Buchbesprechungen

MEGA-Kommentare / Alle Buchbesprechungen

von Walter Schmidt zu Jens Grandt
Dezember 2018

MEGA-Kommentare

Jens Grandt, Karl Marx, Friedrich Engels – neu ediert und neu erschlossen. Rezensionen und Reflexionen, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2018, 244 S., 25,- Euro

Dem Rezensenten ist in den Jahrzehnten eigener Rezensionstätigkeit eine Publikation wie die vorliegende noch nicht begegnet: eine Sammlung von Besprechungen, hauptsächlich in Zeitungen erschienen, zu einer klar umrissenen Thematik. Also eine Premiere, aber eine schöne und erfreuliche, da der Rezensent dem Thema, um das es hier geht, der Marx-Engels-Edition und -Forschung, selbst nahe steht.

Jens Grandt veröffentlicht rund 50 Besprechungen, die er in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten in großen Zeitungen in Deutschland und der Schweiz, die der Berichterstattung über die MEGA ihre Spalten öffneten, zum genannten Thema veröffentlicht hat, von der „Süddeutschen Zeitung“ über die „Frankfurter Rundschau“, die „Zeit“ und das „Neue Deutschland“ bis zur „Neuen Zürcher Zeitung“. Im Mittelpunkt stehen die seit 1993 nach neuen Editionsrichtlinien erschienenen Bände aus allen vier Abteilungen der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe, der so genannten MEGA2. Sie werden begleitet von mehreren Bänden des Marx-Engels-Jahrbuchs, einer Jenny-Marx-Biografie und einzelnen Konferenzberichten. Seine journalistisch wie wissenschaftlich niveauvollen Besprechungen, die sich uns faktengesättigt, inhaltsreich und vor allem stets problematisierend erschließen, werden ergänzt durch interessante Reflexionen zu Spezialproblemen aus der Marx-Engels-Forschung, wie etwa zum Sinn genauer Datierung oder zur Frage, weshalb die Profitrate keine blühenden Landschaften in Ostdeutschland zuließ. Die Texte leisteten unbestritten einen wichtigen Beitrag, um die anfängliche konservative Verschweigenstaktik zu durchbrechen und das großartige Editionsunternehmen der interessierten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Der Leser wird eingeführt in das Ringen nicht nur von Marx und Engels um eine wissenschaftliche Bewältigung der von ihnen erkannten gesellschaftlichen und weltanschaulichen Probleme, sondern auch in die Mühen der Bearbeiter ihrer Schriften, um diese philologisch korrekt für die Wissenschaft zu erschließen. Der Vf. pflegt in den Rezensionen durchweg einen kritischen Diskurs, der auch nicht zurückhält, wenn Mängel zu monieren sind wie überlange Einführungen oder solche, die deren Charakter sprengen und zu analytischen Studien ausgewachsen sind, oder wenn wesentliche Vorarbeiten zu den edierten Texten nicht benannt werden. Damit regt der Autor an, sich mit den hier vorgelegten Arbeiten zu befassen: ob es sich um die Bände zwei und drei des „Kapitals“ handelt, für die in der Zentrale des Unternehmens Carl-Erich Vollgraf zusammen mit Regina Roth grade steht, oder um Marx’ Rolle in der I. Internationale, die Beziehungen von Marx zu Lassalle, die Engelsschen Altersbriefe, die erstmals voll erschlossenen Bestandteile der so genannten „Deutschen Ideologie“ von 1845 oder selbst Marx’ naturwissenschaftliche Exzerpte. Die Lektüre der Rezensionen wird zu einem anspruchsvollen intellektuellen Genuss.

Doch bietet das Buch mehr. Da der Autor seine Rezensionen durch Vorspanntexte oder Nachträge verbindet, die zusätzliche Informationen über das Werk und seine Präsentation bieten, entsteht zugleich eine Chronik des ganzen Editionsvorhabens, wird ein kurz gefasster, sicher unvollständiger Abriss von dessen Geschichte geboten. Dies umso mehr als auch die Vorgeschichte der heutigen, in den 1990er Jahren erneuerten MEGA nicht ausgespart wird. Der erste Beitrag in der Serie ist ganz diesem Thema gewidmet. Man erhält einen, wenn auch knappen Einblick in das Schicksal der ersten MEGA von David Rjazanow, die Stalin unterband. Behandelt werden die sog. Wendewirren in den frühen 1990er Jahren, die schwierigen, aber letztlich erfolgreichen Bemühungen zur Rettung der bereits seit den 1970er Jahren unter der Ägide der Parteiinstitute in Moskau und Berlin stehenden zweiten MEGA und deren Entwicklung zu einem entpolitisierten akademischen, international betriebenen wissenschaftlichen Projekt in den frühen neunziger Jahren. Der internationale Charakter tritt zutage, wenn über die Mitarbeit japanischer Marx-Spezialisten an Bänden der Abteilung II, den ökonomischen Schriften und Manuskripten, berichtet oder die Bearbeitung eines Briefbandes durch den Dänen Gerd Callesen erörtert wird. Wir erfahren aber auch, wann die Verantwortung für die MEGA von der von Amsterdam aus segensreich agierenden Internationalen Marx-Engels-Stiftung auf die 1993 eingerichtete Arbeitsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften überging, oder dass 2003 die der SPD nahe stehende Bonner Friedrich-Ebert-Stiftung das Karl-Marx-Haus in Trier dicht machte und damit eine bis dahin ertragreiche Marx-Engels-Forschungsstätte für immer verloren ging. Nicht übergangen wird der Beschluss von 2015, die MEGA in Buchform nur noch in der Abteilung I, den Werken, Artikeln, Entwürfen, zu Ende zu führen, während die sog. Briefabteilung, in der die Briefe an Marx und Engels aus verschiedenen Gründen eminent wichtig sind, vollständig digitalisiert werden soll.

Der Autor lässt das Werk, über das er berichtet, aber nicht namenlos. Vielmehr gibt er kurze biografische Skizzen der Editoren und Forscher, die es auf den Weg brachten und die einzelnen Bände verantworteten. Etwa dreißig Namen tauchen auf. Es ist von Altmeistern der Edition die Rede, wofür vor allen der 2000 früh verstorbene französische Marx-Forscher Jacques Grandjonc und Richard Sperl stehen; vorgestellt werden die in der Erneuerungsperiode unermüdlich für die Fortsetzung der MEGA sich einsetzenden Jürgen Rojahn, Sekretär der IMES, und Hans-Peter Harstick, der die Verantwortung für die BBAW-Arbeitsstelle übernahm, in der Manfred Neuhaus und nach ihm Gerald Hubmann die praktische Leitung ausübten. Gewürdigt wird die Arbeit Martin Hundts, eines Urgestein der internationalen Marx-Engels-Edition, ebenso wie die von Jürgen Herres, einem gelernten Möbeltischler aus Trier, der nach Studium und Promotion zur MEGA stieß und gemeinsam mit dem in Frankreich geborenen Francois Melis an den Bänden von 1848/49 arbeitet. Nicht vergessen ist der 1990 gegründete „Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition“, dem Rolf Hecker vorsteht, ein gelernter Ökonom, der Marx-Forschung auch in Sendai und Tokio wie in Bejing fördert. Es fällt ins Auge, dass nicht wenige der inzwischen erschienenen Bände von erfahrenen Forschern aus der DDR bearbeitet wurden, die klugerweise durch nicht gerade üppig honorierte Werkverträge an das Editionsunternehmen gebunden wurden. Ohne sie wäre die Zahl der erschienen Bände gewiss kleiner. Beeindruckend sind die liebevoll skizzierten curricula vitae der Philosophin Anneliese Griese, unter deren Verantwortung die Edition naturwissenschaftlicher Exzerptbände entstanden, und des Historikers Rolf Dlubek, der bis zu seinem Tod die Verantwortung für mehrere Briefbände übernommen hatte.

Die Lektüre dieser bemerkenswerten Schrift wird sicher allen Freude bereiten, die sich mit Marx und Engels und ihren Schriften auf diese oder jene Weise verbunden fühlen. Aber sie werden sicher bedauern, dass ein Personenindex fehlt. Auch wäre es nützlich gewesen, wenn der Benutzer zu jeder besprochenen Publikation auch die genauen bibliografischen Angaben erhalten hätte. Schließlich lässt der Autor den Leser im Unklaren, ob die Titel vor den Rezensionen von den Redaktionen der Zeitungen oder vom Rezensenten selbst stammen.

Walter Schmidt

Marx’ Sozialontologie

Kurt Bayertz, Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie, C. H. Beck-Verlag, München 2018, 272 S., geb. 24,90 Euro

Eine Reihe der zum 200. Geburtstag von Karl Marx erschienenen Bücher behandeln dessen Theorie als letztlich nicht mehr zeitgemäß – trotz gelegentlicher Würdigung mancher weitsichtiger Prognosen, wofür meist die Globalisierung angeführt wird. Anders die Herangehensweise von Kurt Bayertz: Die erneute Befassung mit Marx hält er deshalb für lohnend, weil in dessen Werk „eine noch nicht abgearbeitete Agenda formuliert“ (10) sei. Um dieser Agenda auf die Spur zu kommen, gelte es, vor dem Hintergrund der gewaltigen Rezeptionsgeschichte, die sich „nur allzu leicht wie eine Nebelwand vor die Originaltexte“ schiebe, sich noch mal neu auf die von Marx behandelten Theorieprobleme einzulassen und dabei „dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation“ zu folgen, ohne „Unklarheiten und Inkonsistenzen“ zu kaschieren (ebd.).

Es sind die philosophischen Voraussetzungen des Werks von Marx, auf die sich die detaillierte Untersuchung des emeritierten Münsteraner Philosophieprofessors konzentriert. Dabei lässt sich Bayertz nicht von dem durch Marx ausdrücklich proklamierten Abschied von der Philosophie irritieren (übrigens wird Engels in dem Buch ausdrücklich ausgespart, wobei aber die weitgehende Übereinstimmung beider in grundlegenden Fragen immer wieder betont wird). Aufgezeigt werden die faktischen philosophischen Theorieelemente in Gestalt von Hintergrundannahmen, die von Marx oft nicht explizit gemachten wurden, insbesondere derjenigen in der Traditionslinie von Hegel, aber auch etwa von Aristoteles und natürlich von Feuerbach. Vor allem interessiert sich Bayertz für diejenige Materialismus-Version – eine philosophische Theorieposition –, die Marx in seiner Konzeption eines „Historischen Materialismus“ zugrunde legte.

Ungeachtet der selbstverständlichen Voraussetzung, dass die Menschen Naturwesen sind und bleiben, habe sich Marx vor allem auf das spezifisch Materialistische in Gesellschaft und Geschichte konzentriert, im Zusammenhang zwar, aber zugleich im Unterschied zur nichtmenschlichen Natur. Bayertz diskutiert dieses Spezifische des historisch-gesellschaftlichen Materialismus vor allem durch eine eingehende und kritische Analyse des berühmten Vorworts zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859. Zwar habe die zu einem „unterkomplexen Denken über gesellschaftliche Zusammenhänge“ (148) verleitende „architektonischen Leitmetaphorik“ der sog. Basis-Überbau-Theorie teilweise „desaströse Wirkungen“ unter ihren Anhängern und im späteren Marxismus (den Bayertz nicht behandelt) entfaltet. Gleichwohl gelangt Bayertz durch eine eingehende Analyse des Vorworts zu einem präzisierten Verständnis gesellschaftstheoretischer Grundbegriffe. Das gilt neben dem der „Produktivkräfte“ (verstanden als Produktivkraft der menschlichen Arbeit, statt einer häufig anzutreffenden Reduktion auf Technik) vor allem für den Begriff der „Produktionsverhältnisse“: Die ökonomisch notwendig, aber ohne Willen und Bewusstsein „eingegangenen Beziehungen“ der Individuen schaffen faktisch etwas gegenüber dem individuellen Handeln Neues: eine Struktur. Bayertz erläutert das nicht zuletzt auch unter Rückgriff auf theoretische Ansätze des 20. Jahrhunderts wie etwa der Systemtheorie und des Emergenzbegriffs: Marx’ Vorwort beschreibe inhaltlich einen „Prozess emergenter Strukturbildung“ (111).

Den objektiv-realen, insofern materiellen Charakter der Produktionsverhältnisse sieht Bayertz darin, dass diese, wiewohl Resultat menschlichen Handelns, ein Ergebnis nicht intendierter Handlungsfolgen darstellen (112f). Dies sei der „erste Hauptsatz des Historischen Materialismus“ (114). Ein solches (sozial-)ontologisches Denken habe nichts mit Verdinglichung zu tun, denn die Produktionsverhältnisse seien zwar Produkte menschlichen Handelns, besäßen aber keine davon unabhängige Existenz, sondern manifestieren sich im Handeln (119).

