proletariat zusammengeschweißt hatten, so verfingen sich diejenigen des zwanzigsten Jahrhunderts in der Illusion, die tayloristisch-fordistische Fließbandproduktion werde eine gleichermaßen homogenisierende Kollektivität herausbilden. Die Elektrifizierung schien nur noch der Ergänzung durch die Sowjetmacht zu bedürfen, um das Zeitalter einer befreiten Gesellschaft einzuläuten.

Insbesondere jedoch in der Periode des Fordismus offenbarte der Kapitalismus zugleich, wie integrationsfähig er war. Der demokratische Schein der „riforma Gentile“ und die „chinesischen Formen“, in denen sie laut Gramsci erstarrte, ging in den Nachkriegsjahren eine Allianz mit Henry Fords Parole ein, der zufolge Autos keine Autos kaufen. Das Proletariat schien zwar recht homogen, gleichzeitig jedoch waren zahlreiche Gruppen in ihm mit einem Standesbewusstsein ausgestattet, das dadurch befördert wurde, dass man ihnen den Verzicht auf Revolte mit einem sicheren Platz in der bürgerlichen Gesellschaft belohnte. So war die Situation als Sartre die Befreiung des Proletariats darin sah, es aus dem Würgegriff der nach Verwertungsmechanismen konditionierten „Verplanung“ zu lösen. Diese „Künstlerkritik“ (Boltanski/Ciapello) wurde alsbald vom abstrakten Individualismus neoliberaler Ideologen eingefangen und ihrerseits dem Verwertungsprinzip unterworfen. Dadurch verkam die Forderung nach Selbstbestimmung und Kreativität zu jener Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, die in soziologischen Untersuchungen der Gegenwart als „Prekarisierung“ analysiert wird. Von linksradikaler Seite wird inzwischen mitunter im „Prekariat“ ein neues avantgardistisches „Subjekt“ ausgemacht.

Diese allzu einfachen Antworten sind Ausdruck einer „neuen Unübersichtlichkeit“, die die Linke und namentlich ihre Intellektuellen in eine tiefe Krise gestürzt hat. Tatsächlich hat sich angesichts vielfältiger Klassenfragmentierungen, Widerspruchskomplexe und Konkurrenzverhältnisse die Notwendigkeit verschärft, dem doppelten Anspruch des sozialen Materialismus gerecht zu werden: Auch und gerade heute muss der Intellektuelle den allgemeinen Anspruch auf soziale Emanzipation verbinden mit dem genauen Blick auf die besondere Lage der Subalternen. Sein Avantgardismus erweist sich nun darin, dass er vorfindliche Organisationen, Bewegungen und Klassensegmente und in ihnen emanzipatorische Tendenzen und Absichten wahrnimmt und befördert. In diesem Kontext fungiert er zugleich als Agent einer allgemeinen Intellektualisierung, die er sowohl in den „ideologischen Staatsapparaten“ gegen neoliberale Verwertungsansprüche verteidigt, wie in eigenen Organisationen und Bildungsinstitutionen vorantreibt. Auch der Intellektuelle heute muss – in Tradition zu und in Auseinandersetzung mit den Intellektuellen der Arbeiterklasse des 19. und 20. Jahrhunderts – Intellektueller der sozialen Frage sein. Wo er den Gedanken politischer und materieller Emanzipation und die Suche nach dahingehenden transistorischen Tendenzen in der gegebenen Gesellschaft zugunsten scheinbar pragmatischer Anpassungen an fetischisierte Sachzwänge aufgibt, sich zum Propagandisten macht und als TUI (Tellektuell-In) zum „Kopflanger“ der herrschenden Klasse (Brecht) wird, hört er auf im strengen Sinn ein Intellektueller zu sein. Nach wie vor gilt Gramscis Anspruch, dass sich wirkliche Demokratie in der Neigung erweist, „‚Regierende‘ und ‚Regierte‘ zusammenfallen zu lassen“ (Gramsci 1996: 1528). Die dazu notwendige Denkweise in dafür geeigneten Institutionen zu befördern, ist der eigentliche Beruf des Intellektuellen der sozialen Frage.

Literatur:

Bieri, Peter (2005): Der Gebildete ist der Furchtlose; Interview in: Theater der Zeit, Juni 2005.

Dörre, Klaus (2005): Entsicherte Arbeitsgesellschaft, in: Widerspruch Nr. 49.

Gramsci, Antonio (1996): Aufzeichnungen und verstreute Notizen für eine Gruppe von Aufsätzen über die Geschichte der Intellektuellen; in: ders. (1991ff.): Gefängnishefte Bd. 7, Hamburg, Berlin.

Kant, Immanuel (1974): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung; in: Was ist Aufklärung? – Thesen und Definitionen, Stuttgart.

Kuczynski, Jürgen (1987): Die Intelligenz – Zur Soziologie und Geschichte ihrer Großen, Köln.

MEW 1 = Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx Engels Werke (1956ff.) Bd. 1, Berlin.

MEW 3 = Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie; in: Marx Engels Werke (1956ff.) Bd. 3, Berlin.

MEW 4 = Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei; in: Marx Engels Werke (1956ff.) Bd. 4, Berlin.

MEW 19 = Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft; in: Marx Engels Werke (1956ff.) Bd. 19, Berlin.

