Kritik der neoliberalen Bildungspolitik

Bildungspolitik nach Gutsherrenart

Wie die hessische Landesregierung Schüler, Lehrer und Eltern gegen sich aufbrachte

Juni 2008

Von 2003 bis 2008 hat die CDU in Hessen mit einer Stimme Mehrheit allein regiert – unangefochten von jedweder Kritik, sei es von den Oppositionsparteien, sei es von den Gewerkschaften, sei es von Eltern-, Schüler- oder Lehrervertretern. Symptomatisch für die Kritikresistenz der Regierung Koch war der Austritt der Kultusministerin aus dem konservativen „Philologenverband“ kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit. Auch dieser Verband, dem immer noch eine gewisse Nähe zur Regierung nachgesagt wurde, konnte die Schulpolitik der Regierung nicht mehr unterstützen. Sowohl Kultusministerin Wolff als auch Wissenschaftsminister Corts sind mit Ende der Legislatur aus ihren Ämtern ausgeschieden. Ihre Bildungspolitik ist gescheitert. Die CDU in Hessen steht für einen extrem autokratischen Stil, der es aber auch leichter machte, Kritiker gegen bildungspolitische Weichenstellungen zu vereinen, wie sie auch in anderen deutschen Bundesländern vorgenommen wurden. Und schließlich hat diese Politik auch dazu geführt, dass bei der Landtagswahl am 27. Januar 2008 die CDU auch mit der FDP keine Mehrheit mehr hatte und dass nach dem Einzug der Linkspartei eine Zweistimmenmehrheit für die Möglichkeit einer „linken Politik“ existiert. Die Bildungspolitik in Hessen hatte noch nie so viele „Baustellen“ wie in den letzten fünf Jahren, die nicht nur die Menschen im Bildungswesen belasteten, sondern auch Chaos verursachten und – obwohl sie eigentlich zum Abbau staatlicher Leistungen gedacht waren – ziemlich viele Ressourcen verschlangen.

Das Wort „Reform“, das schon Ende der 90er Jahre unter dem SPD-Kultusminister Holzapfel einen schalen Beigeschmack bekommen hatte, wurde vollends zum Codewort für negative Veränderungen. Eine Ursache für diese Art von Reformdruck ist die bekannte neoliberale Strategie, bei der Erledigung öffentlicher Aufgaben privaten Unternehmen Vorrang vor dem Staat, einem deregulierten Markt Vorrang gegenüber staatlicher Regulierung, privater Vorsorge Vorrang vor dem Sozialstaatsprinzip zu geben.

Im Regierungsprogramm 2003-2008 fand sich unter der Überschrift „Konzentration der Landesverwaltung auf Kernaufgaben“ die Leitlinie auch für die Bildungspolitik: „Wir werden die in der vergangenen Legislaturperiode durchgeführte Aufgabenkritik zur Konzentration der Landesverwaltung auf die Kernaufgaben konsequent fortführen. Soweit private Anbieter Leistungen kostengünstiger und auf gleichem oder besserem Niveau erbringen können, sind die betreffenden Aufgaben zu privatisieren. Der Kabinettausschuss ‚Verwaltungsreform’ nimmt eine systematische Überprüfung aller Bereiche der Landesverwaltung auf Privatisierungspotenziale vor.“ (Regierungsprogramm der hessischen Landesregierung 2003-2008)

Dies wurde im wesentlichen die Aufgabe für die „Neue Verwaltungssteuerung“ (NVS), welche die gesamte Landesverwaltung auf ein neu entwickeltes SAP-Modell umgestellt hat, das betriebswirtschaftlichen Verwaltungsprogrammen für private Unternehmen nachgebildet war. Das Projekt wurde 1998 unter Rot-Grün eingeführt – die es inzwischen allerdings ablehnen – und sollte eigentlich dieses Jahr abgeschlossen werden. Fast eine Milliarde Euro wurden dafür ausgegeben, dass alle Leistungen des Landes als „Produkte“ definiert werden, die – so ist das Ziel – letztlich über betriebswirtschaftliche Kennziffern gemessen und für Kostenvergleiche – auch mit privaten Anbietern – genutzt werden.

