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Von der kritischen zur apologetischen Militärgeschichtsschreibung

Zum Abschluss der Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg"

Dezember 2009

2007 feierte das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr (MGFA) sein 50-jähriges Bestehen. Als Flaggschiff dieser Forschungsstätte fungierte über Jahrzehnte die zehnbändige Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“, und sie war in der Tat ihre wissenschaftlich und politisch bedeutendste Leistung. Knapp 30 Jahre nach dem Erscheinen des ersten ist 2008 der letzte Band erschienen. Mit dem Abschluss der Reihe wird ihr Gegenstand, der Zweite Weltkrieg, im MGFA kein selbständiger Forschungsschwerpunkt mehr sein, obgleich der derzeitige Amtschef Hans Ehlert in seinem Vorwort eine „lose Folge von Ergänzungsbänden“ ankündigt.[1]

Begründet wurde dieses Forschungs- und Editionsprojekt kritischer Militärgeschichtsschreibung Anfang der 1970er Jahre von Manfred Messerschmidt, dem langjährigen Leitenden Historiker des Amtes. Der erste Band („Ursachen und Voraussetzungen des Zweiten Weltkrieges“) erschien 1979. Seine Autoren waren Messerschmidt, Wilhelm Deist, Hans-Erich Volkmann und Wolfram Wette. Dieser Band begründete den wissenschaftlichen Anspruch des Projekts. Es sollte keine Militärgeschichte im traditionellen Sinne werden, die Aufmarschpläne und Schlachten beschrieb, sondern eine kritische Geschichte der Gesellschaft im Kriege. Als Grundachse kristallisierte sich die Beziehung zwischen Politik und Ökonomik heraus. Die Autoren wollten die bis dahin in der Literatur der Bundesrepublik über den Zweiten Weltkrieg dominierenden apologetischen Memoiren ehemaliger Hitlergenerale durch wissenschaftliche Forschung ablösen, die Legenden der offiziellen Wehrmachtberichte destruieren und durch quellengestützte Recherchen ersetzen. Mit dem Werk sollte nicht zuletzt der Herausforderung, die die sechsbändige DDR-Edition „Deutschland im zweiten Weltkrieg“ setzte[2], konstruktiv begegnet werden. Das Serienwerk des MGFA sollte den weltweiten wissenschaftlichen Forschungsstand zum Gegenstand erreichen und künftig mitbestimmen. Das ist mit den ersten sieben Bänden auch gelungen. Kritisch war diese anti-apologetische Militärgeschichte nicht allein gegenüber den in Memoiren gesetzten Behauptungen und Bewertungen, sondern auch gegenüber den Quellen.

Die Bände waren von Anfang an heterogen, die Kapitel trugen die Handschrift der Autoren. Band 4 enthält sogar einander ausschließende Beiträge über denselben Gegenstand. Mit Band 7 begann das Projekt zu zerfasern.[3] Mit Band 8 „Die Ostfront 1943/1944“, in dem Karl-Heinz Frieser die strategischen Niederlagen bei Kursk und in Belorussland untersucht und die Abwehrleistungen der Wehrmacht in diesen Kämpfen preist, kehrte das Projekt zu jener Kriegsgeschichtsschreibung zurück, gegen die die Herausgeber ursprünglich angetreten waren: zur Apologetik der „verlorenen Siege“, zur Hagiografie des Kriegsverbrechers Manstein als militärisches Genie, zu den Legenden der Wehrmachtberichte, die als authentische, originäre und absolut glaubwürdige Quelle behandelt werden, zur Operationsgeschichte anstelle kritischer Militär- und Gesellschaftsgeschichte.[4]

In Band 9 wurde die bisher tragende Konzeption durch eine „Neue Kulturgeschichte“ ersetzt. 26 Autoren unterbreiten 23 Studien, die bis auf wenige Ausnahmen außerhalb des Forschungs- und Editionsprojekts erarbeitet wurden. Sie haben zwar mit der Geschichte der deutschen Gesellschaft im Kriege zu tun, gehen aber von anderen methodischen Prämissen aus. Bandherausgeber Jörg Echternkamp sieht zwar alle Beiträge auf die Frage antworten, wie die Nazis angesichts der Niederlagen seit Dezember 1941 den Krieg mit Unterstützung der Mehrheit des deutschen Volkes so lange führen konnten, doch viele Autoren tun dies gar nicht. Wichtiger schien Echternkamp zu sein, Studien zu Debatten des letzten Jahrzehnts nachzureichen, zum Judenmord, zum Luftkrieg und zum Thema Zwangsarbeiter. Bandherausgeber Echternkamp begründete seinen Bruch mit den bisherigen Bänden, indem er die Ausgangskonzeption der Reihe offen in Frage stellte: Er verwarf „hochaggregierte Strukturanalysen“, deren „methodische Schwachpunkte und inhaltliche Leerstellen“ er durch die „Neue Kulturgeschichte“ auszugleichen versprach: Letzterer gehe es um „Sinnkonstruktionen und ‚Weltbilder’, um die handlungsleitende Perzeption der ‚Realität’ durch die Akteure; um die Aktionsfähigkeit des Individuums (‚Agency’) und damit die individuelle Erfahrungsgeschichte“. Was Echternkamp als Fortschritt apostrophiert, „der Reichweite des Gegenstandes und der Vielfalt in der Forschungslandschaft“ Rechnung zu tragen, erweist sich als Schwäche: Denn Reichweite heißt hier die Auflösung des Gegenstandes, der deutschen Gesellschaft im Kriege, in eine Vielzahl partikulärer und zudem segmentierter Gegenstände.

