Ideologie-Theorie

Der Komplex Ideologie

Juni 2012

Kein ein anderer Grundbegriff marxistischen Denkens ist so umstritten wie der Begriff der Ideologie. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, dass die mit ihm bezeichneten Sachverhalte höchst Disparates umfassen. Sie reichen von Inhalten und Formen des Bewusstseins bis zu sozialen Institutionen, Vergesellschaftungsformen, psychischen Dispositionen und Sachverhalten alltäglicher Lebenspraxis; in einem solchen Maß, dass hier von dem ‚Komplex Ideologie’ (bzw. ‚des Ideologischen’) zu sprechen ist. Eine kohärente, alle Seiten dieses Komplexes umfassende Theorie liegt nach meiner Kenntnis nicht vor. Was es gibt, sind Theorien, die bestimmte Aspekte dieses Komplexes behandeln – meist zu Lasten anderer. Auch die hier vorgestellten Überlegungen beanspruchen nicht, das Gesamt dieses Komplexes zu erfassen. Sie geben die Skizze eines Entwurfs, der Aspekte vorhandener Ideologiebegriffe in ein integratives Konzept einzubinden versucht. Seine Grundorientierung hat dieses in dem von Marx und Engels entwickelten Begriff von Ideologie. Es ist ein dialektischer.[1]

I. Exponierende Thesen

1. Ideologie, wie der Begriff hier verstanden wird, bezieht sich auf einen Komplex von Komplexen. Seinen Kern bildet der Begriff der ideologischen Form. Ihm zugeordnet ist, was ich die Dialektik des Ideologischen nenne: dass es verkehrtes Bewusstsein realer Sachverhalte ist, in ihm Unwahrheit und Wahrheit, Integration und Widerstand zusammentreten. An seinen Rändern steht auf der einen Seite falsches Bewusstsein, auf der anderen ideologische Vergesellschaftung. Zum Komplex der ideologischen Form gehört Bewusstsein als soziales Verhältnis in dem Sinn, dass Ideologien Teil des Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse mit bestimmten, oft widerstreitenden Funktionen sind. Zum Komplex falschen Bewusstseins gehören Trug, Lüge und ideologischer Schein wie diesen entsprechende Weltbilder.

2. Der Komplex Ideologie geht epistemologisch über den Bereich gesellschaftlichen Bewusstseins hinaus, obwohl er in diesem seinen Kern hat. Er ist ihm zugeordnet, ist jedoch nicht identisch mit ihm. Er reicht in psychische Prozesse, damit in das gesellschaftliche Unbewusste hinein.[2] Ideologische Formierung bedeutet nicht nur Formierung des Bewusstseins, sondern auch Formierung der Psyche, ja der menschlichen Körperlichkeit. Sie betrifft den ‚Menschen ganz’. Im ideologischen Streit wird um Bewusstsein, Seele und Körper gerungen. Von einer Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins ist der Gesamtkomplex des Ideologischen daher nicht vollständig zu erfassen; er bedarf der Ergänzung durch eine Theorie des gesellschaftlich Unbewussten.

3. Der Ideologiebegriff ist seiner Geschichte nach ein kritischer Begriff.[3] An seinem Ausgangspunkt steht die Frage nach dem Charakter herrschenden Bewusstseins, seiner Genesis, seiner Wirkungsweise, seiner herrschaftsstabilisierenden Funktion; in diesem Zusammenhang die Frage nach falschem Bewusstsein: nach Lüge, Trug, Vorurteil, dem Schein falschen Wissens. Gestellt wird die Frage im erkenntnis- wie im herrschaftskritischen Sinn, oft in der Einheit beider – in der Perspektive aber wahrer Erkenntnis und der Aufhebung unterwerfender Verhältnisse. Die ideologiekritische Frage betrifft also verschiedene ‚Seiten’ des Begriffs des Ideologischen und der Ideologie. Dieser ist als Einheit aller seiner Seiten zu sehen – als Komplex von Komplexen. Er konstituiert sich nur in der Einheit seiner verschiedenen Momente als dialektischer Begriff. Die Herauslösung eines bestimmten Aspekts, die Trennung des Einen vom Anderen führt unausweichlich zu einem verengten Begriff des Ideologischen und der Ideologie. Sie führt zu theoretischem Reduktionismus.

4. Ideologie bezeichnet materiell existentes gesellschaftliches Bewußtsein in bestimmter historischer Form und Funktion, nicht jedoch gesellschaftliches Bewußtsein überhaupt. Ideologie ist historisch-genetisch an Arbeitsteilung und Klassenverhältnisse gebunden, doch ist auch innerhalb von Klassengesellschaften nicht alles Bewusstsein ideologisch. So ist Wissenschaft zwar in ideologische Kontexte eingebunden, oft auch ideologisch deformiert – wissenschaftliche Erkenntnisse im strengen Sinn sind nicht notwendigerweise ideologisch. Eine physikalische Theorie ist wahr, falsch oder eine Mischung von beiden – doch nicht per se ideologisch. Sie wird es erst (oder kann es werden) durch einen bestimmten Gebrauch – so im Kontext von Weltbildern. Auch die Kunst, obwohl eine ideologische Form im geradezu klassischen Sinn, vermag unter bestimmten Bedingungen ihre ideologische Begrenzung zu überschreiten, wahre Erkenntnis: unverstelltes Erfassen realer Sachverhalte, damit „freie geistige Produktion“ (MEW 26.1, 257) zu werden. Unter bestimmten Bedingungen ist nichtideologisches Bewusstsein also auch in Klassengesellschaften möglich. Deren erste ist die konsequente kritische Selbstreflexion.[4]

II. Kritik des Bewusstseins

Die Theorie der Ideologie und des Ideologischen ist auf der ersten und grundlegenden Ebene Kritik des Bewusstseins. Kritik, erinnern wir, ist eine Grundkategorie marxistischen Denkens. Kritik als konkrete Negation ist Bestandteil dialektischer Methode. Als Begriff der Methode fragt sie nach Grundlagen und Grenzen von Erkenntnis, bezogen auf einen bestimmten Gegenstand, entwickelt diesen historisch-genetisch in seinen kategorialen Bestimmungen; wobei sie dieses Fragen zugleich auf sich selbst bezieht – eingedenk des Maxime, dass „der Erzieher selbst erzogen werden muß“ (MEW 3, 5f.).

