Ideologie und Herrschaft

Juni 2012

[1]

„Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“

(Marquis Posa in Schillers Don Carlos)

„Die Gedanken sind frei

Wer kann sie erraten?

Sie fliehen vorbei

Wie nächtliche Schatten

Kein Mensch kann sie wissen

Kein Jäger erschießen

Mit Pulver und blei

Die Gedanken sind frei“

(Volkslied)

„Man schläft sehr gut und träumt auch gut

In unseren Federbetten.

Hier fühlt die deutsche Seele sich frei

Von allen Erdenketten. […]

Franzosen und Russen gehört das Land,

Das Meer gehört den Briten,

Wir aber besitzen im Luftreich des Traums

Die Herrschaft unbestritten.

Hier üben wir die Hegemonie,

Hier sind wir unzerstückelt;

Die andern Völker haben sich

Auf platter Erde entwickelt. – –“

(Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, Caput VII.)

Sind die Gedanken frei?

Die Frage nach der Freiheit von Gedanken, die sich auf den ersten Blick so einfach und selbstverständlich ausnimmt, steckt voller Tücken. Was sind eigentlich Gedanken? Und worin soll und kann ihre „Freiheit“ bestehen: Muss sie, wie bei Schiller, gewährt werden? Ist sie, wie in dem kleinen von höchst unterschiedlichen politischen Richtungen in Deutschland immer wieder gesungenen Volkslied, die Seinsweise des Denkens? Oder – wie in Heines spöttischem Kommentar – die Flucht in ein virtuelles „Luftreich“? (Freiheit bestünde dann darin, dass die im Federbett ausgebrüteten Träumereien frei von Wirkungen bleiben.) Diese Rekonstruktionen sind unvollständig und abstrakt, also einseitig. Als Gegensätze erscheinen diese Bestimmungen nur, wenn man sie (gewaltsam) auf eine Ebene zwingt. Schillers Marquis Posa fordert vom König bekanntlich nicht, nachts im Bett träumen zu dürfen, was er „will“. Die angesprochene „Gedankenfreiheit“ schließt mancherlei ein: Die Freiheit der Religion, die Freiheit der Rede, die Freiheit der Publikation. Selbst das Volkslied unterstellt im Vers „denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei“ einen Wirkungszusammenhang, indem „sich“ die Gedanken „herumsprechen“ und subversiv die bestehenden Herrschaftsverhältnisse unterlaufen. Auch in Heines Wintermärchen bleibt der Spott über die Träume des deutschen Spießers nicht das letzte Wort. Bereits in Caput VI führt Heine eine merkwürdige Gestalt ein: „Ich treffe dich immer in der Stund / Wo Weltgefühle sprießen / In meiner Brust und durch das Hirn / Die Geistesblitze schießen. // Du siehst mich an so stier und fest – Steh Rede: was verhüllst du / Hier unter dem Mantel, das heimlich blinkt? / Wer bist du und was willst du?“ Die Gestalt bleibt dem Fragenden die Antwort nicht schuldig: „Du bist der Richter, der Büttel bin ich, Und mit dem Gehorsam des Knechtes / Vollstreck ich das Urteil, das du gefällt, / Und sei es ein ungerechtes. // Dem Konsul trug man ein Beil voran, / Zu Rom, in alten Tagen. / Auch du hast deinen Liktor, doch wird / Das Beil dir nachgetragen. // Ich bin dein Liktor, und ich geh / Beständig mit dem blanken / Richtbeile hinter dir – ich bin / Die Tat von deinem Gedanken.“ Just von dieser Gestalt träumt das lyrische Ich in jener Nacht, die mit der Erwartung der (erholsam negativen) Wirkungsfreiheit beginnt. In diesem düsterem Traum, an dessen Ende die Zerschlagung der „Skelette des Aberglaubens“ steht[2], erscheint die „Gedankenfreiheit“ keineswegs mehr unschuldig und harmlos. Heine spricht somit längst nicht mehr von Gedanken schlechthin, sondern fokussiert das Erkenntnisinteresse auf einen bedeutsamen, das Denken begleitenden Aspekt: Wo das „Luftreich des Traums“ verlassen und die politische Wirkung des Denkens reflektiert wird, ist die Rede von Ideologie.

Der Begriff der Ideologie, einst geprägt als Bezeichnung für eine Wissenschaft der Ideen, gehört freilich zu jenen Begriffen, deren Gehalt und Bedeutung umstritten sind Versteht man ihn als einen funktionalen Begriff, der einen Wirkungszusammenhang von Denken und Handeln bezeichnen soll und nicht synonym ist mit „falschem Bewusstsein“, sagt die Kennzeichnung eines Gedankengebäudes als ideologisch noch nichts über die Wahrheit der entsprechenden Ideologie aus – es sei denn, man wollte (in dezisionistischer Manier) den politischen Erfolg selbst zum Wahrheitskriterium machen. Würde freilich umgekehrt eine der Wahrheit verpflichtete Gedankenfreiheit postuliert, die ausschließlich im Virtuellen verbliebe und von jeder ideologischen Wirkungsmöglichkeit a priori abgeschnitten würde, wären die Folgen nicht weniger verheerend. In beiden Fällen würde der (unabgegoltene) Selbstanspruch der Aufklärung, jener großen gleichermaßen philosophisch begründenden wie ideologisch auf Wirkung bedachten Emanzipationsbewegung, mit der die Moderne einsetzt, selbst fallengelassen.