Das Modell solcher „nicht intendierter Handlungsfolgen“, so Bayertz, war Marx vor allem in Gestalt der „invisible hand“ bekannt, mit der Adam Smith das Marktgeschehen charakterisierte, wonach alle Akteure zwar ihrem Eigennutz folgen, aber dabei gleichwohl ein insgesamt ‚konstruktives’ Endergebnis hervorbrächten. Zwar habe Marx diese Ideologie einer segensreichen Wirkung des individuellen Handelns der Marktteilnehmer abgelehnt und bekämpft, aber möglicherweise die dabei verwendete Denkfigur stillschweigend übernommen.

Insbesondere am Versuch einer präzisierten Bestimmung des Begriffs der Produktionsverhältnisse wird das zentrale Interesse des Autors deutlich. Es geht ihm, wie bereits angedeutet, um den Nachweis einer spezifischen „Sozialontologie“ in Marx’ Gesellschaftstheorie. Diese komme darin zum Ausdruck, dass Marx bekannt-lich Begriffe wie Ware, Wert oder Kapital als – sinnlich nicht direkt wahrnehmbare – soziale Beziehungen oder als Verhältnisse fasst, statt als Dinge. Dazu braucht es Theorien und begriffliche Abstraktionsleistungen (man erinnert sich an die methodologischen Überlegungen von Marx etwa in der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie). Hierzu rechnet der Autor auch die Totalitätskonzeption von Hegel, die Marx übernommen habe, unbeschadet der ausdrücklichen Ablehnung des Hegelschen Idealismus. Durch eine erneute philosophische Analyse der Marxschen Theorie versucht Bayertz so zu weiterführenden Erkenntnissen zu gelangen.

Bezogen auf den Nachweis einer für Marx spezifischen „Sozialontologie“ argumentiert Bayertz wie folgt: Einerseits geht es ihm darum, dass Marx auch bei der theoretischen Fassung des Gesellschaftsbegriffs am Materialismus festgehalten hat, dass er aber diesen im Unterschied zu den überlieferten Konzepten nicht substanzhaft-stofflich und „mechanisch“ (siehe schon die Kritik in den Feuerbachthesen an einem solchen traditionellen Materialismus) und auch nicht als einfache Übertragung eines Naturhaften aufs Menschlich-Kulturelle verstand (vgl. 110). Damit waren auch die atomistischen Sozialtheorien indiskutabel, wie sie bis hin zu Hobbes vertreten wurden (teilweise bis in die Gegenwart, denkt man an solche „Sozialtheoretikerinnen“ wie Margret Thatcher mit ihrem Verdikt, dass es so etwas wie Gesellschaft gar nicht gebe). Darum, so Bayertz, beruhte für Marx „die Idee einer nachträglichen Vergesellschaftung ursprünglich separater Individuen auf falschen Voraussetzungen“ (115). Gesellschaft sei nicht „eine Summe von Individuen“, sondern, wie Marx in den Grundrissen (MEW 42, 189) schrieb, „die Gesamtheit der Verhältnisse zwischen ihnen“, damit ein „Gefüge von Relationen“ (118), deren Relata nicht die Individuen seien, sondern deren Handlungen, spezifischer: deren „Produktionsaktivitäten“. Vorbereitet sieht Bayertz dies bereits z. B. in der Deutschen Ideologie, wonach „die Verhältnisse der Individuen [...] ihr wechselseitiges Verhalten“ (MEW 3, 423) seien. Die „Materialität der Produktionsverhältnisse“ als objektive, nichtintendierte Handlungsfolgen interpretiert Bayertz so: Marx reformulierte „den traditionell eher substantialistisch verstandenen Materiebegriff in relationalen Termini: Prototypisch für Materie sind nicht mehr Substanzen oder Dinge, sondern Relationen. Die Materie wird entstofflicht.“ (127) Diese „Entstofflichung der Materie“ habe „eine bemerkenswerte Parallele in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts“, was Bayertz mit der wachsenden Bedeutung „nichtstofflicher Phänomene“ wie Elektrizität oder Strahlung für die physikalische Theoriebildung begründet. Dem damit angesprochenen Problem eines heute angemessenen Materiebegriffs kann hier nicht weiter nachgegangen werden; zu fragen wäre aber immerhin, ob statt von einer ‚Entstofflichung’ nicht eher von der jeweiligen Umwandlung unterschiedlicher Materieformen (z.B. von Masse in Energie und umgekehrt) zu sprechen wäre.

Was die „Entstofflichungsthese“ bezogen auf die Marxsche Theorie betrifft, so wäre immerhin zu verweisen auf die für Marx konstitutive, widersprüchliche (oder dialektische) Einheit von „Stofflichem“ und „Formbestimmtem“ sowie darauf, dass zwar, wie erwähnt, das Neue bei Marx gegenüber der herkömmlichen Politischen Ökonomie darin bestand, dass er Wert, Geld und Kapital als ein gesellschaftliches Verhältnis entschlüsselt hat, dass aber z.B. der Wert oder Tauschwert nicht ohne Gebrauchswert, also nicht ohne die „stofflich“-gegenständliche oder „naturbezogene“ Seite existiert.

Es konnten hier nur einige zentrale Gedanken des bemerkenswerten Buches skizziert werden, das noch weitere interessante Passagen enthält etwa zur Marxschen Geschichtstheorie. Was die politische Ökonomie insgesamt betrifft, so versteht der Autor sie jedenfalls nicht als Verabschiedung des „Historischen Materialismus“, sondern als dessen Konkretisierung. Insofern bestreitet er, anders als manche Marx-Interpreten (z.B. Althusser), dass es einen tiefen Bruch gebe zwischen dem frühen und dem reifen Marx, ohne freilich dessen Entwicklung in der Verarbeitung der sich verändernden jeweiligen Zeitumstände zu ignorieren.

Richard Sorg

Arbeiterklasse heute

Bernd Riexinger, Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen, VSA: Verlag, Hamburg 2018. 158 Seiten, 14,80 Euro

Linke Politiker, die theoretische Schriften verfassen, um ihre Positionen zu begründen, sind rar geworden. Besonders ungewöhnlich sind Autoren, die sich mit den historischen Kampferfahrungen und der heutigen Lage der Arbeiterklasse auseinandersetzen. Beide Kriterien erfüllt Bernd Riexinger, einer der Vorsitzenden der Partei Die Linke, mit seinem Buch über „neue Klassenpolitik“. Riexinger wendet sich gegen die über Jahrzehnte wiederholte Behauptung, es gebe keine Klassengesellschaft mehr (15ff.). Bei seiner Argumentation bezieht er sich zwar auf Marx und marxistische Theoretiker, aber im Wesentlichen stützt er sich auf empirisches Material und eigene Erfahrungen1[1] als engagierter Gewerkschafter. Anschaulich und detailreich schildert der Autor mit Blick auf die „alte“ und „neue“ Bundesrepublik die Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte (25ff.): Diese betreffen die Abnahme des industriellen zugunsten des Dienstleistungssektors, die Transnationalisierung der Produktion und die Durchsetzung eines computerbasierten „toyotistischen“ Produktionsmodells, die auch die verwaltende Arbeit umwälzt. Überzeugend skizziert Riexinger die Zusammenhänge zwischen der Einführung neuer Technologien und politischen, betrieblichen sowie innergewerkschaftlichen Konflikten.

Besondere Aufmerksamkeit widmet er der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse (45ff.), die sich manifestiert in Leiharbeit, Werkverträgen, Scheinselbstständigkeit, Minijobs, digitalem Crowdworking und bezahlter häuslicher Arbeit. Die Deindustrialisierung der ehemaligen DDR hat in dieser Hinsicht verheerende Folgen gehabt. Mehr als 35 Prozent der Beschäftigten im Osten arbeiten heute im Niedriglohnsektor, während es im Westen 20 Prozent sind. Als „verbindende Klassenpolitik“ (121ff.) bezeichnet Riexinger die Strategie, diese Fragmentierung zu überwinden und Arbeitskonflikte quer zu potenziellen Spaltungslinien zu organisieren. Elemente einer solchen Strategie diskutiert er in einem eigenständigen Kapitel (93ff.) unter anderem am Beispiel der Streiks im Öffentlichen Dienst, beim Online-Handel Amazon und an der Berliner Charité. Klassenbewusstsein, so Riexinger weiter, entstehe aus der bewussten Verarbeitung von Kampferfahrungen und könne das von den Rechten propagierte „nationale Bewusstsein“ ersetzen.

Einseitig, obwohl in mehreren Punkten richtig, ist Riexingers Stellungnahme in der innerlinken Debatte um Migrationspolitik (77ff.). Mit Hinweis auf den letzten Satz des kommunistischen Manifests – „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ – plädiert er für internationale Solidarität und gegen das Vorhaben, inländische Arbeitsplätze durch ein strikteres Grenzregime schützen zu wollen. Zutreffend verweist er auf günstige Folgen von Immigration, die sich einstellen, sofern es der Arbeiterklasse gelingt, gleiche Rechte für alle durchzusetzen. Die Kritik an migrationspolitischen Aussagen von Sahra Wagenknecht, die selbst nicht direkt erwähnt wird, bleibt implizit und hätte ausgeführt und begründet werden müssen. Es fehlt zudem eine Auseinandersetzung mit linksliberalen Stellungnahmen. Anlass dazu hätte etwa der vom Linkspartei-Vorsitzenden mitunterzeichnete Aufruf „Solidarität statt Heimat“ von medico international, dem Institut Solidarische Moderne und kritnet geboten: Darin war von „nationalistischer Wohlfahrtsstaatlichkeit“ die Rede und davon, dass „selbst unter Linken“ Rassismus „wieder ganz normales Alltagsgeschäft geworden“ sei. In einer falsch gleichsetzenden Diktion, wie man sie sonst von konservativer Seite gewohnt ist, heißt es im Aufruf, man sei gegen Rassismus, „ob von rechts oder links“.

Eher enttäuschend fällt das letzte Kapitel des Buchs aus, das „das Ganze in den Blick“ nehmen soll (139ff.). Statt die aus seiner Analyse sich ergebenden Forderungen in einem Begriff des „Sozialismus“ zu verdichten, greift Riexinger hier unglücklicherweise zu der blumigen und redundanten Sprache, wie sie aus Publikationen der Partei und der Rosa-Luxemburg-Stiftung bekannt ist: „Die Kunst einer linken Hegemoniepolitik“, bestehe darin, die „verschiedenen sozialen Kämpfe, Interessen, Bedürfnisse und Träume der Menschen zu einem Transformationsprozess zu verbinden.“ Das Ziel seien „soziale Garantien und ‚Infrastruktursozialismus‘, ein Neues Normalarbeitsverhältnis und eine sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie“. Wenn Riexinger schreibt, gegenwärtig sei keine revolutionäre Dynamik zu erkennen, dann konstatiert er damit nur das Offensichtliche.

Dabei besteht Riexingers beachtliche Leistung in allen übrigen Kapiteln gerade darin, kapitalistische Ausbeutung und betriebliche Konflikte ungeschönt, erfahrungsnah und mittels klassentheoretischer Begriffe darzustellen. Dies ist auch deshalb verdienstvoll, weil viele linke Intellektuelle und politisch Aktive mit Hochschulabschluss die Arbeitswelt nur in geringem Maße aus eigener Anschauung kennen und deshalb dazu neigen, deren Bedeutung für Millionen von Menschen zu unterschätzen. Riexingers Buch ist also – ungeachtet der genannten Schwächen – sehr zur Lektüre zu empfehlen.

Michael Zander

Diskussion um Klassentheorie

Hans-Günter Thien, Die verlorene Klasse – ArbeiterInnen in Deutschland. 2. korrigierte und um ein Nachwort erweiterte Auflage, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2018, 235 S., 25,- Euro

Hans-Günter Thien, Münsteraner Soziologe und Verleger des linken Verlags Westfälisches Dampfboot, hat seine 2010 erschienene Aufsatzsammlung Die verlorene Klasse – ArbeiterInnen in Deutschland neu herausgebracht. Gegenüber der Erstauflage sind die sechs Aufsätze unverändert wieder abgedruckt, lediglich ergänzt um ein Nachwort 2018, das Überlegungen zur neueren soziologischen Diskussion beinhaltet. Die Aufsätze stammen aus den Jahren 1985 bis 1998, das unveränderte Vorwort von 2010. Thien ist sich der Frage nach der Relevanz einer Neuveröffentlichung durchaus bewusst, ist jedoch von der Aktualität des seinerzeit Geschriebenen überzeugt, wie er im Vorwort verdeutlicht.