MEW Ergbd.1 = Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844; in: Marx Engels Werke Ergänzungsband 1 (1968.), Berlin.

Postman, Neil (2003): Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt/Main.

Sartre, Jean-Paul (1995): Plädoyer für die Intellektuellen; in: ders.: Plädoyer für die Intellektuellen – Interviews, Artikel, Reden 1950-1973, Reinbek.

[1] In diesem Kontext verweist Sartre zudem darauf, dass weiterführende Studien im Kapitalismus ein Bildungsprivileg seien, das dem „Techniker des praktischen Wissens“ entweder durch die soziale Herkunft oder durch ungerechte Auslesemechanismen organisiert werde: „So oder so genießt er ein ungerechtfertigtes Privileg, selbst dann und gewissermaßen erst recht, wenn er alle Prüfungen glänzend bestanden hat.“ (Sartre 1995: 102) Daraus leitet er schließlich die besondere Avantgarderolle des Intellektuellen ab. Diese Argumentation ist allerdings nicht ganz frei von einem romantischen Blick auf die Arbeiterklasse. Gramsci, der auch dort wo er traditionelle und organische Intellektuelle unterscheidet, viel stärker die Funktion der Intellektuellen im Auge hat als eine Soziologie ihrer Biographien, ist in diesem Punkt weniger illusionär. So verteidigt er die Grundschule gegen die „riforma Gentile“ und beschreibt ihre Funktion wie folgt: „Die wissenschaftlichen Kenntnisse traten in Widerstreit mit der magischen Welt- und Naturauffassung, die das Kind aus dem von Folklore durchdrungenen Milieu aufnimmt, wie die Begriffe von Rechten und Pflichten in Widerstreit treten mit den Tendenzen zur individualistischen und lokalpatriotischen Barbarei, die ebenfalls ein Aspekt der Folklore ist.“ (Gramsci 1991ff. Bd. 7: 1522) Bei Gramsci sind die Intellektuellen folglich keineswegs notwendig Leidende, die gramgebeugt den Weg zur Arbeiterklasse finden, sondern erweisen sich als Intellektuelle der Arbeiterbewegung gerade dadurch, dass sie einen Erziehungsanspruch verfolgen.

[2] Engels sieht den Fortschritt der Theorie Hegels darin, diese These bereits hinter sich gelassen zu haben. Der genaue Wortlaut ist: „Von diesem [hegelschen DS] Gesichtspunkte aus erschien die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein wüstes Gewirr sinnloser Gewalttätigkeiten, die vor dem Richterstuhl der nun gereiften Philosophenvernunft alle gleich verwerflich sind und die man am besten so rasch wie möglich vergißt, sondern als der Entwicklungsprozeß der Menschheit selbst, dessen allmählicher Stufengang durch alle Irrwege zu verfolgen und dessen innere Gesetzmäßigkeit durch alle scheinbaren Zufälligkeiten hindurch nachzuweisen jetzt die Aufgabe des Denkens wurde.“ (MEW 19: 206)

[3] „[I]m Jahre 1642 wurden mehr als 2.000 verschiedene Flugschriften und Broschüren veröffentlicht; im Jahre 1645 erschienen mehr als 700 Zeitungen; und die Gesamtzahl der zwischen 1640 und 1660 erschienen Flugschriften und Zeitungen beläuft sich auf 22.000.“ (Postman 2003: 53)

[4] Insbesondere die Gazetten der französischen Revolution – etwa Marats „amis du peuple“ – können als frühe Erscheinungsformen dessen gelten, was später als Massenpresse – im zwanzigsten Jahrhundert kamen noch andere „Medien“ hinzu – zur vielleicht wichtigsten institutionellen Bedingung für Intellektualität im modernen Sinne wurde.

[5] Diese „Unterwerfung“ der Druckerpresse unter das Kapitalprinzip intensivierte die konstitutive Zerrissenheit des Intellektuellen als Mensch im Kapitalismus, indem sie ein im Kern absurdes Rechtskonstrukt zur Welt brachte, das als „Urheberrecht“ bekannt ist. Die Reproduktion des von seiner Publikationstätigkeit abhängigen Kopfarbeiters ist seither von der Beschränkung der Verbreitung seiner Gedankenproduktion abhängig, die als „geistiges Eigentum“ gehandelt werden kann und muss. Das Interesse des Intellektuellen auf universelle Wirkung gerät nun in Widerstreit mit seinem Bedürfnis als leibhaftiger Mensch sich zu reproduzieren.

[6] Gerade die gegenwärtige Entwicklung lädt dazu ein, Büchners Woyzek wiederzuentdecken. Jenseits aller Illusionen über eine sich klassenmäßig von selbst einstellende Progressivität, entspricht die Existenz des Soldaten und „Arbeitskraftunternehmers“ Woyzek in zentralen Aspekten dem postmodernen „Prekarier“.

[7] Die Enthüllung der Tätigkeit als eigentlicher Bestimmung des Menschseins päzisieren Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“: „Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.“ (MEW 3: 21)

[8] Freilich betont Gramsci zugleich in diesem Zusammenhang auch die Funktion der „Assimilierung“ „traditioneller Intellektueller“, ein Aspekt, der viel mit den oben ausgeführten universalen Wahrheitsansprüchen jedweder Argumentation zu tun hat, der in diesem Aufsatz jedoch vernachlässigt werden muss.