Mündigkeit und Emanzipation

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache der selben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“[3] So heißt es im Anfang jenes klassischen Textes, in dem Immanuel Kant den Versuch unternimmt, „die Frage: Was ist Aufklärung?“ zu beantworten. Dass es sich bei Kants Aufsatz keineswegs nur um ein individualistisches Brevier der freien Gedankenausübung handelt, sondern zugleich um ein hervorragendes Beispiel politischer Publizistik, wird spätestens dort deutlich, wo er zeitdiagnostisch fortfährt: „Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon imstande wären oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausgangs aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung oder das Jahrhundert Friedrichs.“[4]

Auf den ersten Blick wie ein Gegensatz zu Kants optimistischer Deutung der sich allmählich ausweitenden – und durch einen „aufgeklärten König“ beförderten – Selbstaufklärungskraft „des Menschen“ wirken jene vielzitierten Passagen aus der „Deutschen Ideologie“, in denen Karl Marx und Friedrich Engels mehr als sechzig Jahre später eine berühmte These formulierten: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur Materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.“[5] Auch hier wird ein Zugang zur zeitdiagnostischen Analyse von Denkprozessen beschrieben: „Löst man nun bei der Auffassung des geschichtlichen Verlaufs die Gedanken der herrschenden Klasse von der herrschenden Klasse los, verselbstständigt man sie, bleibt dabei stehen, daß in einer Epoche diese und jene Gedanken geherrscht haben, ohne sich um die Bedingungen der Produktion und um die Produzenten dieser Gedanken zu bekümmern, läßt man also die den Gedanken zugrunde liegenden Individuen und Weltzustände weg, so kann man z.B. sagen, daß während einer Zeit, in der die Aristokratie herrschte, die Begriffe Ehre, Treue etc., während der Herrschaft der Bourgeoisie die Begriffe Freiheit, Gleichheit etc. herrschten. Die herrschende Klasse selbst bildet sich dies im Durchschnitt ein. […] Jede neue Klasse, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, d.h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen.“[6]

Der zentrale Unterschied zwischen Kant auf der einen, Marx und Engels auf der anderen Seite scheint zunächst offensichtlich: Wo Kant den Aspekt des „Selbstverschuldens der Unmündigkeit“ betont, stellen Marx und Engels die Frage nach den „herrschenden Gedanken“ in den Kontext gesellschaftlicher Klassenverhältnisse. Damit korrespondiert, dass Kant den Ausgang aus der „Unmündigkeit“ (man könnte sie auch „intellektuelle Abhängigkeit“ nennen) als einen individuellen Entschließungsakt vorstellt, während Marx und Engels den Austausch eines in Gedankenform auftretenden Klasseninteresses durch ein anderes, mithin die Überwindung eines bisherigen herrschenden Systems der gedanklichen und gesellschaftlichen „Anleitung“ als eine Frage des (kollektiven) Klassenkampfs beschreiben. Eine historische Gemeinsamkeit beider Texte freilich fällt ebenfalls sofort ins Auge. Beide entstanden am Vorabend bürgerlicher Revolutionen. Das Lob Friedrichs II. (der sich dem Königsberger Philosophen gegenüber übrigens wenig dankbar zeigte) versucht noch einen Ausgleich zwischen Vernunft und Monarchie in der scharfen Trennung von staatlicher (privater) Amtspflicht und der Pflicht öffentlicher Gelehrsamkeit. Ganz im diesem Sinne wird das Königswort, jeder solle „nach seiner Facon selig werden“, als Ausdruck eines „Zeitalters der Aufklärung“ verstanden. Kant paraphrasiert seinen König „[R]äsoniert so viel ihr wollt und worüber ihr wollt; aber gehorcht!“[7] und legt ihm diese Haltung als Stärke aus. Historisch war sie bereits der Ausdruck einer Schwäche, die den gesamten Absolutismus als eine Übergangsform vom Feudalismus (und dem ihm entsprechenden theologischen Einheitsprinzip der Welt) zur bürgerlichen Gesellschaft kenntlich macht. Fünf Jahre später wird der Imperativ „gehorche! – nämlich der Vernunft“ an den französischen König gerichtet werden. Die Verwandlung Frankreichs in eine konstitutionelle Monarchie wird jedoch nicht von langer Dauer sein. Als 1793, neun Jahre nach der Niederschrift von „Was ist Aufklärung“, der Bürger Louis Capet auf der Guillotine hingerichtet wird, ist das französische ancien regime bereits nicht mehr existent. All diese Geschehnisse selbst freilich sind längst Geschichte, als Marx und Engels in den letzten Jahren des so genannten „Vormärz“ ihre „Deutsche Ideologie“ schreiben. Und doch ist die Selbstermächtigung des Bürgertums zur „bürgerlichen Gesellschaft“ zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Während in Frankreich seit dem Sturz der Jakobiner und der Herrschaft des Direktoriums ein dynamisches Wechselspiel von bürgerlich-republikanischen Phasen, revolutionären Erhebungen, Bonapartismus und konstitutioneller Monarchie ablief, verharrte insbesondere Deutschland unter der Regentschaft seiner Fürsten. In Anlehnung an Heinrich Heine schrieb Marx in der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“: „Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein.“[8] Noch immer war das „Zeitalter der Aufklärung“ kein „aufgeklärtes Zeitalter“ geworden. Die Illusion, ein aufgeklärter Fürst könne der Träger des Emanzipationsprozesses sein, ist freilich längst gleich doppelt überholt: Als Subjekt der Veränderung taugt selbst das Bürgertum nicht mehr allzuviel. Marx und Engels sehen folgerichtig in der Arbeiterklasse jenen Akteur, der – sofern es ihm gelingt, sich zum Subjekt zu erheben – das als soziale Praxis weiterzutreiben berufen ist, was das Bürgertum als Aufklärung begonnen hatte.