Kritik der Ideologie und des Ideologischen meint in ihrem Kern zweierlei: Kritik materieller gesellschaftlicher Verhältnisse und Kritik des Bewusstseins; wobei Bewusstsein als Ausdruck und Bestandteil materieller gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden wird. Die Kritik des Bewusstseins ist also Teil der Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie ist kritische Analytik herrschenden Bewusstseins, seiner Formen, Inhalte und Funktionen. Kernkategorie dieses Zusammenhangs ist Ideologie. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind Gegenstand der Kritik, sofern sie Verhältnisse sozialer Herrschaft, der Unterwerfung und Ausbeutung sind. Die Kritik dieser Verhältnisse erfolgt in der Perspektive ihrer Aufhebung: mit dem Ziel umfassender menschlicher Emanzipation. Dieser Sachverhalt gilt auch für die Kritik des Bewusstseins. Er bildet den Kern des Begriffs der Kritik von Ideologie.

Ideologiekritik ist als Erstes Kritik falschen Bewusstseins, das als gesellschaftlich produziert, in bestimmten Fällen als notwendig falsches Bewusstsein (durch gesellschaftliche Zwänge erzeugt) verstanden wird. So wenig ein dialektischer Begriff von Ideologie in der Kritik falschen Bewusstseins aufgeht – diese ist nach wie vor, und heute mehr als je zuvor die erste und grundlegende ideologiekritische Aufgabe: die Kritik wahnhafter Massenideologien, von Militarismus, Faschismus, Antisemitismus, Rassismus jeglicher Spielart; ganz gleich, in welchem Gewand sie sich zeigen; die Kritik der Mythen der Macht, des Eigentums und der Herrschaft, der Ideologeme der Kulturindustrie, des Markts und des Alltagslebens – das Aufdecken der Vernetzung von Lüge, Trug und ideologischem Schein.[5] Dazu gehört die Kritik der Gewalten ideologischer Macht, zu denen heute an erster Stelle die medialen Apparate und die Fetische der Ware und des Markts zu rechnen sind. Und dazu gehört nicht zuletzt die Kritik der heute dominanten Herrschaftsideologie: des Neoliberalismus in seinen offenen und verdeckten, direkten und indirekten Gestalten. Zu den kategorialen Elementarformen falschen Bewusstseins gehören: Ideologem, Mythe, Fetisch und Idol.[6]

Kritik des Bewusstseins hat aber noch einen ganz anderen Sinn, nämlich den der kritischen Reflexion, die nach Möglichkeiten, Leistungen und Grenzen von Wissen und Erkennen fragt. Ideologie in diesem Zusammenhang – es ist ein epistemologisch-erkenntnistheoretischer – bezeichnet borniertes, seiner Voraussetzungen und Grenzen nicht bewusstes Bewusstsein, jede sich absolut setzende Theorie oder Weltanschauung, d. h. jede solche, die ihre Voraussetzungen, Interessen und Grenzen wie die Relativität ihres Wissens nicht reflektiert – unabhängig von ihrer Art und ihrem Charakter. Dies gilt für idealistische und materialistische Theorien in gleicher Weise – es gilt auch für Einzelwissenschaften, wenn sich diese, wie zuletzt Biologie und Neurowissenschaften, zur philosophischen Universalwissenschaft aufspreizen. Und es gilt nicht zuletzt auch für den Marxismus in seinen offiziösen und dogmatisierten Gestalten.

Die Kritik des Bewusstseins im epistemologisch-erkenntnistheoretischen Sinn wendet sich gegen jede sich ideologisch setzende Weltanschauung und Theorie. Sie schließt damit aber die Selbstkritik des Bewusstseins notwendig ein. Ich spreche hier von der Selbstbezüglichkeit des kritischen Ideologiebegriffs. Das will sagen: Dieser wendet sich kritisch gegen den Mangel an Aufklärung über Voraussetzungen, Charakter und Ziele des eigenen Denkens. Ideologiekritik fängt im eigenen Hause an. Ideologiefreies Bewusstsein ist nur dort möglich, wo eine Theorie rigoros und methodisch stringent ihre politisch-sozialen wie epistemischen Voraussetzungen, Zielsetzungen und Interessen reflektiert. Auch der Marxismus ist nicht per se ‚ideologiefrei’. Er kann es sein, wenn er die genannten Bedingungen erfüllt.

Der Marxismus ist ideologisch in dem Sinn, dass er, als Gestalt des Bewusstseins und Weltanschauungsform, in gesellschaftliche Prozesse eingebunden, Teil dieser Prozesse ist, in ihnen agiert, daher auch immer von ihnen geformt und beschränkt ist, in seinen organisatorischen und institutionellen Formen auch materiell existiert. Er ist somit alles andere als ‚voraussetzungslos’. Er ist jedoch, der Möglichkeit nach, ideologiefreies Bewusstsein, wenn er diese Voraussetzungen, seine Zielsetzungen und Grenzen (zu denen nicht zuletzt auch die Grenzen seines Wissens gehören) kritisch reflektiert – wenn er, mit anderen Worten, dem Relativitätsprinzip menschlichen Erkennens entspricht.[7] Mehr als bürgerliche Theorien freilich ist der Marxismus zu einer kritischen Selbstbezüglichkeit imstande – da sie zu den (freilich oft vergessenen) Prinzipien seines Selbstverständnisses gehört. Selbstkritik ist Teil der Konstitutionsbedingungen des Marxismus als Wissenschaft.