Ganz eindeutig gab 2004 der hessische Staatsminister und Chef der Staatskanzlei Grüttner die strategische Linie vor: „Die Aufgabenkritik zur Konzentration der Landesverwaltung auf ihre Kernaufgaben durch Aufgabenabbau und Privatisierung wird stringent fortgeführt.“ (…) „Das Gesamtkonzept sieht den Wegfall von Aufgaben, eine eingeschränkte Aufgabenwahrnehmung, die Privatisierung und Verlagerung mit Synergieeffekten für die Landesverwaltung sowie organisatorische Veränderungen vor.“ (In: „reform@ktiv - Die Neue Verwaltungssteuerung in Hessen“, Juni 2004)

Das erste Versuchskaninchen war das Hessische Institut für Lehrerfortbildung, in dem die hessischen Lehrkräfte ein reichhaltiges und gebührenfreies Fortbildungsangebot vorfanden. Mit Abschluss dieses „Leuchtturms“ (so wurden diejenigen kleineren Einrichtungen der Landesverwaltung euphorisch genannt, in denen die NVS zuerst eingeführt wurde) wurde auch hier das Licht ausgeknipst, das Institut aufgelöst und die Lehrerfortbildung weitgehend auf private Anbieter umgestellt, die von einem Amt für Lehrerbildung zertifiziert werden. Gleichzeitig zwang man die Lehrkräfte, Fortbildungspunkte zu sammeln, für die sie jetzt vermehrt bezahlen sollen.

Das „3.Gesetz zur Qualitätssicherung in hessischen Schulen“ vom November 2004 – gegen das 74.000 Unterschriften von Lehrern, Eltern und Schülern gesammelt wurden – formulierte als Oberziel den „effektiveren Ressourceneinsatz“. Die Schulleitung erhielt zusätzliche Aufgaben und Kontrollmöglichkeiten über Lehrkräfte. Die Lehrerausbildung wurde modularisiert, Referendare und Ausbilder mit Aufgaben überhäuft.

Standardisieren, vergleichen, kontrollieren, evaluieren wurden die Leitsätze für die Einführung zentraler Prüfungen in allen Schulformen, die dann zu einem Ranking benutzt wurden, das sich vielfach in der Presse wiederfand. Die Konkurrenz unter den Schulen sollte so angeheizt werden. Gleichzeitig dünnte man unter dem Stichwort „das regionale Schulangebot auf seine Effizienz und Effektivität überprüfen“ das Schulangebot aus und benutzte die Gelegenheit zur Zerschlagung integrierter Systeme. Außerdem wurde die Durchlässigkeit des Schulsystems – z.B. durch nach Schulformen getrennte Lehrpläne und „Querversetzungen“ – weiter erschwert, was Entwicklungschancen für Schüler kappt.

Die neu eingeführten Schulinspektionen waren und sind der hessischen Landesregierung 6 Mio Euro wert, was 150 Lehrerstellen entspricht. Inzwischen liefern sich verschiedene Teilbereiche der Kultusverwaltung einen Wettlauf um das „bessere“ Kontrollinstrument: die Schulinspektion benutzt einen „Referenzrahmen Schulqualität“, berufliche Schulen in dem Projekt „Selbstverantwortung plus“(s.u.) eine Evaluation nach „Q2E“, die NVS (s.o.) entwickelt „Balanced Score Cards“ für alle Schulformen und die Staatlichen Schulämter basteln an „Cockpit-Modellen“. Letztlich werden Output/Kosten-Vergleiche der Schulen untereinander bzw. von staatlichen und privaten Bildungsträgern zu erheblichen Veränderungen in Beschäftigtenstruktur und Bildungsangeboten führen, wenn es nicht gelingt, diese Ökonomisierung von Bildung zurückzudrängen.

Eine weitere Umsetzungsstrategie zur Kostensenkung im Bildungsbereich war die überstürzte Einführung der Schulzeitverkürzung in der gymnasialen Mittelstufe („G8“), die zu all den Konsequenzen führte, die voraussagbar waren: überforderte Schüler, kein ausreichendes Mittagessensangebot in der Schule, überfrachtete Lehrpläne, strukturell bedingter Zeitmangel.

Weil die Klagen über eine unzureichende Unterrichtsversorgung nicht abrissen – zu Recht, denn es wurden nur 94 Prozent des vom Kultusministerium selbst errechneten Solls zugewiesen – versuchte man die Schulen zu allen möglichen Arten von „Binnenoptimierung“ zu drängen. Schließlich landete die hessische Landesregierung im Sommer 2006 ihren Coup mit einer Neufassung des Schulgesetzes, das den SchulleiterInnen das Recht gab, Vertretungslehrkräfte nach Gutdünken auszusuchen, ohne dabei an einen Qualifikationsnachweis gebunden zu sein. Der Öffentlichkeit wurde dies als „Unterrichtsgarantie plus“ verkauft, wobei schon ab dem 3. Ausfalltag einer Lehrkraft Fachunterricht gewährleistet werden sollte.