Bezieht man diesen historischen Exkurs zurück auf die Ausgangsfrage, ob die Gedanken frei seien, so kann man sagen: Frei im Sinne völliger Ungebundenheit und „Willkür“ waren sie nie. Philosophische, wissenschaftliche und theologische Systeme sind als gesellschaftliche Tätigkeit, als Praxisform in gesellschaftliche Verhältnisse eingelassen. Das Denken reagiert auf gesellschaftliche Verhältnisse und agiert zugleich in ihnen. Gerade deshalb lassen sich Argumente und Weltmodelle in ihrer Geltungskraft weder darauf reduzieren, mechanische „Reflexe“ auf transzendente Vorgänge zu sein, noch dergestalt hypertrophieren, dass sie als letzter Grund der Wirklichkeit verstanden werden könnten. Nicht jede Kopfgeburt kann sich in der Welt selbst verwirklichen. Die ideologische Erfolgsaussicht von „Gedanken“ bemisst sich nicht zuletzt daran, ob sie in die Welt passen, die zu verstehen sie vorgeben, oder an ihr vorbei sich doch bloß einen Platz im „Luftreich des Traums“ erobern. Bereits die bürgerliche Aufklärung trat mit dem Anspruch an, die rationale Begründung für Freiheit und Gleichheit zu sein. Sie versagte, als sich die Wahrheit der bürgerlichen Gleichheit und Freiheit als abstrakte politische und rechtliche Gleichheit „freier Vertragspartner“ erwies, die die doppelte Freiheit des Lohnarbeiters hervorbrachte. Die soziale Ungleichheit, die Folge dieser Abstraktionen war, erforderte eine Neukonzeption von Aufklärung selbst, in deren klassischer Konzeption die Leerstelle darin bestand, dass sich die Befreiung, die sie nur politisch-geistig denken konnte, an den materiellen Lebensbedingungen der kapitalistischen Klassenverhältnisse blamierte. Die erste intellektuelle Tat des „ideologischen Klassenkampfs“ bestand also darin, die Frage nach dem Verhältnis von befreitem Denken und herrschender Meinung materialistisch zu erden.

„Philosophie der Praxis“

Das neue Programm konnte jedoch auch den vorfindlichen Materialismus (von Hobbes bis Feuerbach) nicht „unangetastet“ bestehen lassen. Vor allem galt es, den überkommenen Dualismus von gelehrtem und arbeitsamen Leben, von Geist und Tat, von Theorie und Praxis oder lateinisch formuliert von vita contemplativa und vita activa aus den Angeln zu heben: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen miteingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird, nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv“[9], schreibt Marx in der ersten „Feuerbachthese“ und ergänzt in der zweiten: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“[10] Aus diesem Praxisbegriff resultiert nicht bloß, dass die tätige Seite jedweden Denkens, sondern auch, dass die „denkende Seite“ jedweden Handelns in den Blick genommen wird. Eine Schlüsselrolle bei der Entfaltung des Programms einer „Philosophie der Praxis“ spielt der italienische Philosoph und Politiker Antonio Gramsci. Ganz im Sinne der Überwindung der Kluft von Theorie und Praxis, die zugleich eine Überwindung der Kluft zwischen Alltag und Philosophie sein soll, schreibt Gramsci über den Philosophen: „Er hat auf dem Gebiet des Denkens die gleiche Funktion, wie sie die Spezialisten auf den verschiedenen Wissenschaftsgebieten haben. Jedoch gibt es einen Unterschied zwischen dem Philosophen-Spezialisten und den anderen Spezialisten: daß der Philosoph den anderen Menschen nähersteht, als es bei den anderen Spezialisten der Fall ist. Aus dem Philosophen-Spezialisten eine ähnliche Gestalt gemacht zu haben wie die anderen Spezialisten in der Wissenschaft, ist gerade das, was zur Karikatur des Philosophen geführt hat. In der Tat kann man sich einen Spezialisten für Insektenforschung vorstellen ohne, daß alle anderen Menschen empirische ‚Insektenforscher’ sind [...], aber es ist kein Mensch denkbar, der nicht auch Philosoph ist, der nicht auch denkt, eben weil das Denken zum Menschen als solchem gehört (es sei denn, er wäre ein pathologischer Idiot).“[11]