Wer ohne Not auf die Vorteile einer Konzeption verzichtet, die in ihrer notwendigen Beschränkung Überschaubarkeit, Vergleichbarkeit und analytisch gesicherte Begreifbarkeit ermöglichte, der schätzt gering, was er preisgibt. Das großangelegte und überzeugende Forschungs- und Editionsprojekt „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ hat weder bankrott gemacht noch ist es an Insuffizienz gestorben, es wurde einfach kaltblütig von seinen Herausgebern beerdigt – im Namen einer „jüngeren Generation“ und zugunsten zeitgeistiger Moden in der Geschichtswissenschaft.[5]

Der zehnte Band erschien 2008 in zwei Halbbänden mit zusammen rund 1.750 Seiten, er steht damit im Umfang den früheren Doppelbänden 5 und 9 nicht nach. Inhaltlich ist Band 10 ein Mixtum Compositum aus Beiträgen, die sich zum einen der Tradition bis einschließlich Band 7 zuordnen, v.a. im ersten Halbband, zum zweiten aus Beiträgen „kritischer“ Apologetik für das kriegführende faschistische Deutschland analog Friesers in Band 8 und drittens aus Texten, die die konzeptionslose Beliebigkeit „Neuer Kulturgeschichte“ repräsentieren. Kriterien für die Auswahl der aufgenommenen Beiträge sind nicht erkennbar. Manche Gegenstände, z.B. der Zustand der Wehrmacht und ihrer Führung an der Westfront oder Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Soldaten der Roten Armee werden gleich mehrfach behandelt. Bandherausgeber Rolf-Dieter Müller trennte konzeptionell wenigstens die beiden Halbbände, deren erster die letzten militärischen Kämpfe bis zur Kapitulation der Wehrmacht und deren zweiter den Übergang vom Krieg zum Nachkrieg behandelt, keineswegs aber, wie der Titel suggeriert, die Folgen des Krieges. Als unwiderruflich letzter Band musste der zehnte manche Themen aufnehmen, die inhaltlich in frühere Bände gehört hätten. Andererseits wurde der Anspruch auf eine systematisierte Behandlung der ausgewiesenen Gegenstände preisgegeben. So wird von der Besatzungspolitik der Alliierten allein die sowjetische thematisiert, wobei dies nicht der Konzeptionslosigkeit geschuldet, sondern eine politische Absicht ist.

See- und Luftkriegführung in der Endphase

Im ersten Halbband führt Werner Rahn seine Darstellung der Seekriegführung aus Band 6 fort. Seine Darstellung ist mit 273 Druckseiten im Grunde eine eigenständige Monografie. Er greift bis zum Frühjahr 1943 zurück, als das offensive seestrategische Konzept des U-Boot-Krieges (Tonnagekrieg) scheiterte und Dönitz am 13. Mai 1943 die U-Boote aus dem Atlantik in den küstennahen Bereich zurückbeordern musste, wo sie ebenfalls hohe Verluste erlitten. Nach der Zerstörung der letzten großen Überwasser-Kriegsschiffe durch die Royal Air-Force blieb der Marine als Rückzugsgebiet nur die Ostsee. Die Hoffnungen von Hitler und Dönitz auf eine Wiederaufnahme des strategischen U-Boot-Krieges nach dem Bau neuartiger U-Boote blieben leer, zerbombten doch die Alliierten die meisten dieser U-Boote bereits während der Montage, als sich der strategische Bombenkrieg verstärkt gegen die Werftindustrie richtete.

Der „Tonnagekrieg“ rangierte als Aufgabe hinter der „Verteidigung der europäischen Küsten“. Der größte Teil des Personals der Kriegsmarine war an Land eingesetzt bei Küstenbatterien, U-Boot-Bunkern, Hafenbefestigungen und Flak-Stellungen, außerdem am Atlantik vom Nordkap bis Spanien, mit geringen Kräften im Schwarzen Meer und Mittelmeer. Ihr Einsatz konnte die alliierte Landung in Nordfrankreich nicht verhindern. Das „positive Bild der Kriegsmarine in der deutschen Nachkriegsgesellschaft“ sei, schreibt Müller in seiner Bilanz und meint die Gesellschaft der alten Bundesrepublik, von der letzten Aktion der Marine geprägt worden, nämlich dem Abtransport von Soldaten und Zivilisten aus der östlichen Ostsee nach Norddeutschland und Dänemark. Nennt Rahn diese „Rettungsaktion“ eine „beeindruckende Leistung der Marine“, so stilisiert Müller sie zur „größten Evakuierungsaktion der Weltgeschichte“ (702). Demgegenüber seien die unverantwortlichen verlustreichen Einsätze der U-Boote, der Nazifanatismus der Marineführung und ihr Terror gegen Marinesoldaten, die sich widersetzten, „im Dunkeln geblieben“. Nazistische Marinerichter fällten und vollstreckten noch nach der Kapitulation Todesurteile gegen Matrosen.