Der Titel des Bandes suggeriert, es handele sich um eine empirische Arbeit über ArbeiterInnen in Deutschland zwischen 1985 und 2018. Es geht jedoch primär um das Verschwinden der marxistischen Klassenanalyse im soziologischen Diskurs eben dieser Jahre. Thien konstatiert, dass die akademische Soziologie „das Vorhandensein von Klassenverhältnisse schlichtweg übersah oder leugnete“ (7), auch wenn es seit der Finanzmarktkrise von 2008 eine „Neuentdeckung einer Art Klassenfrage“ (7) gebe. Alle Aufsätze beschäftigen sich mit dem zur Zeit der jeweiligen Erstveröffentlichung herrschenden soziologischen Diskurs. Der Begriff „Klasse“ wurde, so Thien, in der Regel synonym zu den Begriffen „Status“, „Schicht“ und „Milieu“ verwendet; dadurch sei jeder analytische Mehrwert abhanden gekommen. Thien versucht dagegen eine Wiederbelebung der Marxschen Klassentheorie, die er mehrwert- und machttheoretisch begründet (u.a. mit Verweisen auf Marx, Gramsci, Wright). Er wendet sich dabei aber auch gegen orthodoxe Marxinterpreten und eine aus dem Kommunistischen Manifest abgeleitete Vorstellung, es gebe lediglich zwei sich gegenüberstehende Klassen.

Der Mehrheit der Soziologen wirft der Autor vor, das Klassenkonzept durch Schichtungs- und Stratifikationsmodelle ersetzt zu haben sowie das Individuum lediglich nach Einkommen, Mentalität und Habitus gesellschaftlich zu verorten. Hierbei weist er, theoretisch und manchmal empirisch argumentierend, u.a. Helmut Schelskys Konzept der Nivellierten Mittelstandsgesellschaft (1953) sowie Ulrich Becks Individualisierungsthese (1983/1986) zurück, die behaupteten, es herrsche eine „Verbürgerlichung“ der Lohnarbeitenden bzw. wir lebten in einer Gesellschaft „jenseits von Klasse und Schicht“. Gegen Schelsky konstatiert Thien ein Anwachsen der Arbeiterklasse bis in die 1980er Jahre, „das allerdings eine interne Verschiebung beinhaltet; denn langfristig nahm insbesondere die Zahl der Zirkulationsarbeiter des Kapitals (Angestellte) zu, während die der produktiven Lohnarbeiter abnahm. Hinzu kommt, dass der Anteil des nichtkapitalistischen Sektors gravierend zurückgegangen ist.“ (45) Bereits 1985, also ein Jahr vor dem Erscheinen des soziologischen Bestsellers Risikogesellschaft, hatte Thien Becks seit 1983 verbreitete „Individualisierungsthese“ als einer der ersten grundlegend kritisiert. Er bezeichnete sie als eine postmoderne Theorie der neuen sozialen Bewegungen (Frauen, Frieden, AKW) (59), die den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit als nicht mehr strukturbestimmend für moderne Gesellschaften darstellte. Thien bestreitet nicht die verstärkte Mobilität zwischen den Klassen und verstärkte Differenzierungsprozesse der Milieus aufgrund der ökonomischen Prosperität ab den 1950er Jahren. Aber er kritisiert, dass Schelsky wie Beck lediglich „Verhaltensweisen und Bewusstseinsformen“ der gesellschaftlichen Individuen untersuchten (23) und dabei den für die kapitalistische Gesellschaft strukturellen Klassengegensatz negierten, wodurch „letztlich alles in ‚Neuer Unübersichtlichkeit’ (Habermas) zu verschwimmen scheint.“ (101) Wenn einzelne LohnarbeiterInnen ihre Klasse auch verlassen könnten, so ändere dies nichts an der gesellschaftlichen „Klassenstruktur, sondern einzig etwas an der Klassenposition des betreffenden Individuums in dieser“ (34). Schichtungs- und Individualisierungstheorien, die das Klassenkonzept für überholt hielten, hätten das grundsätzliche Problem, dass „sie sich auf … die Distribution, die Verteilungssphäre“ bezögen und nicht auf die (Re-) Produktionsverhältnisse. An dieser grundsätzlichen Form der gesellschaftlichen Struktur habe sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland aber „im Kern nichts Wesentliches geändert“ (24).

Auch einigen neomarxistischen Theoretikern wirft Thien analytische Schwachstellen vor, sofern sie „die dem kapitalistischen Prozess Unterworfenen vornehmlich als Teil der Struktur“ erfassten und dabei die Ebene der Handlung kaum thematisierten. Hierbei verweist Thien auf die kulturellen Ansätze von E. P. Thompson, Raymond William und Pierre Bourdieu, die die Erfahrungsprozesse der Klassenindividuen in die Analyse aufnehmen. Er zeichnet nach, dass die Vorstellung einer einheitlichen Arbeiterklasse mit gleichen Gesellschaftsvorstellungen und Mentalitäten schon immer falsch gewesen sei. Zwei Aufsätze beschäftigen sich mit der Herausbildung von Arbeiterkulturorganisationen wie z.B. jenen der Arbeitersänger, -radfahrer und –turner. Thien stellt sie nicht romantisierend dar, sondern als Institutionen der Entradikalisierung und Affirmation gegenüber dem Lohnsystem (80). Er schließt diesen Beitrag ab mit dem Verweis: „Zwar gilt es Abschied zu nehmen von dem Mythen der Arbeiterbewegung, aber nach wie vor ist eine Überwindung des kapitalistischen Herrschaftssystems nur denkbar unter Einbeziehung der Arbeiterklasse ….“ (96)

Im Nachwort 2018 diskutiert der Autor die Klassenthematik bei aktuellen soziologischen Beststellern wie Oliver Nachtweys Abstiegsgesellschaft, Ulrich Brands/Markus Wissens Imperiale Lebensweise und Stefan Lessenichs Neben uns die Sintflut. All diesen Abhandlungen gesteht er eine hohe Relevanz zu, jedoch seien sie bezüglich ber Klassenfrage unübersichtlich: „Denn statt einer wenigstens ansatzweise systematischen Klärung finden wir Impressionistisches.“ (211) Begriffe wie „Klasse“, „Schicht“, „(globale) Mittelklasse“ und „Milieu“ würden nach Belieben verwendet und durcheinander geworfen. Nachtweys Buch hält er zudem vor, dass die „ausschließliche Konzentration auf den Abstieg nicht [überzeuge], da es doch nach wie vor auch sozialen Aufstieg und für manche Bevölkerungsgruppen eine bemerkenswerte Stabilität ihrer sozialen Lage gibt ….“ (216) Bei Lessenich sieht er es als problematisch an, dass allen Gesellschaftsmitgliedern (also Angehörigen verschiedener Klassen) derselbe Externalisierungshabitus zugeschrieben wird. Auch bei Brand/Wissen verhindere die Behauptung, die imperiale Lebensweise betreffe alle Gesellschaftsmitglieder, wichtige Klärungsschritte. (223) Diesen Gesellschaftskonzeptionen wirft Thien eine „Labelisierung des zu Vermarktenden“ vor (228) sowie das Fehlen einer „soliden theoretischen wie empirischen Fundierung“ der sozialen Ungleichheits- und Machtverhältnisse durch eine kohärente Klassentheorie, die auch die Transnationalisierung des Kapitals, die Digitalisierung und die Modifikationen des Klassenverhältnisses analytisch zu beurteilen vermag. (228).

Sascha Regier

„Neue Klassenpolitik“

Sebastian Friedrich/Redaktion analyse & kritik (Hrsg.), Neue Klassenpolitik: Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus, Bertz+Fischer, Berlin 2018, 220 S., 14,00 Euro

Ob in euphorischer oder ablehnender Haltung ihm gegenüber: der Begriff der „Klasse“ ist zurück in der Debatte, und mit ihm die Suche nach einer politischen Strategie, die sich auf ein noch zu bestimmendes Subjekt bezieht. Die Wiederbelebung des Klassenbegriffs hat auch eine neue Diskussion darum entfacht, was Klassenpolitik heute leisten muss bzw. überhaupt kann. Die Notwendigkeit der (Neu-)Formulie-rung einer Klassenpolitik auf Höhe der Zeit ist auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen Vernachlässigung und mitunter auch Zurückweisung von „Klasse“ als zentralem Ausgangspunkt politischen Handelns innerhalb weiter Teile der deutschsprachigen Linken. Nicht zuletzt die schwelende Bedrohung, die gegenwärtig von der sukzessiven Aneignung des Klassenbegriffs von rechts ausgeht, zeigt die Dringlichkeit einer revitalisierten linke Klassenpolitik, die nicht bei einer bloßen Kritik der sozialen Verhältnisse innerhalb kapitalistischer Gesellschaften stehen bleibt. Eben dieses ambitionierte Vorhaben verfolgt der vorliegende Sammelband, der sich in der Gesamtschau als Standortbestimmung linker Klassenpolitik präsentiert, von der aus es weiter zu denken und zu handeln gilt.

Der Band vereint einunddreißig erfrischend leserliche, leichtverdauliche Beiträge, die aus unterschiedlichen intellektuellen und politischen Zusammenhängen einen Beitrag zur Ausformulierung einer neuen Klassenpolitik leisten wollen. Dabei wählen die einzelnen Autor_innen/-kollektive jeweils unterschiedliche thematische Bezugspunkte. So wird etwa die Bedeutung des Klassenkampfes in der Wohnungspolitik (Mattern u.a.), die Frage nach dem emanzipatorischen Gehalt heutiger Gewerkschaftspolitik (Frings, Bewernitz, Nowak u.a.), der scheinbare Gegensatz von Klassen- und Identitätspolitik (Birkner, Zander u.a.) oder die Frage nach einer aktualisierten Klassenpolitik, welche die derzeitigen Wandlungs- und Fragmentierungsprozesse innerhalb der Arbeitswelt abzubilden vermag (Haug, Schwerdtner u.a.), andiskutiert. Die Beiträge liefern erste Koordinaten, welche die Grundlage für ein neues bzw. revitalisiertes Verständnis von Klasse als politischem Subjekt legen könnten. Die Intersektion von Klasse und anderen Ungleichheitsachsen wie „Race“ oder Geschlecht denken quasi alle Autor_innen in ihren Plädoyers für eine neue Klassenpolitik mit. In Reflexion der aktuellen politischen Entwicklungen insbesondere in Deutschland und Europa streben die Debattenbeiträge zudem eine analytische Bestimmung bestehender Klassenkonflikte (Dörre, Friedrich, Seeßlen u.a.) unter dem Eindruck des Aufstiegs rechtspopulistischer Kräfte im Zeitalter des Neoliberalismus an. Auch brisante, innerlinke Diskussionen, wie die Frage nach einer linken Position zur Migrationspolitik (Urban, Türkmen) oder nach dem feministisch-emanzipatorischen Gehalt gendergerechter Sprache und queer-feministischen Praxen für Industriearbeiterinnen (Barthold) werden nicht ausgespart. So verfolgt das Buch den Anspruch, unterschiedliche Fraktionen der Linken zu Wort kommen zu lassen, wodurch eine Reihe von Schauplätzen, in denen Klassenpolitik heute eine Rolle spielt oder spielen sollte, abgebildet werden.

Kritische Leser_innen werden nicht jeden hier vertretenen Standpunkt teilen; dafür ist das politische Spektrum, das die Artikel in ihrer Gesamtheit aufspannen, zu breit. Die Stärke des Sammelbands liegt jedoch genau darin. Die kurzen, prägnanten Artikel regen zum Streit an, indem sie gemeinsam und gegeneinander gelesen Brücken zwischen unterschiedlichen Politikansätzen schlagen, sich in kritischen Fragen aneinander reiben lassen und Bruchlinien aufzeigen, die es weiter zu diskutieren gilt.

