Editorial

Dezember 2021

Die Bundestagswahl vom 26. September 2021 und der Abzug der US- und NATO-Truppen aus Afghanistan waren herausragende bundes- bzw. weltpolitische Ereignisse der letzten Monate. Beide werfen eine Reihe von allgemeinen Fragen auf, denen wir uns im vorliegenden und nächsten Heft widmen wollen.

Zu den Bundestagswahlen äußern sich in den Kommentar-Spalten dieser Ausgabe Georg Fülberth, Gerd Wiegel, Joshua Seger und David Salomon. Wir werden im März-Heft gründlicher auf die längerfristigen Folgen dieser Wahlen eingehen. Dann wird der Koalitionsvertrag voraussichtlich vorliegen und die Regierungsbildung abgeschlossen sein. Die Konturen und inneren Widersprüche der Koalition aus grün-liberalem Eigentumsblock und sozialdemokratischer Staatsverwaltung, die Pläne dieser „Fortschrittskoalition“ und die realen Anforderungen angesichts von Klimakrise, sozialer Spaltung und Akkumulationsanforderungen des großen Kapitals werden sich dann deutlicher abzeichnen.

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Im vorliegenden Heft geht es zuerst um Hintergründe des absehbaren, wenngleich abrupten Endes der US- und NATO-Intervention in Afghanistan und die heraufziehenden geopolitischen Auseinandersetzungen um eine neue Weltordnung.

Im ersten Teil seines historischen Rückblicks auf die Geschichte Afghanistans seit den 1930er Jahren bis zur Gründung der Republik 1978 zeigt Matin Baraki die enge Verflechtung von inneren Auseinandersetzungen in Afghanistan mit der außenwirtschaftlichen und geostrategischen Einbindung des Landes. Stefan Bollinger arbeitet den Zusammenhang von sozialer Revolution, gewaltsamem Vorantreiben der Umwälzungen dem Verlust von Rückhalt in der Bevölkerung und dem massiven Eingreifen US-imperialistischer Machtpolitik in die innerafghanischen Konflikte heraus. Er verweist auf die neue weltpolitische Situation, die seit der Revolution in Iran einen politischen Islam zu einem relevanten Faktor der Weltpolitik macht. Dieter Boris fragt danach, wie es zum Scheitern des so genannten „Westens“ in Afghanistan kommen konnte. Er behandelt die inneren sozialen Konfliktfelder der afghanischen Gesellschaft mit ihrem schroffen Gegensatz von Stadt und Land, die militärischen Kräfteverhältnisse, die Rolle der Interventionsmächte und deren illusionäre Erwartungen und Prämissen sowie die Brutalität der Kriegsführung. Die gegenwärtigen Debatten um Aufrüstung und die Schaffung einer europäischen Eingreiftruppe machen Boris zufolge derzeit wenig Hoffnung, dass grundsätzliche Lehren aus dem Afghanistandebakel gezogen werden. Werner Ruf sieht den Führungsanspruch der USA im internationalen System in Folge des Abzugs aus Afghanistan zumindest beschädigt. Dies stelle, vor allem vor dem Hintergrund von Bestrebungen zu einem originären militärisch-industriellen Komplex der EU, die Frage nach den Perspektiven der NATO. Unabhängig davon plädiert er dafür, neue regionale Zusammenschlüsse wie die Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit einzubinden, um in Konflikten internationale und friedliche Lösungen zu finden. Yannick Laßhof und Joshua Stoesz geben eine Bestandsaufnahme der sehr unterschiedlichen Interessenlagen von Anrainerstaaten wie Weltmächten (u.a. Pakistan, Indien, China, Russland, Iran sowie die USA und deren NATO-Verbündete einschließlich der EU), die in dieser Region aufeinanderprallen.

Online-Heftpräsentation zu diesem Heft am 7. 12. 2021, 19 Uhr, mit Yannick Laßhof und Werner Ruf sowie einem der Autoren des Streikmonitors. Informationen: Z-Homepage und in unseren Social-Media-Auftritten. Zugang: kurzelinks.de/z128 / Meeting-ID: 813 1047 6308 / Kenncode: Z128

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Marx-Engels-Forschung: Mit einem spezifischen Problem im Kontext der Arbeitswerttheorie befasst sich Georg Quaas. Marx habe in seinem reifen Werk zwischen dem Wert und dem Tauschwert einer Ware unterschieden. Der Wert einer Ware werde durch die bei der Produktion aufgewendete durchschnittlich notwendige Arbeitszeit bestimmt, sei aber begrifflich nicht mit dieser identisch. Daraus folge, dass die Werte der Waren nicht durch eine einfache Arbeitszeitrechnung erfasst werden könnten. In Fortsetzung der Diskussion um den Wertbegriff der Neuen Marx-Lektüre weist Fred Moseley die Auffassung von Michael Heinrich zurück, die Wertgröße werde durch die Nachfrage im Austausch bestimmt. Anders als Lietz/Schwarz (Z 125/126), denen er ansonsten zustimmt, unterscheidet er nicht zwischen Wertgröße und Marktpreisen, sondern zwischen zwei Arten von Preisen: dem Gleichgewichtspreis (drückt die Wertgröße in Geld aus, Angebot und Nachfrage decken sich) und den von Angebot und Nachfrage abhängigen Marktpreisen. Heinrichs Irrtum sei, die Bestimmung durch die Nachfrage nicht nur für die ungleichgewichtigen Marktpreise anzunehmen, sondern auch für den Gleichgewichtspreis selbst. Über die Publikationsgeschichte der vor 1949 in China veröffentlichten Schriften von Marx, Engels und Lenin berichtet Qiang Zhu. Er stellt eine über hundertbändige historisch-kritische Edition solcher Texte vor, die den Prozess der „Sinisierung des Marxismus“ und dessen Beziehungen zur klassischen chinesischen Kultur deutlich macht.