Rahn ist bemüht, den Führungsstab der Kriegsmarine von seinem Befehlshaber Dönitz abzusetzen, ihn militärfachlich zu rehabilitieren und ihm mehr Realitätssinn zu bescheinigen als dem bedingungslos hitlertreuen Dönitz. Zugleich dokumentiert er, dass Dönitz seine „Treue“ gegenüber Hitler durchaus taktisch zu handhaben verstand und seinem Stab kritische Stellungnahmen gestattete. Wenn Rahn Dönitz zum „willfährigen Erfüllungsgehilfen“ des Regimes erklärt, bleibt die Frage, ob das „Regime“ allein durch die Person Hitler ausgefüllt wird und Dönitz nur dessen Erfüllungsgehilfe war, wenn er gleichzeitig konstatiert, dass der Diktator permanent überfordert und damit der „ausschlaggebende Schwachpunkt im Entscheidungsprozeß“ war (41)

Horst Boog führt seine Darstellung des Luftkrieges aus Band 7 fort und behandelt auf über 100 Druckseiten sowohl die strategische Bomberoffensive der Alliierten als auch die „Reichsluftverteidigung“ im Jahr 1945. Mit der Bombardierung der deutschen Jägerfabriken im Frühjahr 1944 errangen die Alliierten uneingeschränkt die Luftherrschaft, das erleichterte ihnen die Landung im Juni 1944, den Vormarsch der Bodentruppen und die Zerschlagung der Wehrmacht. Strategische Bombardierungen eliminierten im letzten Kriegsjahr die deutsche Rüstungsindustrie. Die vorrangig von der US-Air Force geflogenen Angriffe richteten sich erstens gegen die Treibstoffindustrie, was die Wehrmacht sukzessive immobil machte, danach gegen das Transportsystem, was den Zusammenbruch der Rüstungsindustrie beschleunigte, und sodann gezielt gegen die Panzer- und Kraftfahrzeugindustrie. „Städteziele als ‚industrial areas’ standen für den US-Air Staff nur an sechster Stelle der Prioritätenliste.“ (10/2, 713)

Die Strategie des britischen bombing command unter Arthur Harris setzte darauf, durch Flächenangriffe in den Städten einen Feuersturm zu entfachen, der die Städte verwüstete und unbewohnbar machte. Zweck dieser Terrorangriffe war es, das Kriegsende durch Demoralisierung der Deutschen zu beschleunigen. Die Vorstellung, in einer Operation „Thunderclap“ schlagartig Tausende Bomber gegen deutsche Städte einzusetzen, nahm bis zum April 1945 noch einmal Gestalt an. Boog bilanziert seine Forschungen zum Luftkrieg und berechnet, dass zehn Prozent der gesamten Kriegskosten der Alliierten für die Luftwaffe aufgewendet wurden. Deren Personalverluste waren viel geringer als die der anderen Waffengattungen und als die der anderen kriegführenden Länder. „Kriegstechnisch“ bilanziert Müller, waren diese Flächenangriffe „nicht sehr wirksam“. Die Kalkulation ihrer Planung, die „Moral“ der Zivilbevölkerung, die die meisten Opfer bringen musste, zu brechen, ging nicht auf. Gerade weil es im Unterschied zum Landkrieg für den Luftkrieg keine völkerrechtlich verbindlichen Regelungen gab und deshalb die deutsche wie die alliierte Luftkriegführung auf den gemeinsamen Nenner des Terrorbombenkrieges übergegangen war, bekräftigt Boog noch einmal, dass die Bombardierung kriegswirtschaftlich relevanter Ziele militärisch effektiver war als die Tötung von Zivilisten, die er zu Recht eindeutig als Verbrechen gegen die Menschheit kennzeichnet. Die Zerstörung der Schlüsselindustrien und wichtiger militärischer Ziele forderte viel weniger Opfer als die Flächenbombardements. Daher war letzteres als Strategie selbst in den alliierten Stäben umstritten, doch gelang es Harris mit zögernder Unterstützung Churchills, in den letzten Kriegsmonaten die Städteoffensive fortzuführen. Die Monate ab Oktober 1944 brachten den Höhepunkt der alliierten Bomberoffensive, hinsichtlich der Zahl der abgeworfenen Bomben und ihrer Zerstörungskraft, vor allem die britischen Flächenangriffe erfolgten mit immer größerer Vernichtungskraft, ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland sukzessive besetzt wurde.

Das letzte Kriegsjahr

Die Analyse der Kämpfe des letzten Kriegsjahres, der Niederwerfung der Wehrmacht und der Eroberung und Besetzung Deutschlands erfolgt getrennt nach den Kriegsschauplätzen. Dies ist völlig gerechtfertigt, trugen die Kämpfe doch recht verschiedenen Charakter. John Zimmermann analysiert die militärische Kriegführung im Westen 1944/45, während Richard Lakowski die Kämpfe seit dem Beginn der Januaroffensive 1945 der Roten Armee behandelt, insbesondere die Weichseloperation und die Berliner Operation.

John Zimmermann geht bei seiner Darstellung der Kriegführung der Wehrmacht im Westen davon aus, dass diese Ende 1944 zwar kurzfristig den Personalbestand der Armee erhöhen konnte, die gescheiterte Ardennenoffensive vom Dezember 1944 aber die Einsicht in die Notwendigkeit der Kapitulation nicht befördert habe. Obwohl es der Wehrmacht inzwischen an Ausrüstung, Waffen, Munition und Fahrzeugen, an qualifiziertem Personal und an der Führungsfähigkeit des Offizierskorps mangelte, hetzte die Führung die Soldaten in die Ardennenoffensive und immer wieder in weitere Kämpfe. Die Betriebsstoffversorgung der Wehrmacht brach zusammen, die bisher schleichende Entmotorisierung wurde akut, der KfZ-Bestand verringerte sich bereits zwischen Januar und August 1944 um 15 Prozent. Mit Jahresbeginn 1945 wurde der Munitionsmangel dramatisch. Ende März 1945 begann die Besetzung Deutschlands durch die westlichen Mächte, der die meisten Wehrmachtseinheiten keinen entschiedenen Widerstand mehr entgegensetzten.