Die These, alle Menschen seien Philosophen, mag zunächst irritieren. Selbstverständlich sind nicht alle Menschen Philosophen im akademischen Sinn. Gramsci selbst benennt den Unterschied zwischen den „Spezialisten des Denkens“ und den „Ungelernten“, wenn er schreibt: „Der professionelle oder technische Philosoph ‚denkt’ nicht nur mit größerer logischer Strenge, mit größerer Kohärenz, mit größerem Systemgeist als die anderen Menschen, sondern er kennt auch die gesamte Geschichte des Denkens, weiß sich also Rechenschaft abzulegen über die Entwicklung, die das Denken bis hin zu ihm durchgemacht hat, und ist imstande, die Probleme an dem Punkt wieder aufzunehmen, wo sie sich stellen, nachdem sie bereits ein Höchstmaß an Lösungsversuchen erfahren haben usw.“[12] Die Innovation des Ansatzes von Gramsci besteht darin, den Unterschied zwischen dem alltäglichen und dem „professionellen“ Denken als einen graduellen Unterschied zu fassen. Dahinter steht ein Versuch, die Philosophie säkular (diesseitig) zu denken, also „den Philosophen“ zu entzaubern. Philosophie wird als ein Versuch interpretiert, Weltverhältnisse begrifflich zu bestimmen und systematisch zu fassen. Dieses Bemühen betrifft aber zunächst jeden, der sich „einen Reim auf die Welt“ macht. Um sich in der Welt zurecht zu finden, muss man sie verstehen (wollen). Die alltäglichen, schließlich aber auch die wissenschaftlichen, Versuche die Welt zu verstehen liefern nachgerade das „erfahrungsgesättigte“ Material für die Berufsphilosophie: „In dieser Perspektive lehnt Gramsci es kategorisch ab, ‚das, was sich ‚wissenschaftliche’ Philosophie nennt, von der ... popularen Philosophie abzukoppeln, die nur ein zusammenhangsloses Ensemble von Ideen und Meinungen ist.‘“[13] Diese Aufwertung des alltäglichen Denkens zu einer „Jedermannsphilosophie“ freilich bedeutet keineswegs, dass der „Alltagsverstand“ „immer recht habe“ oder – was auf eine Suspendierung der Philosophie überhaupt hinauslaufen würde – der Berufsphilosophie in jedem Falle vorzuziehen sei. Denn der Alltagsverstand ist für Gramsci zunächst tatsächlich ein „zusammenhangsloses Ensemble von Ideen und Meinungen“, die nur bis zu einem bestimmten Grad begründet und stimmig sind: Seine „Inkohärenz stellt der ‚wissenschaftlichen Philosophie die Aufgaben; und dem Kohärenzstreben [seiner ...] Subjekte entspringt alle Philosophie.“[14]