Dennoch fehlt es an einigen Stellen an dialogischen Elementen. Die Debattenbeiträge selbst stehen mehr nebeneinander als dass sie kritisch Bezug aufeinander nehmen würden. Dies verstellt im Konkreten den Blick sowohl auf die verbindenden als auch spaltenden Momente einer mehrheitsfähigen, progressiven Klassenpolitik. So wird die strategisch zentrale Frage, wie eine neue Klassenpolitik eine fragmentierte Arbeiter_innenschaft, wie sie u.a. in Deutschland existiert, vereinen könnte, nicht erschöpfend genug diskutiert. Zwar betonen die Autor_innen fast einstimmig die Unumgänglichkeit des Miteinander-ins-Gespräch-Kommens – dennoch scheint es, als scheuten einige an kritischen Punkten die gezielte politische Konfrontation. Hans-Jürgen Urban merkt in diesem Zusammenhang an, dass eine Klassenpolitik auf Höher der Zeit auch einer neuen Diskussionskultur innerhalb der Linken bedarf, die Räume für produktiven Streit eröffnet ohne dabei die Bündnisfähigkeit der vielfältigen politischen Ansätze zu gefährden.

Stellenweise werden darüber hinaus politische Allgemeinplätze formuliert, hinter die jede Form linker Politik ohnehin nicht zurückfallen sollte. Der Aufruf, der in einigen Beiträgen formuliert wird, linke Klassenpolitik immer auch feministisch, antirassistisch etc. zu gestalten, wird mit Blick auf das Selbstverständnis der meisten Linken ohnehin auf offene Ohren stoßen. Demgegenüber gerät eine marxistisch geerdete, analytische Auseinandersetzung mit dem Klassenbegriff und seinen Bestandteilen (Ausbeutung, Produktionsverhältnisse etc.) leider zu kurz. Nur vereinzelt wird im Rückgriff auf Marx bspw. der generelle „Gebrauchswert des Klassenbegriffs“ (Lütten) für eine linke Politik diskutiert. Auch der Blick auf die globale Arbeiter_innenklasse (Silver) nimmt in dem Buch eher eine randständige Position ein. So nimmt die deutsche Klassendiskussion, wie sie hier abgebildet wird, meist nur in Nebensätzen Bezug auf historisch und räumlich versetze Klassenkämpfe. Klar ist allerdings auch, dass eine Artikelsammlung im Umfang von 220 Seiten keine ausschöpfende Darstellung aller relevanten Dimensionen, mit der sich eine neue Klassenpolitik zu beschäftigen hätte, bewerkstelligen kann.

Es sind Aufrufe wie die nach einer internationalistischen (Kuhn) Klassenpolitik, welche die emanzipatorischen Potenziale im Arbeits-/Alltag (Decker) von Arbeiter_innen (Hürtgen), Erwerbslosen (Eberle), Hausfrauen (Federici/Schultes) und Migrant_innen (Birke) herausstellt, die wieder Lust auf eine durch „Klasse“ inspirierte wissenschaftliche Beschäftigung, politische Auseinandersetzung und linke Praxis macht. Der Sammelband zeigt also auf vielseitige Art und Weise: Klasse und Klassenpolitik ist wieder kontrovers diskutierter Gegenstand linker Debatten und Strategien. So kann das Buch als Ausgangspunkt verstanden werden, von dem aus weiter zügig voran gegangen werden muss. Die darin aufgeworfenen Fragen und Ansätze müssen entsprechend (marxistisch) weitergedacht und praktisch verarbeitet werden, um so das Fundament für eine (neue) Klassenpolitik zu legen.

Janina Puder

Eine zeitgemäße Philosophie der Praxis

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis, Verlag Karl Alber, Freiburg/München, 2018, 351 S., 39,00 Euro (= I); ders.: Das dialektische Verhältnis der Menschen zur Natur. Verlag Karl Alber, Freiburg/ München 2018, 256 S., 32,00 Euro (= II)

Der Autor, der von 1971 bis 2007 an der Universität Kassel Philosophie lehrte, hat nun im so genannten Ruhestand die Zeit gefunden, zwei seiner 1981 (I) bzw. 1984 (II) erschienen Bücher in überarbeiteter und aktualisierter Form neu herauszugeben. Sie sind ein Versuch des Eingreifens in gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen. Philosophie der Praxis bedeutet für Schmied-Kowarzik „die bewusste Einbindung des Denkens und Handelns in die gemeinsame Verantwortung der Menschen für ihre gesellschaftliche Praxis.“ (Einleitung I: 30). Dass solch ein Unterfangen im Zeitpunkt des Erscheinens des Bandes (1981) auf heftige Kritik aus der stalinistisch geprägten Philosophie vor allem in der DDR stieß, ist mehr als verständlich. Im Westen reagierte man subtiler auf solch explosives Gedankengut: Man vermied die Auseinandersetzung. Gerade deshalb ist es verdienstvoll und für die aktuelle politische Auseinandersetzung wichtig, dass diese Schriften nun nochmals aktualisiert erscheinen.

Die neue Fassung von „Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis“ präsentiert im ersten Teil im Wesentlichen das 1981 publizierte Manuskript. Der zweite Teil des damaligen Buches wurde ersetzt durch sechs Aufsätze aus jüngerer Zeit. Dabei handelt es sich um Beiträge zu Marx‘ Kritik der Hegelschen Dialektik und zu den Feuerbach-Thesen, um eine systematische Darstellung zur Praxisphilosophie und um „Perspektiven zur Weiterführung“ der kritischen Philosophie der gesellschaftlichen Praxis. Dem Verfasser geht es darum, den dogmatischen Sozialismus und vulgären Materialismus nochmals zu widerlegen, den schon Marx immer wieder bekämpft habe. Schmied verweist auf Gramsci, der den Begriff „Philosophie der Praxis“ prägte, und auf die Frankfurter Schule, die unter dem Begriff der „kritischen Theorie“ Marx als den Begründer einer kritischen Gesellschaftstheorie verstand. An dieser Stelle hebt der Verfasser allerdings hervor, dass sich Horkheimer und Adorno dann „unter Beibehaltung des Etiketts einer ‚Kritischen Theorie‘ so entschieden von der Marxschen Theorie (distanzierten), dass man kaum mehr von einer Fortsetzung des ursprünglichen Anliegens sprechen kann“ (285). Da man unter dem Begriff der ‚Kritischen Theorie‘ nunmehr nicht mehr das Marx’sche Anliegen fassen könne, sieht er diese Tradition im Begriff der ‚Kritischen Philosophie‘ aufgehoben. In dieser Tradition verortet er vor allem Lukács, Bloch, Herbert Marcuse, Lefebvre, Sartre und insbesondere die Vertreter der jugoslawischen ‚Praxis‘-Gruppe. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die differenzierte Darstellung und teilweise Kritik der Ansätze von Gramsci, Sartre und Merleau-Ponty, Max Adler und Max Horkheimer, Adorno und Marcuse, Korsch und Lukács, Bloch und Lefebvre.

Bezugnehmend auf Lefebvre rekurriert Schmied-Kowarzik auf die 11. Feuerbachthese: „Unter Aufhebung der Philosophie ist jedoch keineswegs ihre schlichte Abschaffung zu verstehen, sondern eher eine Transformation in bewusster Praxis“ (I: 315). Und weiter: „Hier hat das ‚metaphilosophische Denken‘ … anzuknüpfen, um an dem großen Projekt bewussten solidarischen Menschseins weiterzubauen, dessen Teilstücke die Protest- und Emanzipationsbewegungen sind“ (I: 326). Diese Vision erinnert schon beinahe an das in der aktuellen Linken diskutierte Bild von der ‚Mosaik-Linken‘ – allerdings liefert der Verfasser jenen theoretischen Fugenkitt, den das schöne Bild vom ‚linken Mosaik‘ so dringend benötigt, um nicht vom leisesten Windstoß durcheinander gewirbelt zu werden.

Die hier entfaltete „Philosophie der Praxis“ benennt auch die unmittelbar konkreten Aufgaben einer sich der menschlichen Entwicklung verpflichtenden, aufklärerischen und damit politischen Philosophie, unter der vorrangig – neben der Kritik der „sozialen Marktwirtschaft“ und des Nord-Süd-Konflikts – die Ausplünderung der Natur steht, die auf der Grundlage des kapitalistischen Wertgesetzes immer rasanter voranschreitet (I: 281f). Damit wird die Brücke geschlagen zum Thema des zweiten Bandes, dem dialektischen Verhältnis des Menschen zur Natur.

Auch in diesem Band wurde der erste Teil, überarbeitet und aktualisiert, aus der erstmals 1984 erschienen Monographie übernommen. Der zweite Teil ist völlig neu. Unter Verweis auf die katastrophalen Industrieunfälle in Majak, Seveso, Harrisburg, Bhopal, Tschernobyl, Chuandongbei, Fukushima, jene „unübersehbaren Schriftzügen des Menetekels an unseren industriellen Palastwänden“ (II: 13), greift Schmied-Kowarzik Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte an, die er treffend als „ideologische Propaganda“ bezeichnet, die nur die durch den entfesselten Kapitalismus heraufbeschworene Katastrophe des möglichen Endes der Menschheit übertünchen soll. Auch hier wendet er sich gegen die im dogmatischen Marxismus wie bei dessen Gegnern verbreitete These, dass Marx uneingeschränkt (und kritiklos) den wissenschaftlich-technischen Fortschritt bejaht habe, was dann im Sowjetmarxismus zum Glaubensartikel wurde. Sein Vorwurf richtet sich nicht nur gegen Lenins Formel Kommunismus = Sowjetmacht plus Elektrifizierung, sondern auch gegen Habermas, der das Mensch-Natur-Verhältnis nur „in den zweckrationalen Kategorien der neuzeitlichen Wissenschaften und Technik zu denken“ vermöge (II: 16). Es mag zur Tragik gesellschaftlich engagierter Wissenschaft gehören, wenn der Autor – wohl leider zu Recht – feststellt, dass sein 1984er Buch „für die Marx-Diskussion zu spät, für die beginnende Ökologie-Debatte zu früh (kam)“ (II: 17).

Im Gegensatz zu der weit verbreiteten Meinung und den Positionen vieler Marxisten von Plechanow und Bucharin bis Sartre weist Schmied-Kowarzik darauf hin, dass Marx schon in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ festgestellt hat: „Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebenso Quelle der Gebrauchswerte als die Arbeit …“ (II: 85). Seine profunde Kenntnis der Marx’schen Schriften lässt ihn zu der Feststellung kommen, dass die Zerstörung der Natur gerade Teil jenes selbstzerstörerischen Prozesses ist, der dem Kapitalismus innewohnt. Warum die Naturfrage von vielen Marxisten vernachlässigt und „Natur“ gewissermaßen als Konstante gesetzt wurde, behandelt er in einem eigenen Kapitel (II: 106-136). Dem folgt die Erörterung des Verhältnisses von Mensch und Natur bei jenen Marxisten, die diese Frage in den Blick genommen haben wie Wittfogel, Adler, Sohn-Rethel, Bloch und Lefebvre, wobei auch auf Schelling und Kant zurückgegriffen wird.

Die beiden Bände sind nicht nur von außergewöhnlicher Dichte, sie sind auch von höchster Aktualität: So lange Wissenschaft und Technik dem Kapitalinteresse unterworfen bleiben, wird der Prozess der Zerstörung von Gesellschaft und Natur weitergehen und zwangsläufig in der Barbarei enden. Dem liegt zugrunde die Illusion, geronnen im Fortschrittsglauben an die (von den Verwertungsinteressen des Kapitals in Besitz genommene) Wissenschaft, dass die Menschen sich von der Natur ablösen könnten, um sie uneingeschränkt und folgenlos zu vernichten. Um es mit den Worten des Autors zu sagen: „Es liegt an uns, … die Prozesse der Natur und Geschichte in Allianz miteinander voranzubringen und auf die uns geschichtlich aufgegebene menschliche Vollendung sozialer Gerechtigkeit für alle Menschen hinzuarbeiten. Dies kann uns aber nur in bewusster und solidarischer Praxis gegen die uns fremdbeherrschende Wertlogik des Kapitals gelingen.“ (II: 242) Hier schließt sich der Kreis, der, ausgehend von einer subtilen und humanistischen Marx-Interpretation zu einer Philosophie der Praxis führt, einer Praxis, die sich als interventionistisch versteht und an all jene Kräfte appelliert, die sich aus ihrer berechtigten Kritik heraus zu solidarischem Handeln zusammenfinden müssen, um Menschheit und Natur vor ihrer Vernichtung zu bewahren. Zeitgemäßer könnten diese erheblich erweiterten Neuauflagen nicht sein.