Zimmermann resümiert, die Wehrmachtsführung sei in ihrer linearen Verteidigungsstrategie einem Festungsdenken verhaftet gewesen und wollte den Kampf in räumlich festgefügten Zusammenhängen, „Festungsbereichen“ führen. Das führte zu einer doppelten Katastrophe: Viele der den Kampf fortsetzenden Offiziere sahen Rücksichten auf die deutsche Zivilbevölkerung als Behinderung ihrer Kampfführung an. Umgekehrt wurden die Wehrmachtseinheiten im doppelten Sinn zur größten Gefahr für die Menschen und ihre unmittelbaren Lebensinteressen: Zu Recht lastet Zimmermann die verheerenden Zerstörungen Deutschlands und die demografische Katastrophe des deutschen Volkes im letzten Kriegsjahr der Wehrmacht als ganzer an. Zwischen Juli 1944 und Mai 1945 starben ebenso viele deutsche Soldaten wie in allen anderen Kriegsjahren vorher zusammen, allein im Januar 1945 rund 450.000 Mann.

Ausgehend von der Frontlage zwischen Karpaten und Ostsee Anfang Januar 1945 behandelt Richard Lakowski die zwei großen Operationen der Roten Armee im Jahr 1945: die Weichsel-Posener-Operation mit ihrem Vorstoß bis zur Oder sowie die Berliner Operation. Im Unterschied zur Westfront waren die Wehrmachtverbände im Osten weder in Auflösung begriffen noch zur sukzessiven Kapitulation bereit, sondern setzten den erbitterten Kampf mit allen verfügbaren Kräften fort. Eine Beendigung des verlorenen Krieges durch Waffenstillstandsverhandlungen schloss die Wehrmachtsführung gegenüber diesem Gegner aus.

Aus ihren Brückenköpfen auf dem Westufer der Wisla Magnuszew, Pulawy und Sandomierz durchbrachen sechs Fronten der Roten Armee – eine Front entsprach in etwa einer deutschen Heeresgruppe – ab dem 12. Januar 1945 die Frontlinie an der Wisla und erreichten am 22. Januar in Schlesien die Oder. Die Heeresgruppe A wurde zerschlagen. In den ersten Februartagen konnte die Rote Armee erste Brückenköpfe auf dem Westufer der mittleren Oder errichten. Shukow beabsichtigte, die Offensive fortzusetzen, die Oder aus der Bewegung zu forcieren und durch einen zügigen Vorstoß Berlin bis zum 15./16. Februar zu nehmen. Doch dieser Vorstoß blieb aus, Lakowski gibt die von Shukow und anderen später genannten Gründe an, die auf eine Überdehnung der Flanken der vorgepreschten Armeen hinausliefen, ohne sich selbst auf deren Erörterung einzulassen. Jedenfalls entstand an diesem Oderabschnitt eine Pattsituation, die offensiven Handlungen der Roten Armee verlagerten sich im Februar und März 1945 an Nebenfronten im Norden und Süden.

Der Halt der 1. Weißrussischen und der 1. Ukrainischen Front verschaffte der Wehrmachtsführung eine Atempause, in der sie an der Oder als letztem großen Flusshindernis vor Berlin eine Verteidigung aufbauen und bestücken konnte. Dieser Halt für nahezu acht Wochen an der Oder hatte zur Folge, dass die Rote Armee nun eine eigenständige Operation brauchte, um die inzwischen tief gestaffelte und organisierte Verteidigung des Weges nach Berlin zu überwinden. Seit der zweiten Märzhälfte hatte die Rote Armee das gesamte Gebiet östlich von Oder und Lausitzer Neiße eingenommen. Das Zurückbleiben der sowjetischen Fliegerkräfte führte zu einer zeitweiligen Überlegenheit der deutschen Luftwaffe. Angesichts der sowjetischen Massierung im Brückenkopf Küstrin war der Aufmarsch nicht zu tarnen, der Zeitpunkt der Operation wurde auch nicht verschleiert, die Wehrmachtsführung war alarmiert. Der frontale Angriff Shukows am 16. April gegen die Seelower Höhenstufe war unter operativen Gesichtspunkten wenig zweckmäßig, der parallel zu den Höhen verlaufende Hauptgraben des Oderbruchs erwies sich für gepanzerte Fahrzeuge als unüberwindbar. So rannte sich der sowjetische Angriff erst einmal fest und kostete unzählige Opfer, während die Armeen Konjews südlich von Berlin nicht aufzuhalten waren. Erst am 18. April erreichte die Schlacht bei Seelow ihren Höhepunkt und Shukow den Durchbruch. Lakowski erörtert ausführlich die Arbeitsteilung und die Konkurrenz zwischen den Marschällen Shukow und Konjew bei der Einnahme Berlins, für deren Armeen in der Tiefe des Angriffs keine Trennlinien festgelegt worden waren, was das unkoordinierte Vorgehen zweier Fronten verschlimmerte. Lakowskis Darstellung der Kämpfe um die Einnahme Berlins und den „surreal wirkenden Aktionismus“ der faschistischen Führung zu dessen Verteidigung ist die bisher detaillierteste Untersuchung dieser Kämpfe, die mit der Prager Operation vom 6. bis 11. Mai und dem Ende der Heeresgruppe Mitte schließt.