Damit verortet Gramsci die Philosophiegeschichte, die sich als reine Ideengeschichte verselbstständigt hat, zurück in eine Historizität der Denkformen überhaupt. Die Philosophie entspringt aus dem Streben nach Kohärenz und Stimmigkeit, aus einem Streben also, das einen universalen Sinn, einen kohärenten Zusammenhang aller Welterscheinungen impliziert. Gramscis Verweis auf den Vorteil, den eine professionell betriebene Philosophie dem „ungelernten“ Denken des Alltagsverstandes gegenüber dadurch hat, dass sie um ihre Geschichte weiß, hilft die Verschränkung von Alltagsverstand und Philosophie noch klarer zu bestimmen. Wenn nämlich die Übergänge graduell und quantitativ sind, dann folgt daraus auch, dass es keine streng getrennten Geschichten von Philosophie und Alltagsverstand gibt. Nicht nur steht die Philosophie vor der stets neuen Aufgabe, die sich aus der Lebenspraxis ergebenden Inkohärenzen und Inkonsistenzen des Denkens zu reflektieren und zu systematisieren, die philosophische Praxis senkt sich auch in den Alltagsverstand ein, übt Einfluss auf ihn aus und hinterlässt Spuren, die als Ablagerungen auch dann noch wirksam sein können, wenn sie in der Berufsphilosophie längst als problematisch erkannt oder sogar als überwunden gelten. Bis in die Alltagssprache hinein ist das Denken von abgelebten philosophischen Versatzstücken „kontaminiert“: „Die in Sprache sedimentierten Philosopheme sind nicht nur anorganisch zusammengestückt – Gramsci sagt: ‚bizarr’ –, sondern indem sie ‚sedimentierte Gruppenerfahrungen’ sind, kollektivieren sie uns gleichsam inkognito und hinterrücks. Solche Meinungen sind nicht mein, sie gehören mir nicht, ich gehöre ihnen.“[15] Haug verweist hier auf ein Paradoxon des Denkens: Da glaube ich, eine Meinung zu haben, die mir entspricht und aus mir kommt, da ich aber nicht in der Lage bin, die Kontexte zu begreifen, denen der Gedanke, der mich ergriffen hat, angehört, halte ich einen Gedanken für selbst produziert, der eigentlich ein (gesellschaftliches) Produkt ist, das von außen in mich eingedrungen ist. Es handelt sich hierbei um so etwas wie einen (verkehrt zum Warenfetisch beschaffenen) Fetischismus der Sprache. Hier erscheint ein gesellschaftliches Produkt als vorgesellschaftliche, eigene „Meinung“. Die „sedimentierten Philosopheme“, die Gramsci veranlassen, vom „Eklektizismus“ des Alltagsverstands zu sprechen und ihn als „die Folklore der Philosophie“ zu bezeichnen, verweisen zurück auf das Kantsche „sapere aude“ aus dem Aufklärungsaufsatz. Während Kant jedoch unterstellte, dass die Anleitung des Verstandes durch andere (etwa durch Pfarrer, die von Kanzeln herab verkünden, was wahr sei), offen zu Tage liegt, enthüllt sie sich nun als ein höchst komplexes Netz sedimentierter Philosopheme, das selbst Teil einer Geschichte von Klassengesellschaften und Klassenkämpfen ist: „Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der gesamte Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin, sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten.“[16] Gerade diese Formulierung aus dem Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ ist weit entfernt von einer mechanistischen Sicht, die ein einseitiges Determinationsverhältnis von Ökonomie und Ideologie annehmen würde. Die ideologischen Formen werden hier selbst als Austragungsort des Klassenkampfes beschrieben. Zugleich liegt in der Konsequenz der Formulierung auch, dass die „naturwissenschaftlichen“ Methoden, mit denen die „materielle Umwälzung in den Produktionsbedingungen“ konstatiert werden können, selbst eine ideologische Form und als solche umkämpft sind.

Hegemonie

Die gesellschaftliche Sprache und das gesellschaftliche Denken reproduziert also in seiner eigenen Sphäre die gesellschaftlichen Widersprüche und trägt sie bis in das einzelne Individuum hinein. Da das „menschliche Wesen“ ein „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ ist, wie es in den Feuerbachthesen heißt, kann auch der individuelle Mensch von widerstreitenden Interessen zerrissen sein. So ist es durchaus eine intellektuelle Leistung, wenn ein Angehöriger der Stammbelegschaft eines Betriebes – unmittelbare Interessen zurückstellend – eine Identität zwischen seinen Interessen und denen eines Leiharbeiters begreift oder wenn das unmittelbar lebenspraktische Interesse, einen Arbeitsplatz zu bekommen, eingeht in die politische Forderung die Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum zu überführen. Unter den gegebenen Bedingungen mag es sogar viel wahrscheinlicher sein, einen Arbeitsplatz zu bekommen, wenn man sich auch in intellektueller oder ideologischer Beziehung auf den Konkurrenzkampf mit anderen einlässt. Es ist auch viel wahrscheinlicher, dass jemand, der in der Konkurrenz um einen Arbeitsplatz unterliegt, dies als eigenes Versagen wertet und nicht als ein gesellschaftliches Versagen. Daher ist durchaus problematisch, Interessen ausschließlich aus einem soziologischen Schema abzuleiten. Welche konkrete Lösungsrichtung für ein Problem als Interesse artikuliert wird hängt auch mit den Kategorien zusammen, in denen der Betroffene denkt. Dennoch sind Interessen nie beliebig: Sie konstituieren sich im Verhältnis von Lebenswelt und Reflexion. Was zunächst vergleichsweise harmlos klang, die Differenz von Alltagsverstand und Berufsphilosophie, wird nun in seiner politischen Bedeutung ersichtlich. Die Systematisierung von Deutungsmustern kann selbst ein Herrschaftsprinzip sein. Dass die Gedanken der Herrschenden, herrschende Gedanken werden und bleiben können, setzt voraus, dass sie als allgemeingültig akzeptiert und anerkannt werden. Die Strukturen, in denen eine solche Akzeptanz organisiert wird, betreffen freilich verschiedene Praxisformen und -felder.

Ausgehend von Machiavellis Bild des Fürsten als eines „Zentauren“, der halb Tier und halb Mensch ist, spricht Gramsci im Zusammenhang mit politischen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen von einer „Doppelperspektive“. Dabei konstatiert er „[v]erschiedene Ebenen, auf denen die Doppelperspektive auftreten kann, von den elementarsten bis zu den komplexesten, die sich aber entsprechend der tierischen und menschlichen Doppelnatur des Machiavellischen Zentauren, theoretisch auf zwei grundlegende Ebenen reduzieren lassen, des Zwangs und des Konsenses, der Autorität und der Hegemonie, der Gewalt und der Kultur, des individuellen Moments und des universellen (der ‚Kirche’ und des ‚Staates’), der Agitation und der Propaganda, der Taktik und der Strategie usw.“[17]