Werner Ruf

Nachdenken über die
Oktoberrevolution

Stefan Bollinger, Oktoberrevolution. Aufstand gegen den Krieg 1917-1922, edition ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2017, 224 Seiten, 14,99 Euro

Welches waren die Voraussetzungen für den Sieg der Bolschewiki im Oktober 1917? Welche Widersprüche ergaben sich aus der fortwährenden internationalen Isolierung der russischen Revolution? Warum konnte sich diese in den Jahren des Bürgerkriegs und der ausländischen Intervention (1918-1920) gleichwohl behaupten? Welche Fernwirkungen auf Westeuropa und die damaligen Kolonialländer hatte die russische Revolution? Warum sind die Revolutionen im Westen nach 1918 gescheitert? Bot die 1921 eingeleitete Neue Ökonomische Politik die Chance für einen wirtschaftlichen Wiederaufstieg? Welche Auswirkungen hatten die gleichzeitige Niederschlagung des Kronstadter Aufstands und das auf dem X. Parteitag von Lenin durchgesetzte Fraktionsverbot auf die demokratische Willensbildung in Partei und Staat? Wie hängt dies alles mit dem Aufstieg Stalins, ab 1922 Generalsekretär der KPR (B), zusammen? Warum gab es – zwei Generationen später – in den staatssozialistischen Ländern kaum mehr Verteidiger der Ideen des „Roten Oktobers“? Wie wird an die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ im heutigen nachsozialistischen Russland erinnert? Wie verändert das Wissen um das Ende des sowjetischen Sozialismus den Blick auf seinen Anfang in der Oktoberrevolution? Welche Karriere hat der Begriff der Revolution nach 1989/91 genommen – etwa in den „farbigen Revolutionen“ Osteuropas (Georgien, Ukraine)? Welche und wessen Interessen artikulieren sich in und hinter diesen „Revolutionen“? Kann heute ein politischer Rekurs auf die historische Oktoberrevolution und die sie tragende Arbeiterklasse noch sinnvoll sein, wo diese Klasse sich gegenwärtig, in einer neuen Phase kapitalistischer Entwicklung, zu fragmentieren, zu privatisieren, zu entpolitisieren scheint? Und schließlich, mit Blick auf die Gegenwart, die nicht leicht zu beantwortende Frage: „Wo sind die Sozialisten geblieben“? (166)

Dieses weitgesteckte Spektrum an historischen und politischen Problemen wird in Stefan Bollingers Buch im Detail diskutiert und in seinen historischen Abschnitten dicht am Quellenmaterial bearbeitet.

Wie im Untertitel des Buches angedeutet, spielte das Problem von Krieg und Frieden für die Entwicklung der russischen Revolutionen bereits seit 1905 eine zentrale Rolle (61). Die Februarrevolution 1917 und die sie tragenden politischen Parteien – Menschewiki, Sozialrevolutionäre – lösten den gordischen Kriegsknoten ebenso wenig auf wie die Provisorische Regierung in ihren wechselnden personellen Konstellationen. Deren im Juni 1917 gestartete militärische Offensive endete in einem Fiasko, ruinierte die Wirtschaft des Landes weiter, trieb den Revolutionsprozess voran und stärkte die Position der Bolschewiki in Arbeiterklasse und Armee. Bis zum Sommer 1917 hatte sich die Mitgliedszahl ihrer Partei gegenüber dem Jahresbeginn verzehnfacht (41). Sie war nun keine kleine illegale Organisation mehr, sondern mit rund 350.000 Mitgliedern im Oktober in den großen Städten und an den wichtigsten Frontabschnitten eine Partei mit Masseneinfluss. „Ihr Vorteil blieb die straffe Organisation, die bei allen Diskussionen, die es gab, klare Beschlüsse fasste und sie den Mitgliedern und der Öffentlichkeit vermittelte. Dazu hatte sie ein umfangreiches Netz von Druckereien, Presseorganen und Redaktionen, von Flugblättern.“ (41-42) Die Forderungen der Bolschewiki nach einer sofortigen Beendigung des imperialistischen Kriegs, nach Arbeiterkontrolle in den Fabriken, nach Landaufteilung, nach Übertragung der politischen Macht an die Sowjets sicherten ihnen die Unterstützung der durch Krieg und Wirtschaftszerrüttung in die Not getriebenen Klassen. So könne die Oktoberrevolution „eben nicht als einfacher Putsch“ (152) interpretiert werden.

Herausgefordert wurde die Oktoberrevolution am 5. Januar 1918 durch die Konstituierende Versammlung mit einer deutlichen nicht-bolschewisti-schen Mehrheit. Aber, so der Verfasser, diese atmete eher den „Geist der Februarrevolution. Der Oktober war bereits politisch weiter“ (151). Dessen Programm und Praxis, die sich in der „Deklaration des werktätigen und ausgebeuteten Volkes“ niederschlug, wurde von der Konstituante abgelehnt und diese selbst daraufhin von den Bolschewiki aufgelöst. Sie fand – auch in den Folgejahren – nur wenige Verteidiger.

In den Militarisierungen und Zentralisierungen des „Kriegskommunismus“ (1918-1920), in der Niederschlagung des Kronstadter Aufstands, in der Verengung der innerparteilichen Demokratie und Diskussion nach 1921, in der „radikalen ‘Links’wendung und Diktaturentfaltung durch Stalin 1927/28 als Reaktion auf eine vermeintlich gescheiterte Neue Ökonomische Politik“ (154) und nicht zuletzt in der internationalen Isolierung sieht der Autor wesentliche Voraussetzungen für die „zeitweise mörderische Diktatur“ (154) der 1930er Jahre. Der historische Weg dorthin sei nicht unvermeidlich und alternativlos gewesen – immer wieder boten sich „auch Chancen zur Umkehr“ (154). Dies gelte auch für spätere Phasen der sowjetischen Geschichte bis zu ihrem Ende 1991.

Der Nutzen des Bandes wird vermehrt durch den auszugsweisen Abdruck von wichtigen Dokumenten und Dekreten der Revolution sowie von politischen Stellungnahmen seitens Rosa Luxemburgs, Antonio Gramscis und Lew Trotzkis.

Zudem enthält er, neben einer knappen Chronologie, einige aufschlussreiche statistische Angaben über die Entwicklung der russischen Sozialstruktur, des Parteiengefüges 1917, über die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, über die Kriegsmobilisierungen und -verluste. (Die auf Seite 56 genannte Zahl von nur 0,9 Mio. Mobilisierten in Österreich-Ungarn wäre in einer zweiten Auflage zu korrigieren.)

Die Angaben über die personelle Zusammensetzung der Revolutionsregierung, des Rats der Volkskommissare, von Oktober 1917 bis März 1918 (86-87) können Schrecken und Trauer hervorrufen: Von den 37 namentlich genannten Volkskommissaren jener Periode wurden in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre 22 erschossen, sie starben im Gulag oder in der Haft; einer, der Volkskommissar für Justiz I. S. Steinberg, ein Linker Sozialrevolutionär, starb 1957 im Exil. Die historischen Brüche zwischen 1917 und den 1930er Jahren, die „Unterscheidbarkeit von Oktoberrevolution und Stalinscher Diktatur“ (155), können durch diese Angaben verdeutlicht werden.

Stefan Bollinger führt (174) ein Zitat aus Rosa Luxemburgs bekannter Schrift über die russische Revolution an, die auch 100 Jahre nach ihrer Niederschrift zum Nachdenken anregen kann. Den Bolschewiki bleibe „das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden. Und in diesem Sinne (Hervorhebung Rosa Luxemburg) gehört die Zukunft überall dem ‘Bolschewismus’“.

Gert Meyer

Charaktere der Sozial-demokratie

Holger Czitrich-Stahl, Arthur Stadthagen. Parlamentarier, Sozialdemokrat, Wegbereiter des Arbeitsrechts (Jüdische Miniaturen Bd. 220), Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2018, 66 S., 3 Abb., 8,90 Euro

Einst gab es eine Zeit, in der unverwechselbare Charaktere das Profil der deutschen Sozialdemokratie bestimmten. Einer davon war Arthur Stadthagen. Dem Verlag gebührt Dank, dass er diesen Mann in seine „Jüdischen Miniaturen“ aufgenommen hat. Dafür gab es keinen kompetenteren Autor als Holger Czitrich-Stahl, denn er hat mit einer Stadthagen-Biografie promoviert, eine Auswahl seiner Reden und Schriften ediert und bereits mehrere Studien zur Vita Stadthagens publiziert.

Der in einer begüterten, bildungsbeflissenen, in Preußen gut integrierten jüdischen Familie aufgewachsene Arthur Stadthagen wurde am 23. Mai 1857 in Berlin geboren, wo er am 5. Dezember 1917 verstarb. Sein Leben wurde jedoch nicht durch die jüdische Religion geprägt – in reiferen Jahren bezeichnete er sich als Dissident –, sondern durch sein politisches und soziales Engagement, das ihn zu einem der angesehensten Führer der deutschen Sozialdemokratie aufsteigen ließ. Sein Parteieintritt liegt allerdings im Dunkel, doch hat er sich als studierter Jurist schon zur Endzeit des Sozialistengesetzes zur Sozialdemokratie bekannt. Hier nahm er seinen Platz im „marxistischen Zentrum“ um August Bebel und Karl Kautsky ein, bestrebt, erfolgreiche Reformpolitik mit der Orientierung auf das sozialistische „Endziel“ zu verbinden. Dabei brach er auch die Beziehungen zum radikalen linken Flügel um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht ab.

Der Autor hat diese Skizze des politischen Lebens Stadthagens, in der wir nicht sehr viel über seine Privatsphäre und persönliche Interessen erfahren, nach dessen wichtigsten Wirkungsfeldern gegliedert. Das bringt unvermeidlich einige hinnehmbare Wiederholungen mit sich. Nach Vorstellung der familiären Ursprünge und des Umfeldes der Familie, von der später viele der Shoah zum Opfer fielen, widmet er sich Stadthagens Rolle als Anwalt der „kleinen Leute“, nicht zuletzt auch der Frauen. Dem folgt die Darstellung seines Wirkens als Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, wo er vor allem mit Sozial- und Bildungspolitik befasst war. Wichtiger wurde jedoch seine Präsenz im Deutschen Reichstag, nachdem er 1890 den Wahlkreis Niederbarnim für die Sozialdemokratie erobert und bis zu seinem Tode mit wachsender Stimmenzahl als eine ihrer Hochburgen behauptet hatte. Er wirkte an der Erarbeitung des im Jahre 1900 eingeführten Bürgerlichen Gesetzesbuches mit und focht unermüdlich für ein die Interessen der „Arbeitnehmer“ respektierendes Arbeitsrecht. Seine unter dem bezeichnenden Titel „Arbeiterrecht“ in mehreren Auflagen erschienene Publikation wurde zu einem praxisorientierten, viel genutzten Ratgeber für die unselbständig Beschäftigten. Ein ähnlich positives Echo fand sein „Führer durch das Bürgerliche Gesetzbuch“. In einem speziellen Abschnitt beschreibt Czitrich-Stahl, welchen antisemitischen Anfeindungen Stadthagen ausgesetzt war, zuletzt sogar durch hasserfüllte Anwürfe seiner Ex-Genossen Gustav Bauer und Karl Legien im Parlament. Als Kriegsgegner und Antimilitarist gehörte Stadthagen zu den Wegbereitern der Unabhängigen Sozialdemokraten, wozu er von der sozialdemokratischen Parteiführung eher hingedrängt wurde, als dass er eine Parteispaltung angestrebt hätte. Er gehörte zu den Mitbegründern der USPD, deren Aufstieg und Niedergang er nicht mehr erleben sollte. Die Würdigung der Lebensleistung Stadthagens schließt mit der Schilderung der Trauerfeierlichkeiten und der Nachrufe auf den inzwischen zu Unrecht weitgehend vergessenen linken Sozialdemokraten.

Der Autor hat eine komprimierte, gut lesbare Biografie vorgelegt, in der auch viele grundsätzliche Probleme sozialdemokratischer Geschichte aufscheinen und zum Nachdenken anregen.

Günter Benser

Ein KPD-Vorsitzender
zwischen den Fraktionen

Florian Wilde, Revolution als Realpolitik. Ernst Meyer (1887-1930) Biographie eines KPD-Vorsitzenden. Mit einem Vorwort von Hermann Weber, UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2018, 452 S., 29,00 Euro

Ernst Meyer (1887-1930) ist sicherlich einer der am wenigsten bekannten KPD-Vorsitzenden. Das liegt einerseits an der trockenen Art Meyers und andrerseits an seinem Ausschluss aus der offiziellen Erinnerungspolitik der deutschen kommunistischen Partei; zu Unrecht wie Wilde argumentiert. Spielte Meyer doch eine bedeutende Rolle in der deutschen Linken. Mit seiner Biographie hat Florian Wilde damit auch eine Forschungslücke geschlossen; nicht zuletzt weil nunmehr über jeden KPD-Vorsitzenden eine Monographie vorliegt.