Den beiden Beiträgen über die Kämpfe an der West- und an der Ostfront folgt im zweiten Halbband ein paralleler Text von Andreas Kunz über „Die Wehrmacht 1944/45: Eine Armee im Untergang“. Er wiederholt in seinen Analysen der Wehrmachtstrukturen in der Schlussphase des Krieges und des Zusammenbruchs der militärischen Organisation vielfach Aussagen Zimmermanns. Allerdings erweist sich sein Versuch, zulängliche Erklärungen „für das Verhalten der Militärelite“ insbesondere die „befremdliche Passivität des höheren Offizierskorps“ in „individualitätspsychologischen und gruppenspezifischen Mentalitäts- und Verhaltensmustern“ aufzufinden, als wenig überzeugend. Dass das eigene Militär zur größten Gefahr für die deutsche Bevölkerung wurde, wiederholt Kunz im Anschluss an den Wehrmachtgeneral Friedrich Schulz, doch in den Wahrnehmungen des Zusammenbruchs der militärischen Organisation durch die Soldaten kam diese Einsicht selten vor. Auch wenn Kunz den Erosionsprozess der Wehrmacht statistisch dokumentiert, seine Aussage, diese hätte sich in eine „strukturlose, amorphe Masse von Gewehrträgern“ verwandelt, dürfte der Realität kaum gerecht werden, denn die Erosion der militärischen Hierarchie und ihrer Ordnungssysteme hinderte die Funktionsfähigkeit des noch einmal eskalierenden Endphasenterrors keineswegs. Die „alltags- und erfahrungsgeschichtliche Betrachtung des Kriegsendes“ führt Kunz nicht über ein buntes und schillerndes Mosaik hinaus.

Sowjetische Besatzungsmacht

Das Verhalten der alliierten Armeen gegenüber der deutschen Bevölkerung und ihre Tätigkeiten als Besatzungsmacht wird allein für die Sowjetunion thematisiert. Schwerpunkte des von Manfred Zeidler verfassten Kapitels „Die Rote Armee auf deutschem Boden“ sind zum einen die Welle spontaner Gewalttaten sowjetischer Soldaten gegen die deutsche Bevölkerung, vor allem Vergewaltigungen von Frauen und Plünderungen, zum anderen die Organisation und Tätigkeit der sowjetischen Besatzungsverwaltung hinsichtlich ihrer Internierungen und Deportationen sowie ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit. Leider fehlen analoge Untersuchungen für die anderen drei Besatzungsmächte, sodass ungeachtet des Bemühens um Sachlichkeit ein schiefes und denunziatorisches Bild entsteht. Hinsichtlich der spontanen Gewalt sowjetischer Soldaten bemüht sich Zeidler zunächst darum, die politisch-psychologischen Voraussetzungen nachzuzeichnen, von der Truppenführung über die Militärpresse und die Artikel Ilja Ehrenburgs darin bis zum Bildungsstand sowjetischer Soldaten; doch die entscheidenden Voraussetzungen für die Wut, den Hass, die Verbitterung und Rachsucht „der Russen“, nämlich ihre Erfahrungen über die Bestialitäten deutscher Soldaten in sowjetischen Dörfern und Städten, nehmen hier nicht den gebührenden Platz ein. Zeidler versucht eine Analyse der Rekrutierung der Täter jener Gewaltexzesse von Soldaten der Roten Armee und kommt zu dem Ergebnis, dass es hauptsächlich nicht die Frontsoldaten der ersten Staffel, sondern jene der zweiten waren, die derartige Gewalttaten begingen. Er würdigt die zunächst ohnmächtigen Bemühungen der Truppenführung zur Eindämmung von Alkoholexzessen und Gewalt.

Der zweite Schwerpunkt in Zeidlers Kapitel behandelt die organisierte Gewalt der Besatzungsmacht, aber einseitig auf zwei Sektoren ihrer Tätigkeit beschränkt, einmal die Internierung und Lagerhaft, zum anderen die Massendeportation von Kriegsgefangenen, sog. Reparationsverschleppten und Repatriierten. Zur wirtschaftlichen Tätigkeit der organisierten Gewalt werden Plünderungen und der Abtransport von als Kriegbeute beschlagnahmten Gütern gezählt. Zeidler beschreibt die Rote Armee als Besatzungsmacht aus der Optik des damals noch gar nicht entfalteten Kalten Krieges und listet allein Unrechtmäßigkeiten ihrer Handlungen auf.

Kriegsfolgen

Der Titel des zweiten Halbbandes führt in die Irre. Obwohl einige Autoren ihre Beiträge zeitlich bis in das Jahr 1957 ausdehnen, sind nur zwei unmittelbare Folgen des Zweiten Weltkrieges hier Gegenstand, nämlich die jahrelange Kriegsgefangenschaft deutscher Soldaten und die Aussiedlungen deutscher Minderheiten aus Polen, der Tschechoslowakei und weiteren Ländern. Die entscheidenden politischen Folgen dieses Krieges und der Niederlage Deutschlands sind für diesen Band kein Thema, selbst jene unmittelbaren Folgen des Kriegsendes wie Hunger, materielle Not und Wohnungsmangel erscheinen hier nur am Rande. Die neue Kulturgeschichte interessiert sich mehr für mentale Probleme als für Brot, Bekleidung, Wohnung und Heizung der Menschen.