Ein Schlüsselbegriff für Gramscis politische Theorie ist fraglos der Begriff der Hegemonie. Während dieser Begriff landläufig synonym mit dem Begriff der Vorherrschaft (etwa eines Staates über einen anderen) verwendet wird, wurde er bereits im Kontext der russischen Revolution benutzt, um die „führende Rolle der Abeiterklasse gegenüber der Bauernschaft“ zu bezeichnen. Dieses Konzept eines Klassenbündnisses (historischer Block) nimmt Gramsci auf und entwickelt es als ein Konzept der politischen und moralischen Führung, das nicht nur in revolutionären Situationen, sondern auch zur Etablierung und Sicherung von „Herrschaft“ von Bedeutung ist (Block an der Macht).[18] Dass es sich bei stabiler Hegemonie als einem Herrschaftssystem um ein Verhältnis von Konsens und Zwang handelt – und nicht ausschließlich um Konsens, macht Gramsci am Beispiel des Parlamentarismus deutlich: „Die ‚normale’ Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch eine Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich die Waage halten ohne das der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt, sondern im Gegenteil vom Konsens der Mehrheit, wie er in den sogenannten Organen der öffentlichen Meinung zum Ausdruck kommt, getragen erscheint (die daher in gewissen Situationen künstlich vermehrt werden).“[19]

Das komplexe System von Hegemonie als auf vielfältigen Ebenen rekonstruierbares Verhältnis von Zwang und Konsens kann im Rahmen dieses Beitrags nicht ausführlich erörtert werden. Entscheidend ist jedoch, dass Hegemonie auch als kulturelle oder ideologische Hegemonie, nicht auf Konsens zu reduzieren ist, sondern zugleich Zwangselemente enthält. Anders formuliert: Konsens kann erzwungen sein und sich dennoch in ein stabiles Herrschaftssystem einfügen. Das vielleicht beste Beispiel hierfür ist die Religion, die über Jahrhunderte das Denken, Handeln und Fühlen der europäischen Menschen prägte und das feudalistische Herrschaftssystem in seiner gesamten Legitimitätsstruktur durchzog. Dieses System und die ihm entsprechende und es tragende ideologische Form war sogar in mehrfacher Hinsicht stabil: Über Jahrhunderte schien es keine gesellschaftlich Kraft in Frage zu stellen. Erst mit dem Aufstieg des Bürgertums und des Absolutismus entwickelten sich – mit heftigem Zwang bekämpfte – erste Vorstöße zu einer vorsichtigen Säkularisierung der Begründungen von Staatlichkeit, Astronomie und schließlich Philosophie. Noch René Descartes musste im 17. Jahrhundert seine Meditationen, die an allem zweifelten, in einem Gottesbeweis gipfeln lassen. Und dennoch kam dieses System – auch auf dem Höhepunkt seiner hegemonialen Blüte – nicht ohne Zwang in theoretischen Fragen aus. Es mag beinahe banal klingen, doch die Vorstellung von der Hölle, die man keineswegs „aktiv bejahen musste“ (es genügte an sie zu glauben), kann geradezu als paradigmatisch dafür gelten, wie ein ideologischer Zwangsmechanismus disziplinieren kann. Die Vorstellung vom zwar gütigen, jedoch auch strafenden Gott, war umso wirksamer, als für göttliches Recht keine irdische Macht verantwortlich zeichnete. Die Hölle zwang zur Gottesliebe, ohne sinnvollerweise zum Hass auf Fürst und Klerus zu führen. In ähnlicher Weise wirkt heute das Alternativlosigkeitspostulat, mit dem neoliberale Hegemonie einen passiven Konsens organisiert.