Dieses überall kritisierte Vertretungskonzept sollte mit der Brechstange durchgesetzt werden. Dazu diente auch ein Passus im Schulgesetz, der die Mitbestimmung der Personalräte nach dem Hessischen Personalvertretungsgesetz für diesen Fall abschaffen sollte. Praktisch die gesamte Öffentlichkeit bis hin zu allen Oppositionsparteien waren nicht bereit, diese Art von Deprofessionalisierung des Lehrerberufs hinzunehmen.

Die Ökonomisierung und Verbetriebswirtschaftlichung von Bildungseinrichtungen diente der hessischen Landesregierung aber auch zur Heranführung von Bildungseinrichtungen an die Bedürfnisse des Bildungsmarktes und der auf ihm agierenden Konzerne. Diese reichen von der Zertifizierungsbranche über Unternehmensberatungen und Unternehmen der IT-Branche bis zum E-Learning. Insbesondere die Stiftungen von Hertie, Vodafone oder dem „Marktführer“ Bertelsmann sind hier vertreten. Es geht um einen weltweiten Bildungsmarkt, der bisher nur auf dem Weiterbildungssektor weitgehend privatisiert ist. Der Bildungsmarkt insgesamt könnte ein riesiges neues Verwertungspotential für das Kapital darstellen, das nach neuen profitablen Anlagemöglichkeiten sucht, die ihm im produktiven Sektor fehlen.

Zwei „Modellprojekte“ befinden sich in Hinsicht auf Ökonomisierung und Verbetriebswirtschaftlichung sehr weit vorn: das ist einmal das Projekt „Selbstverantwortung plus“ von 17 (von insgesamt über 100) beruflichen Schulen, in denen die bisher geltenden Mitbestimmungsrechte der Kollegien über Konferenzen durch eine neue „Schulverfassung“ außer Kraft gesetzt werden sollen, die Schulen eine Kosten-Leistungsrechnung samt Evaluationssystem einführen sollen und sich ihr Personal selbst zusammenstellen können.

Ein zweites Projekt hat sich Ministerpräsident Koch in Wisconsin abgeschaut und nennt dies demzufolge „Hessencampus Lebensbegleitendes Lernen“. Hier sollen die beruflichen Schulen mit den Schulen für Erwachsene und Volkshochschulen zu einem „fusionierten Bildungsdienstleister“ verschmelzen, der Rationalisierungspotentiale freilegen soll. Das Modell Volkshochschule mit seinen überwiegend prekären Arbeitsverhältnissen und seinen kostenpflichtigen Angeboten soll ins staatliche Schulsystem übernommen werden. Der zweite Bildungsweg in Hessen mit seinen Schulen für Erwachsene droht zum Auslaufmodell zu werden.

Zur Bildungspolitik der CDU-Landesregierung gehörten in einem weiteren Sinne auch die „Operation Sichere Zukunft“ 2003, eine der größten Kahlschlagoperationen im hessischen Landeshaushalt kurz nach der gewonnenen Landtagswahl 2003. Ausführungen dazu wie auch zur Abkoppelung der Tarifstruktur Hessens von der Tarifgemeinschaft der Länder würden den Rahmen dieser Kurzdarstellung sprengen.

Ebenso wäre die Hochschulpolitik der hessischen Landesregierung einen eigenen Beitrag wert. Zwar erhielten die Auseinandersetzungen über die (verfassungswidrigen) Studiengebühren die größte öffentliche Aufmerksamkeit, doch wurden (mehr im Hintergrund) zahlreiche Weichen in Richtung Stärkung des Einflusses privater Unternehmen auf die Hochschulen und Abbau der Mitbestimmung in den Hochschulgremien gestellt.

Die Autonomie der Hochschulen wurde mit einer in der Öffentlichkeit wenig beachteten rigiden Kosten-Leistungs-Rechnung verbunden (s.a. NVS), die eine beträchtliche Umschichtung der Mittel von kritischen Wissenschafts- und Ausbildungsbereichen zu solchen, „die sich rechnen“, mit sich bringt. Die Umwandlung der Frankfurter Universität in eine Stiftungsuniversität ist in dieser Politik nur eine weitere Facette.

Zum Abschluss ein passendes Zitat von Marx: „Wenn die Kapitalrendite zum höchsten Gut wird und die Arbeit an Wert verliert, kann die Gesellschaft doch nur ins Rutschen geraten. Wenn es so weitergeht, wird das System an die Wand gefahren.“ (Reinhard Marx, 2006, seinerzeit noch Bischof von Trier.)