Auch der zweite Halbband beginnt mit Längsschnittstudien für die letzte Kriegsphase. Rolf Dieter Müller behandelt in einem Beitrag über den „Zusammenbruch des Wirtschaftslebens und die Anfänge des Wiederaufbaus“ die Nachkriegsplanungen der deutschen „Industrie und Wirtschaftsbürokratie“ – gemessen am veröffentlichten Forschungsstand dürftig, dafür aber mit einer unzutreffenden und wie hergeholt wirkenden Polemik gegen eine Analyse dieses Gegenstandes durch Karl Heinz Roth.[6] Müller identifiziert sich mit dem Anliegen dieser Planer und schreibt mit einer aufdringlichen Parteilichkeit durchgängig vom Interessenstandpunkt der deutschen Großbourgeoisie. Eine derartige Haltung war in der deutschsprachigen Weltkriegsforschung seit langem nicht zu lesen.

Übergroßen Raum gibt er seiner Lieblingsidee, Speers Bemühungen zur Einschränkung von Hitlers Nero-Befehl und zur Rettung der Machtgrundlagen der deutschen Rüstungsindustrie als „zweiten Griff nach der Macht“ zu interpretieren: Speer hätte sich im Kampf um die „Nachfolge des Führers“ ausgerechnet, von Hitler selbst als dessen Regierungsnachfolger eingesetzt zu werden. Speers mentale Probleme in Bezug auf Hitler erhalten so mehr Gewicht als die Auflösung der bisherigen Rüstungsorganisation durch Speers Dezentralisierung, die die verbliebene Macht Stäben übergab, die vor allem aus Industriellen und Militärs besetzt wurden, wie dem Ruhrstab.

Als die deutsche Rüstungswirtschaft im Herbst 1944 den höchsten Ausstoß erreicht hatte, erfolgte ihr anschließender Zusammenbruch, nachdem die Versorgung mit den wichtigsten Rohstoffen und das Verkehrssystem ausfielen. Das von Müller behandelte „Notrüstungsprogramm“ wurde nicht einmal seinem Namen gerecht. Deutschland hatte den Krieg auch wirtschaftlich verloren, doch Müller gibt keine Bilanz der kriegswirtschaftlichen Niederlage. Er wendet sich den Wirtschaftsmaßnahmen der Alliierten bei der Besetzung zu, und will anscheinend beim Thema Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft wenigstens verbal die Feindpositionen des Zweiten Weltkrieges gegenüber „den Russen“ fortsetzen. Hier wird kein wissenschaftlich-analytisches Herangehen, sondern Antikommunismus pur demonstriert. Bei den unmittelbaren, kurzfristigen Folgen des wirtschaftlichen Übergangs zur Nachkriegszeit konzentriert sich Müller auf die Versorgung der Bevölkerung und einen Notbetrieb zwischen Agonie und Wiederaufbau.

Wilfried Loth schreibt über die Deutschland- und Besatzungsplanungen – informativ, sachlich und abgewogen, er rekonstruiert sehr genau die jeweiligen Positionen der drei Alliierten, auch die verschiedenen Linien innerhalb der britischen und der US-Regierung, die jeweils Dominanz gewinnen konnten. Vorrangig, fast ausschließlich, der Diplomatie- und Politikgeschichte gewidmet, repräsentiert sein Beitrag noch einmal das hohe Niveau der Reihe. Kern seiner Analyse sind die inneren Widersprüche der Antihitlerkoalition, hier ist Loth umfassender und informativer als Falin, erreicht aber nicht immer dessen Schärfe und Prägnanz.[7] Zwei Probleme durchziehen den Beitrag und werden instruktiv und überzeugend analysiert, erstens die Abhängigkeit der Nachkriegsplanungen von situativen Spannungen zwischen den Alliierten und vom Kriegsverlauf, zweitens deren Pläne zur Aufteilung Deutschlands und deren Schicksal.

Auch hinsichtlich der Auseinandersetzungen um die Reparationen ist Loths Analyse genauer und nüchterner als Müller zum selben Thema. Vorzüglich und äußerst lesenswert ist die Analyse der Konferenz von Jalta und die Umstände des schließlichen Endes aller Teilungspläne. Nicht zuletzt am Beispiel der Teilungspläne, der Reparationsfrage und der Lösung der polnischen Frage macht Loth deutlich, von wie vielen Subjektivismen historisch gravierende und sehr langfristige Lösungen tatsächlich abhingen. Deutlich wird die Wende in der angelsächsischen Politik gegenüber der verbündeten Sowjetunion durch US-Präsident Truman wie dessen politische Qualitäten überhaupt.

Ein Beitrag von Rüdiger Overmans über das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges, insbesondere nach dessen Ende, bildet das Pendant zu seiner Analyse der alliierten Kriegsgefangenen in deutschem Gewahrsam im Band 9 und wäre besser mit diesem zusammen als eigene Monografie erschienen. Wurde während des Krieges für die Behandlung der jeweiligen Kriegsgefangenen strikt das Prinzip der Reziprozität beachtet – mit Ausnahme der Soldaten der Roten Armee – so entfiel mit Deutschlands Kapitulation dieses Prinzip: Für Millionen Wehrmachtssoldaten bedeutete die Kapitulation den Marsch in die Kriegsgefangenschaft und meist für mehrere Jahre, für sie gab es keine Schutzmacht mehr. Overmans führt deren Behandlung in jedem Land gesondert aus und gibt jeweils eine Zusammenfassung nach gleichen Kriterien wie Sterblichkeit, Einsatz etc.