Intellektuelle, Philosophie und Ideologie

„Unter Ideologie kann man eine Gesamtheit geistiger Anschauungen, Ideen, Theorien, Normen, Werte und anderer Elemente verstehen, / die bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln, der Lage, den Interessen und den Zielen bestimmter Gruppen – vor allem Klassen – oder Strömungen Ausdruck verleihen, / auf die Erhaltung oder Veränderung gesellschaftlicher Zustände oder Ordnungen gerichtet sind und / praktische Verhaltensweisen oder Aktionen hervorrufen.“[20] Der Begriff der Ideologie bezeichnet somit freilich mehr – und in einer spezifischen Hinsicht auch weniger – als die mit „Philosophie“ benannte systematisierende Kopfarbeit. So schreibt Erich Hahn: „In der bisherigen Geschichte waren Ideologien wesentlich zunächst Emanzipations- und dann Herrschaftswissen. Die Eigenart von Ideologien ist es, praktische Erfordernisse einer geschichtlichen Situation auszudrücken. Sie sind auf die Erzielung von Handlungsfähigkeit und praktischer Aktion angelegt. Und der Erfolg dieser Funktion hängt von einem angemessenen Realitätsbezug ab. Dieser aber enthält mehr als die Wahrheitsrelation. Gefordert sind nicht nur der diskursive sondern beispielsweise auch der bildhaft-künstlerische Aufweis sich abzeichnender Möglichkeiten und die adäquate Artikulation von Erfahrungen, Bedürfnissen, Forderungen und Hoffnungen. Künftiges muß antizipiert, Normen muß zur Geltung und Anerkennung verholfen werden. All das sind Realitätsbezüge, die sinnvollerweise kaum nach dem Wahrheitskriterium beurteilt und bewertet werden können.“[21] „Philosophien“ freilich müssen sich in strenger Weise der Prüfung an einem Wahrheitskriterium aussetzen und alle anderen Formen des Denkens daraufhin befragen, inwieweit sie einem solchen Kriterium gerecht werden oder nicht. Philosophisches Denken geht im Ideologischen ebenso wenig auf, wie das Ideologische im Philosophischen aufgehen kann. Tatsächlich scheint die Frage der „Wahrheit“ nicht das entscheidende Kriterium für (eine zumindest kurz- oder mittelfristige) ideologische Wirksamkeit zu sein. Wenn also der ideologische Aspekt des Denkens insbesondere darin zu sehen ist, dass er die gesellschaftlich-politische Dimension, die in jedem Denken beschlossen ist, bezeichnet, so korrespondiert er mit einem Definitionsversuch des Begriffs der Intellektualität, den ich an anderer Stelle versucht habe. Dort heißt es: „Entscheidend für die Abgrenzung des Begriffs ist, daß er zwar durchaus jede Form der Kopfarbeit thematisiert, sie aber nur insoweit thematisieren kann, als ihr eine politische Funktion in der Aufrechtherhaltung oder Veränderung hegemonialer Verhältnisse [also von Herrschaftsverhältnissen] zukommt. Intellektualität ist somit jener Aspekt der Kopfarbeit, der einen Beitrag leistet, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu produzieren, zu reproduzieren und umzustürzen. Damit handelt es sich um einen genuin politischen Begriff.“[22] Ideologie wäre demnach das unmittelbare Produkt jenes Aspekts der Kopfarbeit, durch den vermittelt sie einen Beitrag zur Produktion, Reproduktion oder zum Umsturz gesellschaftlicher Machtverhältnisse leistet. Intellektualität wäre die funktionale Fähigkeit, politisch zu denken, also Ideologie zu produzieren. Der Intellektuelle wäre – funktional – der Agent einer solchen Ideologie und somit – substantiell – notwendig Ideologe.

Bezieht man dieses Begriffsraster auf Gramsci zurück, so fällt auf, dass seiner Formulierung, alle Menschen seien Philosophen, eine ganz ähnliche Formulierung in Bezug auf die Intellektuellen entspricht: „Alle Menschen sind Intellektuelle, könnte man daher sagen; aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen (so wird man, weil jeder einmal in die Lage kommen kann, sich zwei Eier zu braten oder einen Riß in der Jacke zu flicken, nicht sagen, alle seien Köche oder Schneider.)“[23] Auch wenn Gramsci selbst die intellektuelle Funktion nicht explizit von der philosophischen abgrenzt, kann man den spezifisch politischen Gehalt der Bestimmung des Intellektuellen und der Intellektualität daran ersehen, dass den Intellektuellen eine zentrale Rolle bei der konkreten Vermittlung der Hegemonie zugesprochen wird. Die Intellektuellen sind jene Agenten einer politisch-moralischen Ordnung (oder eben einer politisch-moralischen Reform), die bestehende Herrschaftsverhältnisse konserviert (oder in Frage stellt). Wenn „Ideologie“ also die Gesamtheit jener Anschauungen, Ideen, Normen, Werte etc. ist, die – stets auch in Apparaten materialisiert[24] – auf Machterhalt oder Machtumsturz gerichtet sind, so ist sie im Kern das, was man als „politisches Denken“ schlechthin bezeichnen könnte.[25] Entscheidend ist – wie schon bei der Differenz von Philosophie und Alltagsverstand – dass Ideologie explizit – als gewusstes und aktives politisches Denken – und implizit als in seiner politischen Dimension nicht durchschautes, „ungewusstes“, passives politisches Denken – „auftreten“ kann. Demjenigen der mit seinem Denken, sei es als professionelle Philosophie betrieben oder im Alltagsverstand vollzogen, dazu beiträgt Ideologien zu produzieren, die ihrerseits dazu beitragen können, Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten oder umzustürzen, muss dieser Beitrag nicht immer bewusst sein und kann in einzelnen Fällen sogar einer erklärten Absicht – der „Wertfreiheit“ von Wissenschaft etwa, oder Balzacs Ablehnung des Sozialismus – zuwiderlaufen.