III. Dialektik des Ideologischen

Ideologie als dialektischer Begriff meint mehr als falsches oder sich absolut setzendes Bewusstsein. Er schließt die Ebene der Kritik des Bewusstseins ein, geht aber über sie hinaus. Im Zentrum des dialektischen Ideologiebegriffs steht die Struktur einer Verkehrung. Für Marx und Engels sind Ideologien gesellschaftlich verursachte Verkehrungen des Bewusstseins. Mit der Herausbildung von Arbeitsteilung und Klassenverhältnissen entsteht die Form der Verkehrung, in der das Bewusstsein sich als Erstes setzt, das wirkliche Leben als Zweites. Auf dieser Grundlage erst entsteht die Camera obscura des Bewusstseins, in der die Menschen und ihre Verhältnisse „auf den Kopf gestellt erscheinen“ (MEW 3, 26). In Form der Camera obscura also wird Bewusstsein zu Ideologie.

Das Falsche der Ideologie ist also nicht einfach ihre ‚Unwahrheit’, es ist die Form der Verkehrung. D. h. aber, Ideologien sind prinzipiell ‚wahrheitsfähig’ – sie können Momente von Wahrheit enthalten, doch sind diese der Form der Verkehrung abzugewinnen. Ideologien sind also epistemologisch dialektisch verfasst. Sie verkörpern Wahrheit und Unwahrheit – oder können sie doch verkörpern.

Des Näheren. Marx und Engels setzen im Anschluss an die Aufklärung am Begriff falschen Bewusstseins an, sie verstehen dies aber nicht mehr als bewussten Betrug von Priestern und Despoten, sondern als notwendiges Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse; ‚notwendig’, weil aus dem „historischen Lebensprozess“ der Menschen mit gleicher Gesetzmäßigkeit hervorgehend wie bei der Camera obscura „die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen“ (MEW 3, 26). Ideologien sind gesellschaftlich verursachte Verkehrungen des Bewusstseins. Ihre Genesis haben sie in Arbeitsteilung und Klassenverhältnissen. Von dem Augenblicke an, „wo eine Trennung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt“, „kann sich das Bewusstsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewusstsein der bestehenden Praxis zu sein“ (ebd., 31). Auf dieser Grundlage erst entsteht die Verkehrung, in der sich das Bewusstsein, das in Wahrheit „in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen“ verflochten, „Sprache des wirklichen Lebens“ ist (ebd., 26), als Erstes setzt, das wirkliche Leben dagegen als abgeleitetes Zweites. Auf dieser Grundlage erst „ist das Bewusstsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der ‚reinen’ Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. überzugehen“ (ebd., 31) – entsteht die Camera obscura des Bewusstseins. Exakt dieses Verhältnis ist es: die Bestimmtheit menschlichen Bewusstseins durch den ‚wirklichen Lebensprozeß’ (MEW 3, 26), das im Camera-obscura-Effekt der Ideologie „auf den Kopf gestellt“ erscheint.

Der Grundcharakter des Ideologischen ist also die Verkehrung des Bewusstseins – das ‚Falsche’ der Ideologie nicht einfach ihre ‚Unwahrheit’ (geschweige denn, dass sie bloße Lüge, Traum oder Trug sei), sondern es ist die Form der Verkehrung. Ideologien sind dieser Auffassung zufolge durchaus wahrheitsfähig, ja komplexe Ideologien wie Religion, Recht, der philosophische Idealismus sind gerade dadurch charakterisiert, Wahrheit in verkehrter Form zu enthalten. Die Wahrheit von Ideologien ist so der Form der Verkehrung abzuringen. Sie sind, was Marx von der Hegelschen Philosophie auch sagte, vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ideologien – komplexe Ideologien – haben also eine dialektische Struktur: Sie verkörpern Widerspruchszusammenhänge, sind Terrain unterschiedlicher Kräfte, divergierender Tendenzen, Orte von Kampf und Widerstreit, von Unwahrheit und Wahrheit. Sie besitzen fraglos die Tendenz zur Homogenisierung (dies gehört zur Struktur des Ideologischen), sind in sich jedoch alles andere als homogen. In diesem Sinn ist von der Dialektik des Ideologischen zu sprechen.

Teil dieser Dialektik ist also die Verschränkung von Wahrem und Falschem im ideologischen Bewusstsein selbst. Nichts könnte falscher sein als das Ideologieverständnis von Marx und Engels auf die einfache Notation ‚falschen Bewusstseins’ festzulegen. „Das Schwierige am Marxschen Ideologiebegriff, das aber zugleich dessen Unentbehrlichkeit zur Analyse des widersprüchlichen Phänomens menschlichen Bewusstseins ausmacht“, schreibt Bürger mit Rückgriff auf Adorno, „liegt darin, dass dieser als falsches Bewusstsein ein Gedankengebilde denunziert, dem er doch zugleich Wahrheit nicht abspricht. (...) Eine nach dem Muster der Marxschen Religionskritik konzipierte Ideologiekritik (…) fördert dessen historische Wahrheit (…) erst zutage“ (Bürger 1975, 31f.). So ist die Religion für Marx „ein verkehrtes Weltbewusstsein“, weil die Welt, die sie hervorbringt, eine „verkehrte Welt“ ist: „in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend“ – die „phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt“ (MEW 1, 378). Ein weiteres klassisches Beispiel für die Dialektik des Ideologischen ist die Hegelsche Philosophie. Im gewissen Sinn ist sie geradezu Paradigma für Ideologie als verkehrtes Bewusstsein, wird doch in ihr, wie in allem Idealismus, Bewusstsein als ontologisch Erstes gesetzt, und in der Tat könnte die Marxsche Kritik an ihr, in den Frühschriften formuliert, größer nicht sein. Aus dieser Kritik gewinnt der junge Marx bekanntlich seine eigene Position. Zugleich aber arbeitet er von Beginn an auch die produktive Bedeutung der Hegelschen Philosophie heraus, ihre in der idealistischen Form verborgenen Wahrheit: dass sie den geschichtlichen Prozess als Produktionsprozess des menschlichen Wesens begreift – wenn auch in idealistischer Form (MEW EB I, 568-88). Und in den Feuerbach-Thesen greift er, noch über Hegel hinaus, programmatisch auf die philosophische Leistung des Idealismus zurück, wenn er diesem bescheinigt, im Gegensatz zum „alten Materialismus“, die „tätige Seite“ entwickelt zu haben, wenngleich in ‚abstrakter’, nicht sinnlich gegenständlicher Gestalt. (MEW 3, 5). Seine eigene Position, die des ‚neuen Materialismus’ entwickelt er so als Synthesis des alten Materialismus und der idealistischen (vor allem Hegelschen) Philosophie – in der Grundkategorie ‚gegenständlicher Tätigkeit’ sind die Wahrheitsmomente beider Positionen aufgehoben.