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Arbeitskämpfe: Nachdem in Z 126 (Juni 2021) das – corona-bedingt – streikarme Geschehen des Jahres 2020 analysiert wurde, skizziert diese Ausgabe des Streikmonitors die langfristigen Trends der zwischen 2016 bis Ende 2020. Die Fragmentierung der Streikaktivitäten, v.a. die Spaltung in Flächentarifrunden und Häuserkämpfe in bestimmten Branchen wie dem Gesundheits- oder Mobilitätssektor, hat sich vertieft, ebenso das Nebeneinander von offensiven Kämpfen um Tarifverträge einerseits und defensiven Kämpfen um den Erhalt von Standorten u. ä. auf der anderen Seite. Neben einer Zunahme von Union Busting bei den „Arbeitgebern“ und der Herausbildung neuer Streikformen ist vor allem der Rückzug des Staates als Eigentümer und Unternehmer eine Entwicklung, die weiterer Untersuchung bedarf.

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Zur Staatsdiskussion wurden uns zwei Beiträge übermittelt: Martin Kampa setzt sich mit den von Andreas Wehr in Z 118 vorgelegten Thesen zum Verhältnis von Nation, Staat und Kapitalismus auseinander. Er rekapituliert dazu staatstheoretische Aussagen von Hegel, Marx, Engels und Gramsci und ordnet die Frage nach dem Absterben des Staates geschichtsphilosophisch ein. Auch wenn ein handlungsfähiger Nationalstaat einem „minimal state“ vorzuziehen sei, dürfe dies nicht über den Klassencharakter beider Konstrukte hinwegtäuschen. Diether Dehm reflektiert die Widersprüchlichkeiten von Staatlichkeit im Kapitalismus, die nur dialektisch zu fassen seien. Daraus leitet er Handlungsoptionen für die politische Linke ab. Nicht den Staat gelte es zu überwinden, vielmehr seien die ihm (inzwischen) innewohnenden demokratisierenden Potentiale zu entfalten und für den politischen Kampf zu nutzen.

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Weitere Beiträge: Im Rahmen des in der vergangenen Ausgabe (Z127, September 2021) begonnenen Artikel-Projekts „Entwicklungstendenzen der Sozialstruktur der BRD 1996-2019“ gibt André Leisewitz einen Überblick über die Entwicklung der sozial sehr heterogenen sozialstatistischen Gruppe der sog. Selbstständigen, zu der sowohl prekäre Solo-Selbstständige wie fungierende Eigentümerkapitalisten gehören. Im zweiten Teil seines Beitrags zu Faschismus und Massengefolgschaft geht Dieter Boris der Frage nach, welche sozialen Klassen und Gruppen die Anhängerschaft der Nazis umfasste und mit welcher materiellen aber auch sozialpsychologischen Motivation sich diese voll oder auch nur teilweise dem Faschismus anschlossen. Im Fazit verdeutlicht der Autor, dass es sich keineswegs um rein historische Fragestellungen handelt. Der Afrikanist Ulrich van der Heyden setzt sich mit Verfälschungen der DDR-Solidaritätspolitik und Problemen der „Vertragsarbeiter“ in der DDR auseinander. Er wendet sich gegen Versuche, die realpolitischen Entscheidungen der 1980er Jahre als Benachteiligung dieser Arbeiterinnen und Arbeiter darzustellen. Georg Stamatis kritisiert Entwicklungen im Lager neoricardianisch orientierter Ökonomen. Neoricardianer sind – vereinfacht gesagt – Marxisten in der Tradition von Piero Sraffa, die die Marx’sche Arbeitswerttheorie ablehnen. Diese seien inzwischen zur neoklassischen Produktionsfaktorentheorie übergelaufen: Im Ergebnis steht eine Theorie der Einkommensverteilung, bei der Arbeit und Kapital den ihnen zustehenden Anteil erhalten, in der es keine Ausbeutung gibt. Anna Weber berichtet über die aktuelle Auseinandersetzung um eine temporäre Aussetzung des Patentschutzes für die Herstellung von Covid-19-Impfstoffen, der sich die entwickelten kapitalistischen Länder einschließlich der BRD vehement widersetzen.

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In eigener Sache: Z 129 (März 2022) wird – im Kontext der aktuellen Lieferketten-Krise – Warenketten und Wertübertragung als zentralen Aspekt der globalisierten kapitalistischen Weltwirtschaft behandeln. Zur Auseinandersetzung um Werttheorie und „neue Marx-Lektüre“ schreiben u.a. Michel Heinrich und Ehrenfried Galander/Axel Rüdiger.

Last but not least: Z unterstützt die Kampagne für ein Solarkraftwerk für Cuba – sh. Umschlagseite 2 – und bittet seine Leser:innen um entsprechende Spenden an die dort genannte Initiative „Netzwerk InterRed Cooperación e.V.“.