Ernst Meyers Biographie erschöpft sich nicht in seinen Funktionen innerhalb der KPD. Meyer war auch vor der KPD-Gründung 1918 einer der organisatorischen Köpfe der Gruppe Internationale und später vor allem des Spartakusbundes, den er mitbegründete. Als dessen wichtigste Führer, Luxemburg und Liebknecht, in Haft saßen, übernahm Meyer zeitweilig die Rolle des Koordinators der äußersten Linken der Sozialdemokratie.

Die Gruppe Spartakus bildete einen wichtigen Kontrapunkt zur Kriegspolitik der MSPD und war später einer der organisatorischen Ausgangspunkte für die Gründung der KPD. In den ersten Jahren stand Meyer auf dem linken Flügel der KPD und unterstützte die Strategie einer schnellstmöglichen Revolution. Mit dem Scheitern des Märzaufstandes 1921 und der Übernahme des Parteivorsitzes änderte Meyer seine Position. Er übernahm die Einheitsfrontpolitik seines Vorgängers Heinrich Brandler und sollte bei dieser Position bis zu seinem Tod bleiben.1[2]

In den nächsten Jahren sollte er in den zahlreichen innerparteilichen Kämpfen die Gruppe der „Versöhnler“ zwischen linkem und rechtem Parteiflügel bilden. Wilde schildert diese Auseinandersetzungen präzise und widerlegt alle Historiker, die meinen, die KPD wäre von Anfang eine undemokratische, allein von Moskau gesteuerte Kraft gewesen. Wilde richtet seinen Fokus vor allem auf die politischen Auseinandersetzungen in der Partei. Anders als jüngst Ralf Hoffrogge für seine Biografie über Werner Scholem konnte Wilde auf deutlich weniger umfangreiches Material zurückgreifen. Meyers Privat- und Familienleben sowie die zeitgeschichtliche Einbettung seiner Biographie machen die Darstellung zu einer Abfolge von politischen Auseinandersetzungen. Dabei arbeitete Wilde in die Biografie auch den Briefwechsel Meyers mit seiner zweiten Ehefrau Rosa Meyer-Leviné ein.

Kontrovers sollte vor allem der Schlusspunkt von Meyers Leben sein. Gemeinsam mit Ernst Thälmann stand Meyer 1927 erneut an der Spitze der Parteiführung der KPD. Meyer, der zwischen linkem und rechtem Parteiflügel lavieren musste und mit der schwindenden Autonomie der KPD konfrontiert war, geriet dabei in immer größere Widersprüche. Die politische Abhängigkeit der KPD von der Komintern und der KPdSU steigerte sich ab 1924/25 rapide – auch mit der zunehmenden Monopolisierung der Macht Stalins innerhalb der KPdSU. Wilde leistet mit seiner Biographie daher auch einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der organisatorischen Entwicklung der KPD, dem allmählichen Schwinden der Demokratie in der kommunistischen Bewegung und der Durchsetzung der Sozialfaschismustheorie in Deutschland.

Meyer, schon schwer erkrankt, konnte den eigenen Parteiausschluss 1929/30 nur verhindern, indem er seine eigenen Positionen letztlich widerrief. Insofern endete sein Leben tragisch. Mit ihm starb 1930 der letzte Flügelvertreter der Partei, der noch offen andere politische Positionen als die Parteiführung vertrat. Von da an blieben die politischen Auseinandersetzungen in der KPD auf das Zentralkomitee beschränkt. Wilde scheut in seiner Darstellung nicht davor zurück, die Widersprüche Meyers und der KPD selbst offen darzustellen und damit der Debatte zu öffnen. Seine Biographie ist nicht nur wegen dieser historisch-kritischen Herangehensweise äußerst verdienstvoll.

Janis Ehling

Eigenbewegung und Kanonisierung

Henning Fischer, Überlebende als Akteurinnen. Die Frauen der Lagergemeinschaften Ravensbrück: Biographische Erfahrung und politisches Handeln, 1945 bis 1989. UVK Verlagsgesellschaft Konstanz und München 2018, 542 S., 29,00 Euro

Das Buch „Überlebende als Akteurinnen“ ist die Druckfassung einer von Michael Wildt und Mario Keßler betreuten Dissertation. Henning Fischer, der Verfasser, nennt es eine „Kollektivbiographische Verbandsgeschichte“ (497) und kennzeichnet damit den Doppelcharakter seines Unternehmens. Es geht – erstens – um zwei Organisationen von Überlebenden eines Frauenkonzentrationslagers: der „Lagerarbeitsgemeinschaft“ (LAG) – einschließlich verschiedener Vorgänger-Organisationen – in der DDR sowie der „Lagergemeinschaft Ravensbrück“ (LGR) in der BRD, und – zweitens – um die Lebens- und Aktionsgeschichte ihrer Mitglieder. Letztere fanden sich zusammen, weil sie ein politisches Engagement, das sie in der Weimarer Republik begonnen hatten, in ihrem Selbstverständnis und tatsächlichen Handeln sowohl in der Haft als auch nach ihrer Befreiung fortgesetzt hatten. Die Gemeinsamkeit ihrer so konstituierten Biografie kann so beschrieben werden: Sie wurden fast alle noch im wilhelminischen Reich geboren, traten in der Weimarer Republik dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) oder/und der KPD bei, leisteten ab 1933 Widerstand, wurden in Ravensbrück inhaftiert und blieben danach in den Westzonen, der Sowjetischen Besatzungszone, in BRD und DDR als Mitglieder der KPD, der SED, der SEW und der DKP politisch tätig. Hinzu kamen – aber eher am Rande – einige wenige Sozialdemokratinnen und Christinnen, die, meist in einer späteren Phase, in eine der beiden Organisationen einbezogen waren. Die Mitglieder der LAG und der LGR waren nicht repräsentativ für die Gesamtheit der in Ravensbrück gefangenen Frauen: Es fehlen die wegen unpolitischer krimineller Delikte Inhaftierten (die im Lager mit einem grünen Winkel gekennzeichnet waren), die „Schwarzen“ (so genannte „Asoziale“), lesbische Frauen (im deutschen Faschismus in anderer Weise diskriminiert als schwule Männer) und aus religiösen und rassistischen Gründen Verfolgte, darunter Sinti und Roma. Sie hinterließen kaum schriftliches Material. Zutreffend spricht der Verfasser von einer „Quellengrenze dieser Arbeit“ (393).

Wer im Lager an einem Widerstandsnetz beteiligt war und sich danach in den Ehemaligen-Gemeinschaften organisierte, gehörte zu einer Minderheit. In der DDR waren 1986 noch 118 frühere politische Gefangene am Leben, aber lediglich 28 von ihnen gehörten der LAG als offizielle Mitglieder an (467).

Einzelne Gefangene, die als Kommunistinnen eingeliefert waren, blieben aus gleichsam fraktionellen Gründen außerhalb: Margarete Buber-Neumann, 1940 von der UdSSR (wo ihr Mann, Heinz Neumann, angeblich ein Ultralinker in der KPD, 1937 hingerichtet worden war) an Nazi-Deutschland ausgeliefert, bis 1945 in Ravensbrück, stellte sich danach als eine Art Kronzeugin gegen den Kommunismus zur Verfügung und wurde in den Auseinandersetzungen des Kalten Krieges in damals üblicher Weise bekämpft, wobei man sich gegenseitig nichts schenkte. Orli Reichert-Wald (geb. 1914), war im KJVD, leistete Widerstand, wurde 1934 und 1936 verhaftet, gefoltert, zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, kam anschließend, 1940, nach Ravensbrück, 1942 nach Auschwitz. Sie beteiligte sich dort an einer Widerstandsgruppe, rettete als Lagerälteste im Krankenbau Leben und wurde als „Engel von Auschwitz“ bezeichnet. 1945, kurz vor Kriegsende, war sie wieder in Ravensbrück. Sie wurde von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt. Zunächst lebte sie in der SBZ und war dort SED-Mitglied. Nachdem sie sich ebenso wie ihr Mann Edu Wald (vor 1933 im Fraktionskampf der KPD ein so genannter „Versöhnler“) von der Partei losgesagt hatte, in den Westen gegangen und schließlich der SPD beigetreten war, galt sie als Parteifeindin. Tatsächlich war im Kalten Krieg bei Menschen, die politisch aktiv blieben, politische Neutralität zwischen den beiden Lagern unmöglich, auch nicht für Orli und Edu Wald. Sie starb 1962, mental zerrüttet, suizidgefährdet, nach wiederholter Psychiatrisierung.

Die Zeit in Ravensbrück war für ehemalige Gefangenen nur insofern eine hinreichende Voraussetzung für die Organisation gemeinsamer Erinnerungen ab 1945, als dies in Aktivität für KPD, SED, SEW und DKP eingebracht wurde, die ihrerseits als Fortsetzung politischer Praxis in der Weimarer Republik galt: als Bestandteil der Bruchlosigkeit ihrer Biographien. Im Kalten Krieg bedeutete diese fortwährende Parteinahme auch Einordnung in die Unterstützung des staatssozialistischen Lagers, als loyale Bürgerinnen der DDR oder als Oppositionelle gegen die in der Bundesrepublik herrschende Politik.

Diese Herausbildung des Profils der Organisationen und ihrer Mitglieder analysiert Henning Fischer im historischen Ablauf.

Die Jahre vor 1933 und 1945 werden in einem Kapitel (es ist nach der Einleitung das zweite) mit dem Titel „Vor und in Ravensbrück. Politische Sozialisation und Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ (37-120) beschrieben. Bei der Behandlung der Lagererfahrungen bedient sich der Verfasser der Erkenntnisse der Traumaforschung und benutzt auch psychoanalytische Begriffe (z.B. den der „Verdrängung“), die zumindest einem Teil der Aktivistinnen lebenslang fremd geblieben sein mögen, deren Verwendung aber durchaus legitim ist: als wissenschaftliche Fachterminologie. Geschlechtsspezifische Formen der Demütigung durch SS-Männer werden benannt.

Mit diesen Erfahrungen sowie der Entscheidung zur fortgesetzten kommunistischen Parteinahme durchlebten diejenigen Frauen, die sich als Sondergruppe von der Mehrheit der ehemaligen Gefangenen von Ravensbrück unterschieden, das, was der Verfasser im dritten Kapitel als „Verwandlungszone“ bezeichnet: „Vom Nachkrieg bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten“ (121-219). In diesen Jahren erschienen Texte mit durchaus divergenten Erinnerungen. In ihnen wurde sichtbar, was vom Autor bereits im vorangegangenen Kapitel betont worden war: das Lager bildete eine zugleich „positive und negative Gemeinschaft“ (36) – Solidarität und Ansätze von Widerstand waren eher Ausnahmen innerhalb der überwiegenden Situation der Wehrlosigkeit und des Kampfes aller gegen alle um Überleben und die Zuteilung knappster Ressourcen. Hierher gehören Berichte der Christinnen Nanda Herbermann, Hildegard Schaeder und Isa Vermehren, in denen der Umgang der Häftlinge miteinander als – so Herbermann – „Extrahölle in der Hölle“ beschrieben wurde, „voller Neid, Mißgunst, Lüge“ (195). Ausnahmen korrekten Verhaltens von Aufsichtspersonal werden genannt. Nuancierungen finden sich auch in den früh erschienenen Erinnerungen der Kommunistinnen Lina Haag (1947) und Rita Sprengel (1949). Gegen Haags Darstellung wandte sich die ehemalige Häftlingsärztin Doris Maase, die zu große Subjektivität beklagte. In der Folgezeit bildeten sich zwei unterschiedliche Positionen – Fischer spricht von „Narrativen“ – heraus: einerseits entweder individuelle Darstellung des Erlebten einschließlich von Tatsachen, „die aus persönlichen, moralischen oder politischen Gründen als ‚nicht erzählbar‘ hätten gelten können“ (202), andererseits organisierte auswählende und vereinheitlichende „innere Kanonisierung“ (199), die in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR von einem „Ravensbrück-Komitee“ betrieben wurde und sich auch in der DDR durchsetzte.