Seinen Kern hat der dialektische Ideologiebegriff im Konzept der ideologischen Form, wie es in Marx’ Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) exponiert wird. Hier unterscheidet Marx zwischen „ökonomischer Struktur“ („Gesamtheit der Produktionsverhältnisse“), „juristischem und politischem Überbau“ und den der ökonomischen Struktur entsprechenden „gesellschaftlichen Bewußtseinsformen“. Diese werden des Näheren als „ideologische Formen“ identifiziert (MEW 13, 8f.). Ausdrücklich genannt werden die juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen, philosophischen – es ist anzunehmen, daß diese in Marx’ Auffassung den Kernbestand der ideologischen Formen bilden.

Die ideologischen Formen sind Bewusstseinsformen in einem besonderen Sinn. Sie sind den Strukturen des Überbaus eingelagert und zugleich Teile des durch die „Produktionsweise des materiellen Lebens“ bedingten „sozialen, politischen und geistigen Lebensprozesses“. ‚Produktionsweise’ und ‚Lebensprozeß’ bilden einen Zusammenhang: das ‚Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse’. Es ist Teil einer gesellschaftlichen Formation. Die ideologischen Formen haben im bestimmten Sinn eine eigengesetzliche Struktur. Sie folgen internen Regeln und konstituieren eigenständige Bereiche: Recht, Politik, Religion, Kunst, Philosophie (wir dürfen aus heutiger Sicht auch ‚Wissenschaft’ dazu zählen) mit entsprechenden Praxisfeldern und Institutionen – die gleichwohl mit anderen Bereichen des gesellschaftlichen Ensembles verbunden sind (Gramsci hat dieses Konzept dann mit der Ausarbeitung des Begriffs der ‚Zivilgesellschaft’ erweitert und präzisiert). Die ideologischen Formen, lässt sich sagen, sind autonom und heteronom zugleich: Sie sind strukturell selbstbestimmt (autonom), und sie sind zugleich fremdbestimmt (heteronom), weil durch anderes vermittelt; ihre Autonomie hat also einen relativen Charakter. Sie besitzen so auch eine je besondere Funktion. Diese besteht in dem zugeordneten Doppelten, dass sich in ihnen die Menschen des den Produktionsverhältnissen entstammenden „Konflikts“ (sagen wir: sozialer Konflikte, die in den Produktionsverhältnissen ihren Grund haben)[8] „bewußt werden“ und diesen (diese) „ausfechten“ (ebd.). Ideologische Formen erfüllen damit eine doppelte Funktion: eine gesellschaftlich-epistemische (‚ideelle’) und eine gesellschaftlich-praktische (‚funktionale’): Sie sind Ort der Bewusstseinsbildung, und sie sind Ort des Kampfs. Sie sind in jedem Fall mehr als bloßer Reflex ökonomischer und sozialer Verhältnisse, mehr auch als Instanzen der Integration und Unterwerfung (sie sind dies auch, aber sie sind dies nicht nur). Die ideologische Form, in ihrem Kern, ist Terrain eines Konflikts.

Resümee: Marx’ Aussagen sind nur verständlich, wenn wir die ideologische Form zugleich als Bewusstseinsform und als Praxisform oder Praxisfeld (sozialen Bereich) verstehen. Der Begriff der ideologischen Form verweist damit auf den Begriff der Ideologie und des Ideologischen zurück, wie er in den früheren Schriften, insbesondere der Deutschen Ideologie gefasst wird. Ideologie in diesen Texten, wir sagten es, bezeichnet keinen einfachen Sachverhalt noch eine eingliedrige Relation, sondern einen Komplex von Komplexen: die materielle soziale Existenz von Bewusstsein. Ideologie ist Bewusstseinsform, gesellschaftliche Macht und Funktion. Zugleich ist sie, als ideologische Form, Raum sozialer Konflikte: ihres Bewusstwerdens, ihrer Artikulation und ihres Austrags. Sie existiert nie als Isoliertes, sondern innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse und als (oft institutionalisierter) Teil von ihnen. Ideologie bezeichnet Bewusstsein als Praxisform samt der ihr zugeordneten Vergegenständlichungen, sozialen Felder und Relationen – ist deshalb auch nur als ein solcher Zusammenhang theoretisch angemessen zu erfassen.

IV. Ideologische Verhältnisse als Teil des Ensembles
der gesellschaftlichen Verhältnisse

Eine zentrale Rolle in der Bestimmung des gesellschaftlichen Orts der ideologischen Form kommt dem Begriff der ideologischen Verhältnisse zu.[9] Diese bilden weniger einen Bereich innerhalb des Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse als dass sie die Verhältnisse dieses Ensembles auf allen Stufen durchdringen. Ihre Keimform ist der Warenfetisch (in entwickelten warenproduzierende Gesellschaften), ihr struktureller Kern die ideologische Form. Das Zentrum der ideologischen Verhältnisse bildet die Zivilgesellschaft. In der gesellschaftlichen Architektur wird sie nach unten hin durch die ökonomische Basis, nach oben hin durch die Institutionen des Überbaus (Staat, Recht, Religion) begrenzt. Mit dem Begriff der ideologischen gesellschaftlichen Formation ist das Gesamt der ideologischen Verhältnisse innerhalb eines historischen Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse gemeint. Er umfasst die Zivilgesellschaft und die sie eingrenzenden gesellschaftlichen Bereiche: Ökonomie und Staat als Zusammenhang von Differentem.