Gerade darin freilich liegt der entscheidende Unterschied zwischen „Philosophie“ und Ideologie, der beide irreduzibel aufeinander macht: Im Kern geht es hier um den Begriff der Emanzipation selbst, ohne den jede Debatte um Ideologie ein richtungsloses Spiel der Klassifizierungen bliebe. Was insbesondere ein an Marx geschultes Denken vorhergehenden philosophischen (und ideologischen) Versuchen, den Begriff der Emanzipation zu fassen, voraus hat, ist nicht zuletzt, dass es von einem entfalteten Begriff der Kritik ausgeht, der es ermöglicht, den eigenen historischen Ort mitzudenken. So heißt es in der „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie“: „Wenn daher wahr ist, daß die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie eine Wahrheit für alle andren Gesellschaftsformen besitzen, so ist das nur cum grano salis [in ganz bestimmter Richtung] zu nehmen. [...] Die sogenannte historische Entwicklung beruht überhaupt darauf, daß die letzte Form die vergangnen als Stufen zu sich selbst betrachtet und, da sie selten und nur unter ganz bestimmten Bedingungen fähig ist, sich selbst zu kritisieren [...], sie immer einseitig auffaßt. Die christliche Religion war erst fähig, zum objektiven Verständnis der frühern Mythologien zu verhelfen, sobald ihre Selbstkritik zu einem gewissen Grad sozusagen δυνάμει [der Möglichkeit nach] fertig war. So kam die bürgerliche Ökonomie erst zum Verständnis der feudalen, antiken, orientalen, sobald die Selbstkritik der bürgerlichen Gesellschaft begonnen. Soweit die bürgerliche Ökonomie nicht mythologisierend sich rein identifiziert mit dem Vergangnen, glich ihre Kritik der frühern, namentlich der feudalen, mit der sie noch direkt zu kämpfen hatte, die das Christentum am Heidentum, oder auch der Protestantismus am Katholizismus ausübte.“[26] Von allen vorherigen Begriffen der Kritik unterscheidet sich diese Marxsche Bestimmung dadurch, dass sie in radikaler Weise um ihren historischen Ort weiß und ihn gesellschaftlich konkret bestimmt. Ein solches Programm kritischer Philosophie freilich schließt auch eine Kritik vorfindlicher Ideologien ein. Verliert ein – wie immer wirksames – ideologisches Denken den Kontakt zum unabgeschlossenen Prozess der Emanzipation, sieht es sich nicht mehr in der Pflicht sich argumentativ der Wahrheitsfrage zu stellen, schließt es sich im Gegenteil weltanschaulich ab und fordert Bekenntnisse, so hat es die Tradition der Aufklärung verlassen. Indem sie permanent und kompromisslos Rechtfertigung einfordert, wird kritische Philosophie – eingedenk ihrer eigenen ideologischen Funktion – zum Korrektiv des Ideologischen.

[1] Der vorliegende Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den der Verfasser im Februar 2008 auf dem Ersten Winterkolloquium der Heinz-Jung-Stifung, im Bessunger Forst bei Darmstadt gehalten hat.

[2] Alle Heine-Zitate zitiert nach Heinrich Heine, Sämtliche Schriften hrsg. v. Klaus Briegleb, München 1997, S. 591f.

[3] Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?; in: Erhard Bahr (Hrsg.): Was ist Aufklärung? – Thesen und Definitionen, Stuttgart, 1974, S. 9.

[4] Ebd. S. 15.

[5] MEW 3, S. 46:

[6] Ebd., S. 47:

[7] Kant, Was ist Aufklärung, a.a.O., S. 11.

[8] MEW 1, S. 383.

[9] MEW 3, S. 5.

[10] Ebd.

[11] Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Hamburg 1991f.: 1346f.

[12] Ebd. 1346.

[13] Wolfgang Fritz Haug, Philosophieren mit Brecht und Gramsci, Hamburg 1996, S. 23.

[14] Ebd.

[15] Ebd. 19.

[16] MEW 13, S. 9

[17] Gramsci, Gefängnishefte, a.a.O., S. 1553f.

[18] Gramsci setzt den Begriff der Hegemonie gelegentlich dem der Herrschaft entgegen. Entscheidend ist hier jedoch, dass in solchen Passagen ein vergleichsweise enger Begriff von Herrschaft als „Gewaltherrschaft“ angenommen wird.

[19] Ebd., S. 120. Dabei ist zu betonen, dass diese Beschreibung nicht nur auf parlamentarische Regime zutrifft, sondern z.B. auch auf den deutschen Faschismus, der durchaus hegemonial war – und es in sedimenten ideologisch etwa an Stammtischen teilweise bis heute ist.

[20] Erich Hahn, Einleitung zu „Ideologie“; in: Marxistische Lesehefte 2, Berlin 1998, Reader, S. 9.

[21] Ebd., S. 11.

[22] David Salomon, Der Intellektuelle der sozialen Frage, in: Z. Nr. 70, Juni 2007, S. 11.

[23] Gramsci, Gefängnishefte a.a.O., S. 1500.

[24] Vgl. hierzu insbesondere Louis Althusser, Ideologie und Ideologische Staatsapparate (2 Bde.), Hamburg 2010/2012:

[25] So definiert Frank Deppe „politisches Denken“ als „normatives, wertorientiertes und insofern auf politische Praxis bezogenes Denken“. (Frank Deppe, Politisches Denken im 20. Jahrhundert – Die Anfänge, Hamburg 1999, S. 12)

[26] MEW 13, S. 637