Die Behandlung der Gefangenen hing nicht zuletzt von den Erfahrungen der jeweiligen Gewahrsamsmacht während des Krieges ab. Fast überall wurden Kriegsgefangene kriegsvölkerrechtswidrig zur Minenräumung eingesetzt, auch die Rekrutierung zur Zwangsarbeit als Reparationsmaßnahme kannte das damalige Völkerrecht nicht. Overmans greift von allen Autoren zeitlich am weitesten über das Kriegsende hinaus, nämlich bis zur Rückführung der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der UdSSR 1957. Ohne ersichtlichen Grund kolportiert Overmans dabei die Lüge, die DDR-Führung hätte die Rückkehr der deutschen Gefangenen 1956 aus der UdSSR verhindern wollen.

Zwangsumsiedlungen

Michael Schwartz holt sehr weit aus, um „die Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung aus Ostdeutschland und Osteuropa 1941-1950“ nicht als Opferstilisierung im Stil einer Pfingstrede des BdV, sondern als Kriegsfolge und „ethnische Säuberung“ darzustellen. Erstens greift er auf die Balkankriege 1912/13 und den Vertrag von Lausanne zurück, zweitens führt er „Flucht, Vertreibung und Deportation von Deutschen“ auf deren Ursachen, die faschistische Besatzungs- und „Volkstums“politik zurück, drittens sieht er die „ethnische“ Vertreibung von Deutschen bereits mit der Auflösung der sowjetdeutschen Wolgarepublik begonnen. Um den historischen Zusammenhang der Aussiedlungen deutscher Minderheiten aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und anderen osteuropäischen Ländern zu umreißen, listet Schwartz daher erst einmal die dem Ersten Weltkrieg vorangehenden und die ihm folgenden parallelen Ereignisse auf. Kennzeichnend für die grundsätzlich andere Lösung aller Minderheitenfragen durch die Siegermächte war, dass die Pariser Friedenskonferenz 1919 keine Aussiedlungen favorisierte, sondern den alten wie den neu gegründeten Nationalitätenstaaten Minderheitenschutzverträge notfalls auch gegen deren Willen aufzwang. Dagegen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg diese Versailler Politik nicht wiederholt, sondern die möglichst vollständige Aussiedlung deutscher Minderheiten als Schutz vor einer Wiederholung früherer Konflikte gewählt.

Um zu erklären, warum am Ende des Zweiten Weltkrieges die ethnische Homogenisierung von Staaten als Lösung von Nationalitätenkonflikten positiv gesehen werden konnte, analysiert Schwartz jene Sachverhalte, die hauptsächlich als Quellen dieser Auffassung fungierten, erstens die Balkankriege 1912/13, zweitens ethnische Säuberungen im Ersten Weltkrieg, drittens den Vertrag von Lausanne 1923 über den Austausch der griechischen bzw. türkischen Bevölkerung zwischen beiden Ländern nach dem für Griechenland verlorenen Krieg, viertens Erfahrungen der europäischen Kolonialmächte, viertens die Wege zum Völkermord an den Juden. Der wirkliche Musterfall für Entscheidungen über die Aussiedlungen nach 1944/45 war meist Lausanne, wobei dieser Fall von den damaligen Signatarmächten des Vertrages idealisiert und die terroristischen Seiten dieser Lösung ausgeblendet wurden. Jedenfalls prägte nicht die Versailler Minderheitenregelung die Nachkriegsordnung nach 1945, sondern Lausanne, das die Erfahrung der Machbarkeit eines millionenfachen Bevölkerungstransfers geschaffen hatte.

Für alle diese Gegenstände und natürlich für sein eigentliches Thema, die Zwangsumsiedlungen von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, greift der Autor nicht auf eigene archivalische Forschungen, sondern allein auf Literaturquellen zurück, wobei er vielfach spezielle Forschungsliteratur nicht nutzt, weil sie nur in fremden Sprachen vorliegt oder ignoriert, weil sie aus der DDR kam. Eine bedenkliche Praxis ist es auch, sich auf zusammenfassende und daher hinsichtlich des Gegenstandes sehr allgemeine bzw. wenig relevante Literatur wie Broszats „Polenpolitik“ oder Wehlers „Gesellschaftsgeschichte“ zu beziehen. Trotz seiner Absichten und seiner ausgedehnten Anmarschwege leistet Schwartz der Gefahr der Instrumentierung seines Gegenstandes daher Vorschub, versteht er doch seinen Beitrag als „Anregung für eine historisch situierte umfassendere Opferperspektive“ (511). Er untersucht nicht, wie solche Quellen wie die „Dokumentation der Vertreibung“ produziert wurden und übernimmt sie ebenso unkritisch wie Aussagen de Zayas.