Von zentraler Bedeutung für diesen Zusammenhang ist die Ideologietheorie Gramscis. Diese fasst den Komplex Ideologie im Sinne realer, materiell existenter und funktional wirkender ideologischer Formen in einem Sinn, der institutionelle wie organisatorische Formen einschließt und organisch an die Dimension von Bewusstseinsformen bindet. Gramscis Ideologiebegriff bezeichnet die materielle Existenzweise, d.h. organisatorische und institutionelle Realität wie soziale Funktion von Bewusstsein. Den gesellschaftlichen Institutionen wie Familie, Kirche, Schule, Gewerkschaften, Parteien, Medien, Kunst, Literatur, Philosophie, Wissenschaft sind – ihnen entsprechend und durch sie vermittelt – lebenspraktische ‚Rituale’ zugeordnet: Praxisformen, Haltungen und Verhaltensweisen, Normen und Orientierungen. Ideologie bedeutet damit soziale Verkörperung von Bewusstsein wie auch Bewusstseinsformen sozialer und politischer Bewegungen: Ideen als Handlungen. Als Ideologie gilt Gramsci „jede Weltanschauung, jede Philosophie, die zu einer kulturellen Bewegung, einer ‚Religion‘, zu einer praktischen Aktivität geworden ist“ (Gramsci 1967, 134).

Die materiell existenten ideologischen Formen in ihrer Gesamtheit bilden einen relativ eigenständigen gesellschaftlichen Bereich: die ‚zwischen’ Basis und Überbau angesiedelte Zivilgesellschaft (società civile). Mit diesem Begriff bezeichnet Gramsci „die Gesamtheit der ideologisch-kulturellen Beziehungen.“ „In der ‚società civile’ werden alle jene formell vom Staat (‚società politica’) getrennten und insofern ‚privaten’ Institutionen und Organisationen wirksam, die das ideologische und kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft prägen und dadurch die Hegemonie der herrschenden Klasse und den gesellschaftlichen Konsensus garantieren. Die ‚società civile’ vermittelt zwischen der ökonomischen Basis und dem Staat im engeren Sinn“ (Priester 1977, 516). Sie ist der Kernbereich, in dem sich das Bewusstsein der Mehrheit der Menschen formiert, an dem um dieses Bewusstsein gerungen wird – sich schließlich auch die Menschen ihrer Lebenslage: der Konflikte, in denen sie stehen, bewusst werden und diese austragen, der Kampf um Hegemonie (um Herrschaft durch Konsens) sich abspielt. Sie ist damit zugleich der Ort von Integration und Unterwerfung wie von Widerstand und Emanzipation.

Die hegemoniale Herrschaft wird durch ein Geflecht von Ideologien, Institutionen, medialen Apparaten und Ritualen hergestellt und aufrecht erhalten (zu ihnen gehören Familie, Kirche, Schule, Universität, publizistische Medien usf.). Diese organisieren den Konsens der Menschen durch Interiorisierung herrschaftskonformer Einstellungen, Haltungen und Werte, nicht zuletzt durch die Umsetzung der herrschenden Gedanken ins Alltagsbewusstsein der ‚subalternen’ Klassen – in den ‚Geist der Zeit’. Der Kampf um kulturelle Bildung der Beherrschten, ihre Konstitution als Subjekte, ihr eigener Kampf um Befreiung und humane Emanzipation ist daher ein Kampf gegen die herrschenden Ideologien innerhalb der ideologischen Institutionen, Apparate, Medien, also innerhalb der sozialen Formen der società civile. Er schließt die Kritik herrschender Ideologie - der theoretischen ideologischen Systeme wie der interiorisierten Formen herrschender Ideologie im Alltagsbewusstsein – in sich ein, ja hat diese Kritik zur Voraussetzung. Er setzt an in der Kritik des ‚Alltagsverstandes’ – der ‚Selbstkritik’ der ‚subalternen Klassen’. Diese Klassen führen diesen Kampf unter Anleitung ihrer organischen Intellektuellen, deren kollektive institutionelle Verkörperung Gewerkschaft und politische Partei sind. Für die Durchführung dieses Kampfes schaffen sich die Beherrschten ihre eigenen Organisationen, Institutionen und Apparate: Gewerkschaften, Parteien, eigene publizistische Medien, Kunst, Literatur – eine ‚Zweite Kultur‘.[10] Die Erringung der Hegemonie (politisch-moralisch-kultureller Führung) im Bereich der società civile ist Voraussetzung für die Erringung der politischen Macht. Sie ist Teil des Prozesses revolutionärer Transformation: des Aufbaus einer neuen ‚integralen Kultur’, die allein die praktisch durchgeführte Konstituierung aller Gesellschaftsmitglieder zu selbstbestimmten Subjekten langfristig ermöglichen kann.

V. Ideologische Vergesellschaftung

Die Elementarformen des Ideologischen sind Warenfetisch, Idole des Markts und Fetische des Alltagslebens; ihnen zugeordnet ist das Warenästhetische (Haug) – monopolkapitalistische Erscheinungsform des Warenfetischs – als Psyche, Bewusstsein und Körper formierende Kraft. Zu den Fetischen des Alltagslebens (ich spreche von der imperialistischen Gesellschaft) gehören Leistung, Erfolg, Akzeptanz, Repräsentanz und Geltung, Sex, Jugend, Schönheit und Sport. Diese entfalten eine zwang- und wahnhafte Wirkung, in einer Weise, dass vom Zwangscharakter der ideologischen Elementarmächte im Imperialismus, von ideologischer Gewalt gesprochen werden muss.[11] Als ideologische Elementarmächte fungieren sie in Konjunktion. Sie fundieren und ergänzen im Prozess ideologischer Vergesellschaftung – der Eingliederung der Subjekte in eine existierende gesellschaftliche Struktur, ihrer Formierung im Sinn einer gegebenen Gesellschaft – die Arbeit der ideologischen Mächte Staat, Recht, Religion, Bildung wie der diesen zugeordneten Institutionen, Wirkungsweisen und Funktionen. Ja die ideologischen Elementarmächte wirken konstitutiv in konzeptive Ideologien: in Wissenschaft, Philosophie, Kunst hinein; meist im Sinne sublimierender Reproduktion, können jedoch, in gegenläufigen emanzipativen Formen, zum Gegenstand kritischer Bearbeitung werden.