Im Westen wurde 1947 die Überlebende Gertrud Müller in einem Internierungslager zusammen mit NS-Funktionären eingesperrt und von einer Spruchkammer als angebliche „Hauptschuldige“ im Sinne des „Gesetzes Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ zu vier Jahren Arbeitslager verurteilt. 1944/45 war sie Blockälteste im Außenlager Geislingen gewesen, und ihr wurden von ehemaligen Gefangenen Grausamkeiten gegen Mithäftlinge vorgeworfen. Sie unterlag im Berufungsverfahren, erst 1950 wurde sie rehabilitiert. Gertrud Müller war Opfer der Gegensätze zwischen Gefangenen und der Tatsache geworden, dass sie Blockälteste war. Solche Funktionshäftlinge konnten einerseits – wenn sie Politische waren – ihre Stellung zur Ermöglichung von Widerstandshandlungen zu nutzen versuchen, andererseits aber waren sie Teil des von der SS errichteten Lagerapparats und hatten Ordnungs- und Disziplinierungsaufgaben. Die Klageschrift gegen Gertrud Müller wurde von einem Mann verfasst, der kurz danach wegen Fragebogenfälschung und NSDAP-Mitgliedschaft aus dem Spruchkammerdienst entlassen worden war (167). Hier wurden erste Auswirkungen des Kalten Krieges und des Wirksamwerdens von Nazis im öffentlichen Leben sichtbar. Gertrud Müllers – letztlich erfolgreicher – Rechtsvertreter war der Bosch-Betriebsrat Eugen Eberle.

Nach der Gründung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten waren die politisch aktiven kommunistischen Überlebenden von Ravensbrück im Osten als SED-Mitglieder Teil der Staatsklasse, im Westen bald marginalisierte Oppositionelle. Dies ist Thema des vierten Kapitels mit der Überschrift „‘Renazifizierung‘ und ‚Wirklichkeit‘ des Antifaschismus. Die 1950er Jahre in BRD und DDR“ (221-333).

Dabei waren die individuellen Wege auch in der Deutschen Demokratischen Republik unterschiedlich: Die Juristin und Ökonomin Rita Sprengel geriet mit ihren Untersuchungen und Forderungen zur Arbeitsmoral in Konflikt mit dem Politbüromitglied Fred Oelßner; 1951 wurde sie im Rahmen einer Mitgliederüberprüfung unter dem Verdacht, im Lager „einer ‚trotzkistischen, parteifeindlichen Gruppe‘ angehört zu haben“ (gemeint war u.a. Margarete Buber-Neumann, S. 234), aus der SED ausgeschlossen. Damals dachte sie daran, sich das Leben zu nehmen. 1957 wurde sie wieder aufgenommen. Sie arbeitete wissenschaftlich weiter und unterstützte später das NÖS.

Charlotte – nicht Gertrud – Müller, Mitglied des Widerstandsnetzes in Ravensbrück, wurde in der DDR hauptamtliche Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und betreute in dieser Eigenschaft bis 1965 den Westberliner Polizisten Karl-Heinz Kurras (240-247). Der Kontakt beschränkte sich nicht auf die Entgegennahme von Nachrichten, sondern erstreckte sich auch auf ideologische Unterweisung und lebenspraktische Ratschläge für den „jungen Genossen“ (243).

Maria Wiedmaier, seit 1919 KPD-Mitglied und wie Charlotte Müller beteiligt am Widerstandsnetz in Ravensbrück, jetzt in der DDR lebend, sollte für das MfS Informationsquellen in der Bundesrepublik erschließen. Ein von ihr angesprochenes Ehepaar lehnte die Anwerbung ab, „da beide in der ‚illegalen Leitung der KPD‘ tätig seien und deswegen ‚keine Verbindung‘ mit dem MfS aufnehmen könnten.“ (250)

Johanna Krause, Tochter einer jüdischen Mutter, vor 1933 nicht in der KPD, mit einem Kommunisten verheiratet, 1944 in Ravensbrück, trat nach der Befreiung der SED bei, sah sich in Dresden antisemitischen Anfeindungen aus der Bevölkerung ausgesetzt, vor denen sie sich wohl Schutz durch zeitweilige Zusammenarbeit mit dem MfS erhoffte.

Gleichsam oberhalb dieser Einzelschicksale und -haltungen wurde seit den fünfziger Jahren im Osten von einem „Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer“ (KAW) eine Gedenkkultur organisiert, die dem staatlich verbreiteten Selbstverständnis einer sieghaften Entwicklung von Karl Liebknecht über Erst Thälmann, von ungebrochenem Widerstandskampf der KPD (auch in Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern) bis zur Gründung und Selbstbehauptung der DDR folgte und auch in der Konzeption der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten in Buchenwald (1958 eingeweiht), Ravensbrück (1959) und Sachsenhausen (1961) ihren Ausdruck finden sollte. Die „politisch loyalen Überlebenden Ravensbrücks“ (290) ordneten sich ein, doch gab es immer wieder Konflikte, in denen sich „Eigensinn“ (294) aufgrund persönlicher Erfahrungen geltend machte und nach der Möglichkeit einer „Eigenbewegung“ (323) gesucht wurde.

Im Westen nahmen die einstigen Gefangenen aus Ravensbrück ihre politische Arbeit in der KPD wieder auf (jetzt meist auf kommunaler Ebene), wurden zusammen mit ihr bald an den Rand gedrängt und auch persönlich verfolgt und benachteiligt – besonders krass im Fall von Gertrud Müller, aber auch (wie z.B. Doris Maase und die Westberlinerin Erika Gennys) durch Diskriminierung in Entschädigungsverfahren.

Das fünfte Kapitel hat den Titel „Kommunistinnen. Existenz und Deutung. Die 1960er und 1970er Jahre“ (335-405), wobei die Formulierung „Existenz und Deutung“ etwas rätselhaft ist.

In der SBZ/DDR hatten die ehemaligen Gefangenen während der vierziger und fünfziger Jahre „trotz teilweise prekärer Bedingungen ein bemerkenswertes Maß an organisatorischer Kohärenz und diskursiver Identität“ (337) unter verschiedenen Bezeichnungen bewahrt und waren insofern eine „Gruppe mit partikularer Identität“ (ebd.), in der die Erinnerungsversionen einzelner Mitglieder nicht immer mit den offiziellen Darstellungen übereinstimmen.

Erika Buchmann (geb. 1902), seit 1919 in der KPD, 1939-1940 und 1941-1945 in Ravensbrück, dort beteiligt am Widerstandsnetz, Blockälteste, nach der Befreiung Mitglied der verfassunggebenden Versammlung von Baden-Württemberg, siedelte 1956 in die DDR über, trug Materialien über die Geschichte des Frauenkonzentrationslagers zusammen, leistete Vorarbeit zur Errichtung der Gedenkstätte und verfasste das Buch „Die Frauen von Ravensbrück“ (1959). Aus der Zusammenarbeit mit ihr entstand das Theaterstück „Ravensbrücker Ballade“ der Schriftstellerin Hedda Zinner. In gewisser Weise eine Antipodin war Emmy Handke (geb. 1902), seit 1922 im KJVD und 1925 in der KPD organisiert, 1934 verhaftet, nach sechs Jahren Gefängnis 1941 in Ravensbrück, 1942 in Auschwitz, SED-Mitglied, Volkskammerabgeordnete und führend u.a. in der LAG. Ihre Kritik – und die einer Gruppe innerhalb der „Lagerarbeitsgemeinschaft Ravensbrück“ – galt einer angeblichen Überbewertung der so genannten „Asozialen“, der Erwähnung von Sex-Zwangsarbeit und wandte sich gegen eine differenzierte Beurteilung eines SS-Arztes in Auschwitz und Ravensbrück: Dr. Franz Lucas (367). Tatsächlich wurde Zinners Stück selten gespielt, seine Verfilmung wurde abgebrochen (364). Im vom KAW 1971 herausgegebenen Buch „Frauen-KZ Ravensbrück“ war Buchmanns Version getilgt (370).

Mit der Ost-West-Entspannung und der Gründung der LRG 1966 konnten die Ravensbrück-Überlebenden auch in der Bundesrepublik mehr Gehör finden, wobei Doris Maase führend tätig war. Sie wurden von Außenstehenden nunmehr nicht in erster Linie als Kommunistinnen, sondern als antifaschistische Zeitzeuginnen wahrgenommen und befragt (400).

Im sechsten Kapitel („‚Skandal‘ und ‚Routine‘. Politik und Gedenken der Lagergemeinschaften in den 1980er Jahren“, 413-491) zeigen sich die – nun immer weniger werdenden – Überlebenden weiterhin als Akteurinnen, die ihre Erfahrungen für Gegenwartsaufgaben zur Geltung bringen. Dies geschah in der Bundesrepublik vor allem im Rahmen der Friedensbewegung und in lokaler Geschichtsarbeit u.a. dort, wo sich einst Außenlager befunden hatten. Gertrud Müller nahm an den Blockaden in Mutlangen teil, wurde deshalb vor Gericht gestellt, trat dort in gestreifter Häftlingskleidung auf und wurde freigesprochen. Ihr Verteidiger Jörg Lang hatte auch Gefangene aus der ersten Generation der Roten Armee Fraktion vertreten.

In der DDR ordnete das KAW die Geschichtsarbeit ebenfalls in die aktuelle Arbeit gegen neue Kriegsgefahr ein. Zugleich vermittelten Überlebende in Bildungseinrichtungen, Betrieben und Einheiten der Nationalen Volksarmee ihre Erfahrungen. Rita Sprengel bediente sich zwar im Berichtswesen innerhalb der LAG der Sprache der kanonisierenden Geschichtspolitik, nicht aber bei der lokalen Gedenkarbeit in ihrem Wohnort Dresden (480).

Für offizielle Darstellungen ist auch Hilfe beim Ministerium für Staatssicherheit erbeten worden, das über Unterlagen zum Widerstand in Ravensbrück verfügte. Dabei wirkten weiterhin alte fraktionelle Grenzziehungen fort: Dokumente über einige Überlebende wurden mit dem Vermerk zurückgehalten: „‘Material an HVA nicht übersandt, da KPO‘“. (462) Gemeint war Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Deutschlands – Opposition vor 1933. Ebenso wurde mit ehemaligen „Versöhnlern“ verfahren (ebd.).

Der „Epilog. Das Jahr 1989 und Fortfolgende“ (493-496) berichtet u.a. über die Gründung einer nunmehr gesamtdeutschen „Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e.V.“ (LGR/F), in der nun auch Mitglieder der jüngeren Generation, die nicht inhaftiert waren, aufgenommen wurden.

Die „Zusammenfassung“ (497-504) geht noch einmal auf die Besonderheit der „Funktionshäftlingserfahrung“ ein, in der „das Stärkenarrativ, die Heldensituation der Sabotage einerseits und die ‚Kontamination‘ mit den Verbrechen des Lagers andererseits eng miteinander verbunden“ gewesen seien (499). In den späten Jahren wird bei der LGR im Westen „Rückstellung der kommunistischen Identität für die politischen Topoi Frieden und Antifaschismus“ sowie „ein stärkeres Agieren als Chronistinnen und Zeitzeuginnen“ konstatiert (503). Die Lagergemeinschaft in der DDR befand sich nach Ansicht des Verfassers „auch in den 1980er Jahren in einer Position der privilegierten Marginalisierung, in der sie ihre Position innerhalb des Geschichtspanoramas verteidigte“ (503/504).

Eine Sammlung von Kurzbiografien schließt den Band ab.

Die Untersuchung von Henning Fischer belegt die Stärken einer ermutigenden neuen Historikergeneration, die die Apologien und Denunziationen des Kalten Kriegs und der beiden ersten Jahrzehnte nach 1989 hinter sich gelassen hat.

Eine Bemerkung über den „Adenauer-Erlass zur Reintegration ehemaliger NSDAP-Mitglieder in den Öffentlichen Dienst im September 1950“ (212) vermengt zwei Tatbestände: erstens die vom Kanzler zusammen mit dem Bundesinnenminister Gustav Heinemann verfügte und vom Bundeskabinett beschlossene Fernhaltung von so genannten Verfassungsfeinden aus dem Öffentlichen Dienst 1950 und zweitens – von Henning Fischer gleich anschließend ebenfalls erwähnt – „das 131er-Gesetz im Mai 1951“. Gertrud Müller kandidierte 1979 wohl nicht zur „Europäischen Gemeinschaft“ (438, Fn. 145), sondern zum Europäischen Parlament (ganz genau: 501: „Parlament der Europäischen Gemeinschaft“). Über zum Glück nur stellenweise auftretende sprachliche Eigenarten von Diskursmoden lässt sich hinwegsehen, etwa über den Befund anlässlich von Diskriminierungen in Wiedergutmachungsverfahren, „dass der Körper der überlebenden Frauen zum Schauplatz staatlicher Delegitimation und damit einer erneuten Entsubjektivierung wurde“ (501).