Im Zusammenhang mit dem Grundgedanken, dass Frieden nur durch konsequente Trennung verfeindeter Glaubens- und Nationalitätengruppen denkbar sei, der 1826 erstmals von griechischen Freiheitskämpfern ausgesprochen und 1923 vom Völkerbund sanktioniert wurde, verweist Schwartz zu Recht darauf, das es z.B. bei den Balkankriegen gerade nicht die uralten nationalen Gegensätze, sondern die sehr „moderne“ nationalistische Ideologie im Militär und im Bildungswesen neu entstandener Staaten war, die sich in der Gewalt nationalistischen Furors entluden. „Die neuen Mehrheitsvölker praktizierten eine auf Vertreibung oder Zwangsassimilation ausgerichtete Nationalitätenpolitik.“ Schwartz hat Schwierigkeiten mit der eigenen Standortbestimmung als deutscher Historiker, ringt sich aber gegenüber Hillgrubers Identifikation mit den „opferreichen Anstrengungen des deutschen Ostheeres“ – so seine Position im sog. Historikerstreit – dazu durch: „Wir können die hilflosen Opfer auf allen Seiten – und damit auch die des eigenen Volkes – beklagen – aber wir können nicht nachträglich Hitlers Wehrmacht ‚die Daumen drücken’ und die Augen vor dem verbrecherischen Kontext der damaligen deutschen Politik und Kriegführung verschließen.“ (579)

Resümee

Dies ist aber keineswegs die Haltung aller Bandautoren. In seiner Bilanz „Das Deutsche Reich und das Jahr 1945“ erklärt Bandherausgeber Müller die „Epoche der deutschen Kriege“ nicht zuletzt aus „einem furchtsam-aggressiven Sicherheitsstreben“ des deutschen Nationalismus, der sich mit dem „politischen Fanatismus“ Hitlers verbunden hatte. Müller will mit diesem Abschlussband „die historische Wirkung des Diktators“ kennzeichnen: „Ohne Hitlers Entschlossenheit, den Krieg um jeden Preis fortzusetzen, wäre die Mehrzahl der Deutschen – ebenso wie 1918 – nach vier Jahren erschöpfender Kriegführung gegen eine ‚Welt von Feinden’ vermutlich zur Aufgabe bereit gewesen.“ (699) Hitlers Entschlossenheit habe die Absicht zugrunde gelegen, wenigstens das Kriegsziel „Ausrottung der Juden“ zu erreichen. Auch in der Schlussphase des Krieges, für die „militärische Niederwerfung und Auflösung der Wehrmacht“, sieht er Hitlers „Schlüsselfunktion“ wirken. Müller zeichnet Dönitz als Symbolfigur für die Bereitschaft führender Militärs, Hitler bedingungslos zu dienen und die Soldaten rücksichtslos in den Kampf zu schicken. Allerdings vermag Dönitz’ persönliches Beispiel kaum zu erklären, warum die professionelle Militärführung die Realität derart verdrängte.

Die Wehrmacht war das Hauptinstrument des faschistischen Aggressionskrieges und damit auch der geplanten wie ungeplanten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Sie angesichts der über fünf Millionen gefallenen deutschen Soldaten und Millionen deutscher Kriegsgefangener nach 1945 zu einer der größten Opfergruppen der deutschen Bevölkerung zu erklären, ist ein Fixpunkt von Müllers Bilanz, die – gewollt oder ungewollt – die Opfer dieser „Opfer“ im Europa unterm Hakenkreuz verhöhnt und die Planer und Nutznießer des Krieges entlastet.

Trotz überzeugender Beiträge ist ein Verlust an wissenschaftlichem Niveau nicht zu übersehen. Von inhaltlicher Abstimmung der Beiträge ist wenig zu merken, neben zahlreichen Wiederholungen gibt es gegensätzliche Aussagen und Angaben ohne den geringsten Bezug der Autoren aufeinander. Die bis Band 7 dominierende nüchterne und wissenschaftlich neutrale Schreibweise weicht einer zuweilen krassen Parteilichkeit, als ob die Feindschaft der kriegführenden Mächte auf literarischer Ebene fortgeführt, ja der verlorene Krieg wenigstens historiografisch gewonnen werden soll. Die offene Parteinahme für die Wehrmacht und den von ihr geführten „deutschen Krieg“ lässt eine interne Manöverkritik zu, aber keinen Zweifel an der grundsätzlichen Feindschaft gegen den damaligen Kriegsgegner Sowjetunion. Stalin habe, schreibt Bandherausgeber Müller in seiner Bilanz, „Konew und Shukow mit ihren Armeen von der Kette“ gelassen. (708)

[1] Besprochen werden im Folgenden: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 10: Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945. Im Auftrag des MGFA hg. von Rolf-Dieter Müller. Erster Halbband: Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht. Mit Beiträgen von Horst Boog, Richard Lakowski, Werner Rahn, Manfred Zeidler, John Zimmermann, 948 S.; Zweiter Halbband: Die Folgen des Zweiten Weltkrieges. Mit Beiträgen von Jörg Echternkamp, Andreas Kunz, Wilfried Loth, Rolf-Dieter Müller, Rüdiger Overmans, Michael Schwartz, DVA, München 2008, 798 S.

[2] Vgl. Deutschland im zweiten Weltkrieg, 6 Bde, Berlin 1974-1985.

[3] Vgl. Rezension zum Band 7 in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Heft 21, Berlin 2003, S. 75-81.

[4] Vgl. Rezensionen zum Band 8: Wege in den Sumpf, in: junge Welt vom 29.11.2007und Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Heft 31/32, Berlin 2008, S.213-219.

[5] Vgl. die ausführliche Rezension des Bandes 9 in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Heft 27, Berlin 2006, S. 99-105.

[6] Vgl. Karl Heinz Roth: Wirtschaftliche Vorbereitungen auf das Kriegsende und Nachkriegsplanungen, in: Dietrich Eichholtz: Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945, Band III: 1943-1945, Berlin 1996, S. 519-612.

[7] Vgl. Valentin Falin: Zweite Front. Die Interessenkonflikte in der Anti-Hitler-Koalition, München 1995