Der zentrale Ort ideologischer Vergesellschaftung freilich ist die Zivilgesellschaft. In ihren Formen prägt sich das ideologische und kulturelle Profil einer Gesellschaft aus – konstituiert sich das Selbstbewusstsein einer historischen Zeit. In ihr brechen sich die Tendenzen ideologischer Vergesellschaftung, sowohl die, die ‚von unten’ – aus ökonomischer Basis und alltäglichem Lebensprozess – als auch die, die ‚von oben’ – den ideologischen Mächten des Überbaus – kommen. Der Vorgang ideologischer Vergesellschaftung ist also nicht eingliedrig als Bewegung ‚von oben nach unten’ zu denken, sondern als ein solcher, der sich in mehrgliedriger Bewegung vollzieht. Er hat seinen Ursprung in Basisprozessen bzw. in diesen entspringenden kulturellen Erscheinungen (Warenfetisch, Idole des Markts, Fetischformen des Alltagslebens). Sie betreiben als ideologische Elementarmächte das Werk einer ‚ursprünglichen’ Vergesellschaftung. Erst als zweite Dimension tritt die ‚Vergesellschaftung von oben’ – die Vergesellschaftung durch die zentralen ideologischen Mächte (Staat, Recht, Religion, Familie, Schule, Moral) hinzu. Das Zentrum, im gewissen Sinn auch den Brennpunkt dieses Prozesses bildet die Zivilgesellschaft. Sie ist zugleich auch der Ort der Artikulation konzeptiver Ideologien (Weltanschauungen, Leitbilder, Wertmuster), in denen die gegenläufigen Vergesellschaftungsformen verarbeitet werden; der Brennpunkt, in dem sich diese brechen. Ideologische Vergesellschaftung ist Resultat des Zusammenwirkens aller dieser Faktoren. An ihrem Prozess aber sind die Menschen auf allen Stufen als Tätige beteiligt: Sie vergesellschaften sich, indem sie vergesellschaftet werden. Insofern ist ihre Form auch die eines Widerstreits, in der sich mit Anpassung und Unterwerfung zugleich Subjektwerdung: kulturelle Bildung vollzieht – zumindest vollziehen kann. Die Struktur des Konflikts betrifft die Zivilgesellschaft als ganze. Sie ist, ich sagte es, nicht nur Stätte der Eingliederung und Integration, sondern zugleich das Terrain von Konflikten – die Arena, in der der Kampf um kulturelle Hegemonie ausgetragen wird.

Kritische Notiz zum Projekt Ideologietheorie (PIT)[12]

Der Begriff der Ideologie und des Ideologischen, wie er von Haug und dem von ihm geleiteten Projekt Ideologietheorie (PIT) seit den 1970er Jahren ausgearbeitet wurde und in einer Reihe beeindruckender Publikationen Eingang fand, hat, dem Selbstverständnis der Autoren nach, den Charakter eines „Paradigmenwechsels“ der Ideologietheorie. Es versteht sich als Teil einer „marxistischen Erneuerung in der Ideologieforschung“, wie sie sich neben Althusser auch in England mit Stuart Hall herausgebildet hat. Die Übereinstimmung der verschiedenen Richtungen besteht darin, „das Ideologische nicht mehr primär als Bewusstseinsphänomen aufzufassen, sondern als materielle Apparatur, die in und über der Gesellschaft den Konsens herstellt, der die Beherrschten an die Herrschaft bindet. (…) zu untersuchen sind wirkliche Hegemonieapparate, Institutionen mit unterschiedlichen Ideologien, materiellen Praxen und Ritualen, die aufs Unbewusste einwirken und daher mit einer Kritik ‚falschen Bewusstseins’ nicht erfasst werden können“ (Rehmann 2009). Damit grenzt sich die Ideologietheorie nicht nur von der bloßen Bewusstseinskritik ab, sie nimmt auch „Abstand von Wahrheitsfragen“ (Reitz 2004, 692), sie wechselt „vom Wahr-Falsch-Gegensatz zur Analyse der Wirkungsweise“ von Ideologien (Rehmann 2004, 718). „Das Ideologische bezeichnet die Grundstruktur ideologischer Mächte ‚über’ der Gesellschaft und damit den Wirkungszusammenhang einer ‚entfremdete Vergesellschaftung-von-oben’.“ (Rehmann 2008, 155) Der ideologische Vergesellschaftungsprozess wird so als hierarchische Anordnung gedacht, durch „Fremdvermittlung“ von „aus der Gesellschaft ausgelagerten, von ihr entfremdeten ideologischen Instanzen“ (ebd., 153). „Das Ideologische“, so Haug in einer Schrift von 1993, die die Summe seiner Forschungen zieht, „ist die Reproduktionsform der Entfremdung, ideelle Vergesellschaftung im Rahmen staatsförmig regulierter Herrschaft.“ Es ist „eine analytische Kategorie, die Wirkungszusammenhänge der Herrschaftsreproduktion (…) aussagt“ (Haug 1993, 17), die kritische Theorie des Ideologischen eine „Theorie herrschaftsförmiger Vergesellschaftung und des Handelns in ihren Strukturen“ (ebd.). Dabei bezieht Herrschaft die Beherrschten ein. Ihre Reproduktion hat den Charakter „eines Kompromisses mit Dominante“. Ein solcher Kompromiss leistet mehr als die bloße Legitimation von Herrschaft. „Strukturelle Kompromisse wie das Recht und die Religion bilden Arenen sozialer Kämpfe.“ (Ebd.) Haug beruft sich dabei auf Althussers Theorie der ideologischen Staatsapparate und die Gefängnishefte Gramscis. Seine eigene Position lässt sich als Versuch einer Vermittlung zwischen dem strukturalen Objektivismus Althussers und dem Historizismus Gramscis verstehen. Ob diese Vermittlung gelingt, ja ob sie möglich ist, ist allerdings sehr die Frage.

Dem ideologietheoretischen Unternehmen Haugs und des PIT ist große Konsequenz zu bescheinigen. Die Grundlinien ihres Konzepts sind bereits in den frühen Veröffentlichungen präsent. So wird der Bruch mit repräsentativen Positionen schon in einem Grundlagentext von 1979 reklamiert (PIT 1979, 201). „Ideologie“ bzw. „das Ideologische“, heißt es dort, soll „nicht mehr primär als Geistiges (...), sondern als Modifikation und spezifische Organisationsform des ‚ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse’ und der Teilhabe der Individuen an der Kontrolle dieser Verhältnisse oder auch nur ihrer Einbindung in sie“ verstanden werden (ebd., 179f.): als „Wirkungszusammenhang ideeller Vergesellschaftung-von-oben“ (ebd., 181). Die erste ideologische Macht ist nach dieser Konzeption der Staat, die zweite das Recht. Unterschieden wird weiter zwischen bestimmten Ideologien und dem Ideologischen im Allgemeinen. Letzteres ist „die Grundstruktur der entfremdeten Vergesellschaftung-von-oben, unlösbar verbunden mit der staatsförmigen Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft und der Funktionen des Gemeinwesens“. Die Ideologien, als „Komplexe praktischer Normen und als Ideengebäude“ bzw. „‚von oben’ organisierte Weltanschauung“, fungieren im Rahmen des Allgemein-Ideologischen, werden damit als sekundär im Verhältnis zu diesem bestimmt. Existiert das Ideologische im Allgemeinen stets „als Wirkungszusammenhang besonderer ideologischer Mächte“, so determinieren diese wiederum „spezifische ideologische Formen“ (Politik, Recht, Religion, Kunst, Moral, Philosophie), die ihrerseits „spezifische ideologische Praxen (definieren)“. Deren Gehalt „ist die Regulierung bestimmter funktioneller Ausschnitte der Vergesellschaftung, und zwar stets in der ver-rückten gemeinsamen Grundstruktur des Von-oben-nach-unten“ (ebd., 187f.). Der Ideologie und dem Ideologischen gegenübergestellt werden Kultur und Kulturelles.[13] Sie bilden, im Sinne einer ‚horizontalen’, ‚selbstzweckhaften’ Vergesellschaftung den diametralen Gegensatz zum Ideologischen (ebd., 184f.). Ein weiterer Gegenbegriff zur Ideologie ist der Begriff der Wissenschaft. Folgerichtig wendet sich das PIT gegen die ‚positive’ Verwendung des Ideologiebegriffs, so in der Charakterisierung des Marxismus als ‚wissenschaftlicher Ideologie’ bzw. ‚Ideologie der Arbeiterklasse’. Zu Recht wird argumentiert, dass sich mit einer solchen Benennung der kritische Sinn des Ideologiebegriffs verflüchtigt.

Wollen wir ein Fazit ziehen, so ist zu sagen, dass mit dem Konzept der ideologischen Vergesellschaftung ein wesentlicher, bislang unterbelichteter Aspekt der Theorie des Ideologischen herausgearbeitet wurde, dessen Bedeutung nicht zuletzt darin besteht, Herrschaftsreproduktion in Klassengesellschaften analytisch verstehbar zu machen – als Beitrag vor allem zu einer Kritik der Herrschaftsreproduktion gegenwärtiger Gesellschaft. Keine dialektische Ideologietheorie kann deshalb auf dieses Konzept verzichten. Dennoch ist es in seiner gegenwärtigen Ausarbeitung von Widersprüchen und Schwächen nicht frei.[14] Sein Hauptmangel besteht darin, dass es ohne zureichende Begründung (und einsichtigen Grund) Ideologie als komplexen Begriff auf einen seiner Aspekte reduziert. Zwar vereinfacht dies die Argumentation, doch kommt das Phänomen des Ideologischen nur noch partiell in den Blick. So fällt mit der Trennung von Vergesellschaftung und Bewusstsein auch die Frage nach dem Inhalt von Bewusstseinsformen, nach ihrer Wahrheit und Unwahrheit, damit die Dialektik des Ideologischen unter den Tisch. Der Preis ist hoch, wenn die Ideologietheorie „Abstand von Wahrheitsfragen“ nimmt (Reitz 2004, 692). Keineswegs wird einsichtig gemacht, warum diese Fragen unwesentlich geworden sind. Übersehen wird, dass im Phänomen ideologischer Vergesellschaftung Unbewusstes und Bewusstes eine untrennbare Symbiose eingehen, in ihm Intellekt und Psyche gleichermaßen betroffen sind. Zwar gibt es ideologische Mächte, die weitgehend ‚unbewusst’ fungieren – im Bereich der Fetischformen des Alltagslebens und Idole des Markts ist dies sicher der Fall. Doch wird durch sie auch Bewusstsein, insbesondere normatives Bewusstsein, werden Werte und Orientierungen formiert – sie wirken so auch in konzeptive Ideologien, Weltanschauungen und Verhaltensmuster hinein. Zudem sind ideologische Praxen stets an Bedeutungen gebunden, die ihrerseits mit Wertorientierungen, praktischen Weltanschauungen usw. verknüpft sind – nicht umsonst spricht Gramsci von der „Religion des Alltagslebens“. Die Trennung von bewusst und unbewusst, Bewusstsein und sozialer Praxis im Begriff der ideologischen Vergesellschaftung hat in der Sache selbst keinen Grund.

Ideologische Vergesellschaftung ist in dieser Theorie ein rein negativer Begriff, Er bezeichnet Prozesse der Subordination und Entfremdung. Damit aber kehrt die Kategorie falschen Bewusstseins in Gestalt falscher Vergesellschaftung wieder – Dialektik im Begriff des Ideologischen wird suspendiert. Haug und das PIT wollen das Ideologische radikal historisch denken und postulieren seine Aufhebung ‚in kommunistischer Perspektive’, doch wird das Historische nicht als Bewegung von Widersprüchen gedacht. So bezeichnet das Ideologische für staatsförmig organisierte Gesellschaften eine omni-historische, statische Struktur. Historische Differenzierungen kommen solcher Betrachtungsweise als qualitative Unterschiede nicht mehr in den Blick; ich denke an die ‚progressive’, zivilisatorische Funktion von Gesellschaften, die wie der ‚klassische’ Absolutismus Englands und Frankreichs im 16. Jahrhundert von einem zentralistisch organisierten Überbau her, also streng staatsförmig strukturiert waren; ich denke an die zivilisatorische Funktion des Rechts (individuelles Recht, Menschenrecht, Völkerrecht). Ignoriert wird, dass Formen ideologischer Vergesellschaftung wie die Funktion von Ideologien überhaupt nur historisch-kontextuell zu bestimmen und zu bewerten sind.

In der Haugschen Konstruktion ist die abstrakte Negation ‚des’ Ideologischen mit der utopistischen Konstruktion einer ‚kommunistischen Perspektive’ korreliert. Das eine ist Bedingung des anderen. Basis der ‚kommunistischen Perspektive’ ist die ‚horizontale Vergesellschaftung’ als Prinzip des Kulturellen. Kultur wird als selbstzweckhafte ‚Vergesellschaftung-von-unten’ der Vergesellschaftung-von-oben entgegengesetzt. Damit wird auch an dieser entscheidenden Stelle Dialektik aufgegeben. Die Opposition Ideologie-Kultur bezeichnet kein dynamisches Verhältnis, sondern einen strukturellen Gegensatz. Die analytische Durchdringung beider Seiten wird durch die Konfrontation von negativ bewerteter ‚Ideologie’ und positiv bewerteter ‚Kultur’, durch das Schema von ‚oben’ und ‚unten’ ersetzt. Der Tatbestand, dass sich Prozesse kultureller Bildung auch in ideologischer Form vollziehen (vollziehen können), rückt so wenig in den Blick wie sein Gegenteil: dass kulturelle Vergesellschaftung in der Klassengesellschaft nie frei ist von Ideologie – in einem bestimmten Sinn notwendig ‚ideologisch’ erfolgt.

Literatur

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Metscher, T. 1984. Anmerkungen zum Ideologiebegriff des Marxismus und zum Ideologiebegriff des ‘Projekts Ideologietheorie’. In: H. H. Holz u.a. (Hg.), Marxismus, Ideologie, Politik. Frankfurt a.M., 218-238

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Mies, T./Tjaden, K.H. (Hg.) 2009. Gesellschaft, Herrschaft, Bewusstsein. Symbolische Gewalt und das Elend der Zivilisation. Kassel

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Seppmann, W. 2010. Marx’ Pointe verpasst. Zu Rehmann 2008. Junge Welt vom 9. Februar

[1] Der hier abgedruckte Text stellt die komprimierte Fassung von Überlegungen dar, die ich in dem ideologietheoretischen Teil meines Buchs Logos und Wirklichkeit des Näheren dargelegt habe (Metscher 2010, S. 321-388), zuzüglich einiger Gedanken, die sich aus seiner kritischen Rezeption ergeben haben.

[2] Zu diesem Begriff vgl. Mies/Tjaden 2009.

[3] In dem auf Lenin zurückgehenden ‚positiven’ Begriff einer ‚wissenschaftlichen Ideologie’ (Metscher 1984, 224-228) geht der kritische Sinn des Ideologiebegriffs verloren. Ich würde ihn daher, bereits aus pragmatischen Gründen, heute nicht mehr verwenden.

[4] Die in These 4 genannten Gesichtspunkte kann ich in dem vorliegenden Text nur ansatzweise behandeln.

[5] Metscher 2010, S. 364; ders. 2009, S. 25-85.

[6] Mit Ideologem sind Trivialformen des Ideologischen gemeint (die gleichwohl eine massenwirksame Kraft entfalten können), mit Mythe ideologische Vorstellungskomplexe, in denen unterschiedliche Momente (narrativer, figurativer, metaphorischer, ikonischer Natur) amalgamiert sind. Zu Fetisch und Idol siehe die folgenden Teile.

[7] Vgl. Metscher 2010, S. 26f.

[8] In Weiterführung dieses Gedankens können wir von dem Grundkonflikt einer Epoche sprechen, dem weitere Konflikte (Nebenkonflikte, ›Partialkonflikte‹) in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zugeordnet sind.

[9] Er lehnt sich an Lenins Begriff der ‚ideologischen gesellschaftliche Verhältnisse’ an (Lenin, Werke 1, S. 128-131).

[10] Vgl. Metscher 2010, S. 350-356.

[11] Vgl. Fn. 5.

[12] Des Näheren Metscher 2010, S. 337-358.

[13] Jetzt auch Haug 2011.

[14] Kritische Einwände sind schon früh und mehrfach vorgetragen worden (Metscher 1983; 1984; Metscher/Steigerwald 1983, zuletzt Seppmann 2010). Meines Wissens wurden sie bisher weder aufgenommen noch widerlegt; auch in den vorliegenden Publikationen sind sie auch bibliographisch nicht verzeichnet. Die theoretische Auseinandersetzung darüber steht also noch aus.