Georg Fülberth

Literatur und Kulturpolitik in der DDR

Dieter Schiller, Miszellen und Aufsätze zur Literatur. Namen und Bücher, Edition Schwarzdruck, Gransee 2018, 404 S., 29,00 Euro

Was Schiller vorgelegt hat, sind Texte verschiedener Art. Einige erscheinen so, wie sie vor Jahren ohne Kürzungen gedruckt wurden. Andere wurden später für Vorträge überarbeitet. Einige wurden seinerzeit nicht gedruckt oder stark gekürzt, weil sie quer zur aktuellen kulturpolitischen Linie standen. Herausgekommen ist ein Buch, das einen lebendigen Eindruck vom geistig-kulturellen Leben in der DDR und in der Zeit nach der Wende vermittelt – den Möglichkeiten und den Grenzen.

Schiller hat in seinen Band die Eröffnungsrede und das Schlusswort auf einer Konferenz zum 125. Geburtstag von Gerhart Hauptmann aufgenommen. Die Jahre bis zum Ersten Weltkrieg wertet Schiller als Schaffensperiode, die Hauptmanns Weltruhm begründet haben. Dabei sei klar, dass Hauptmann kein Sozialist war. In einem Entwurf aus dem Jahre 1922 betonte Hauptmann, sich nie gegen die Autorität des kaiserlichen Deutschlands erhoben zu haben. Der Text beginnt mit den Worten: „Ich bin keine Kampfnatur“. Ferner versichert der Autor, die „Weber“ seien nur ein schlichtes Bekenntnis zum Christusgebot „Liebe deinen Nächsten“ und durchaus „im Sinne eines christlichen Staates“ geschrieben worden, auch wenn Kaiser und Kirche das Stück verdammten. Diese Standpunkterklärung gelte, meint Schiller, auch für die Jahre der Weimarer Republik und während der Herrschaft des Hitlerfaschismus. Das Bild Hauptmanns sei zwiespältig. Debatten und klärende Kontroversen seien hier unumgänglich.

Als Hauptmann für Hindenburg eintrat, meinte er im Grunde noch immer die Republik von Ebert und Rathenau. Als er jedoch den Nachruf für Hindenburg schrieb, war daraus schon eine faustdicke Lüge geworden, weil der Text schon ein – kaum anders deutbares – Bekenntnis zu Hitler geworden war. Hauptmann habe dann mehrfach deutlich seine Sympathie für Hitler ausgesprochen.

Schiller ist dagegen, Hauptmann nachträglich zum Antifaschisten oder Widerständler zu machen. Nicht einmal von „innerer Emigration“ könne gesprochen werden. Aber dies ist ein offenes Problem, über das zu streiten sei. Schließlich habe es Johannes R. Becher unternommen, mit seinen sowjetischen Freunden nach Agnetendorf zu fahren, um Hauptmann für den Kulturbund zu gewinnen. Hauptmanns positive Erklärung dazu sei nicht von ungefähr gekommen.

Aufschlussreich ist auch ein unveröffentlicht gebliebener Text über Alfred Kantorowicz, der auf Studien in Moskauer Archiven fußt. „Kanto“, wie er von Freunden genannt wurde, sei im Osten als potentieller Dissident stets unter Verdacht geraten, und im Westen als zu spät gekommener Flücht-ling wenig willkommen gewesen. In beiden Teilen Deutschlands sei er zu einer missliebigen Randfigur geworden. Als freier Journalist, der für die „Vossische Zeitung“ und die „Literarische Welt“ schrieb, reagierte er in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre widersprüchlich auf die nationalistische Welle der Kriegsliteratur. Als Kriegsteilnehmer war er anfällig für die Kameradschaftsideologie, lehnte aber den Krieg und die Dolchstoßlegende ab. In seinem Essay „Zwischen den Klassen“ (1930) untersuchte er die „Krise des Bürgertums“. Er trat für die Nation als „Kulturbegriff“ ein und grenzte sich gegen Nationalismus und Internationalismus gleichermaßen ab. Er sah sich „zwischen einem selbstsüchtigen Kapitalismus und einem zerstörerischen Marxismus“ stehen. Nach Behandlung des französischen Exils von Kantorowicz, seiner Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg und seinem Wirken in Amerika geht Schiller ausführlich auf die Ost-West-Problematik ein. Im Februar 1947 beantragte Kantorowicz die Lizenz für eine „unabhängige Monatsschrift“ mit dem Titel „Ost und West“ bei den amerikanischen und den sowjetischen Besatzungsbehörden. Nur die sowjetische Administration gewährte die Lizenz. Der Versuch. durch eine Doppellizenz Unabhängigkeit zu demonstrieren, misslang, weil die US-amerikanische Presse ihn als Sowjetagenten attackierte. Das angestrebte „geistige Brückenschlagen“ zwischen Ost und West und die Hoffnung auf einen eigenständigen deutschen Sozialismus scheiterten. Die Zeitschrift kam unter starken finanziellen und politischen Druck. 1949 stellte sie ihr Erscheinen ein.

Über Stefan Hermlin äußerte sich Schiller aus Anlass des 80. Geburtstages im „Neuen Deutschland“. Hermlins „Abendlicht“ sei ein Schlüsseltext der Literatur der DDR geworden. Der Lebensrückblick kulminierte in Entsetzen und in der Erleichterung des Schreibers, dass er im jahrzehntelang falsch gelesenen Kommunistischen Manifest den Satz entdeckte, der eben das sagt, was er lange erwartet und gehofft hatte: dass die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller sei.

Selbstkritik der revolutionären Bewegung sei nicht gegen die Gesellschaft, sagte Hermlin in einem Interview 1975, sondern auf ihre Entwicklung gerichtet. Hermlin bemühte sich, vermittels Literatur Öffentlichkeit herzustellen. 1962 erreichte er dies Ziel mit einer Akademie-Veranstaltung zur jungen Lyrik für kurze Zeit. Die „Lyrik-Welle“ artikulierte für zwei Jahre das Lebensgefühl der jungen Generation der DDR. Hermlin kostete sie am Ende seine Stellung als Sekretär der Literatursektion. In einem „Papier für Erich Honecker“ hatte er 1972 die „jedes Maß übersteigende Zensur“ kritisiert, die „nahezu jeden begabten Autor“ behindere. Gegenüber den kulturpolitischen Zuchtmeistern zog er in seiner Rede auf dem Schriftstellerkongress 1978 einen Trennungsstrich. Ein spätbürgerlicher Schriftsteller sei er, während er „Kommunist war und blieb“. Hermlin verweigerte der offiziellen Literaturideologie den Respekt. Er tat den Streit um sozialistischen Realismus und bürgerliche Dekadenz als falsch gestellte Frage ab. Ein kritisches Wort zu Hermlins Novelle „Die Kommandeuse“, die der seinerzeitigen Parteidogmatik nach dem 17. Juni im Jahre 1953 folgte, hätte man sich hier gewünscht.

Aus Platzgründen kann auf weitere Analysen – so u.a. zu Bert Brecht, Anna Seghers, Erich Mühsam, Georg Lukács, Klaus Mann und Arthur Koestler – nicht eingegangen werden. Schiller unterbreitet mit diesem Buch für jeden literaturgeschichtlich Interessierten ein weit gefächertes und sehr anregendes Angebot.

Siegfried Prokop

Die Ohnmacht postmoderner Erkenntnistheorie im Angesicht des Klimawandels

Andreas Malm, The Progress of This Storm: Nature and Society in a Warming World, Verso, London/New York 2018, 256 S., £ 13.59 (deutsche Übersetzung geplant)

Der schwedische Humanökologe Andreas Malm stellt in seiner zweiten größeren ökosozialistischen Arbeit – nach der Genealogie des „fossilen Kapitals“ in „Fossil Capital: The Rise of Steam Power and the Roots of Global Warming“ (2016)1[3] – die Gretchenfrage sozial-ökologischer Epistemologie: Wie haltet ihr’s mit der Natur, der Gesellschaft und ihrem Verhältnis zueinander in Zeiten des Klimawandels? Er richtet diese Frage an die renommierten Vertreter des Konstruktivismus, des Hybridismus und des Neuen Materialismus, d.h. an die Repräsentanten dreier mit einander eng verwandter postmoderner Denktraditionen, die sich in linken und linksliberalen Akademikerkreisen diesseits und jenseits des Atlantiks großer Beliebtheit erfreuen. Der Klimawandel als erkenntnistheoretischer „Lackmustest“ (16) für postmoderne Philosophie – man könnte kaum ein passenderes Modell für zeitgemäße Ideologiekritik wählen.

Innerhalb der drei genannten Ansätze spielt die Begriffstrias aus Natur, Gesellschaft und gesellschaftlichem Naturverhältnis eine Hauptrolle im philosophischen Begriffsensemble. In konstruktivistischen Theorien werden Natur und natürliche Prozesse je nach Spielart für Produkte menschlichen Handelns, Denkens oder Sprechens gehalten. Die Natur verschwinde dadurch, so die zutreffende Kritik, als eine von der Gesellschaft autonome und eigenständige Entität aus der Theorie. Unter dieser Voraussetzung ist es allerdings nahezu unmöglich, wie Malm darlegt, die natürlichen Prozesse zu verstehen, die die Erwärmung der Erdatmosphäre auslösen und bewirken. In hybrid-theoretischen Ansätzen, man denke z.B. an Donna Haraways Cyborgs oder Jason W. Moores oikeios, würden Natur und Gesellschaft laut Malm derart vermengt, dass sie nicht mehr von einander zu unterscheiden sind. Damit werde aber nicht nur die Differenzierung zwischen beiden verworfen, die Adorno zufolge von der Unterscheidung in der Wirklichkeit herrühre (Adorno GS 6: 176f.) und die Voraussetzung für Erkenntnis sei (vgl. von Winterfeld 2006: 365). Vor allem gehe die erkenntnistheoretische Grundlage für die Erforschung der wechselseitigen Relation von Natur und Gesellschaft als zwei relativ autonomer Entitäten verloren, bemängelt Malm. Weder die für den Klimawandel ursächlichen Prozesse und Relationen in der Gesellschaft könnten so identifiziert werden noch die entscheidenden natürlichen. Aus demselben Grund verteidigt der Autor auch energisch die marxsche Erkenntnis eines Bruchs im Stoffwechsel zwischen Gesellschaft und Natur, die der US-amerikanische Soziologe John Bellamy Foster in den letzten rund zwei Jahrzehnten popularisiert hat, insbesondere gegen die Vorwürfe aus Jason W. Moores Lager der Weltökologie („world-ecology“) (177-196), die Vorstellung des Bruchs basiere auf einem kartesischen Dualismus. Mit dem Neuen Materialismus wird schließlich noch ein anderer Akzent gesetzt. Seine Anhänger verwerfen zwar auch die Vorstellung einer unabhängigen Natur, ihre Kernthese ist aber eine andere. Sie sind der Auffassung, dass alle Dinge ebenso wie Menschen über Handlungsfähigkeit/-macht („agency“) verfügen und bewusst Absichten und Ziele verfolgen. Malm sieht darin zu Recht eine unzulässige Aufweichung der Differenz zwischen Menschen und der unbelebten Natur. Wenn man die Idee der Neuen Materialisten übertrüge, wären Erdöl und Kohle ebenso verantwortlich für den Klimawandel wie die Menschen. Entsprechend ist der Neue Materialismus für Malm nicht nur eine Form des „Fetischismus“ (147). Vielmehr impliziere sie, dass die fossilistische Kapitalfraktion aus ihrer Verantwortung für diese Facette des Ökozids und die Menschen aus der Pflicht „zur militantesten und unerschütterlichsten Opposition gegen das System“ (226) entlassen würden.

Dass Malm postmodernen Vordenkern wie Bruno Latour, Mitbegründer der Akteur-Netzwerk-Theorie, und Noel Castree, radikaler Geograph, gerade jetzt den Fehdehandschuh hinwirft, ist kein Zufall. Für ihn signalisiert die zunehmende Erderwärmung das Ende aller Phantasien über die Postmoderne als eigenständiger Phase kapitalistischer Entwicklung („postmodern condition“, 13). Die neoidealistische und -kulturalistische Himmelsstürmerei der letzten drei Dekaden hält der schwedische Wissenschaftler für den theoretischen Ausdruck der „praktischen Versuche des Kapitals“, die Natur vollumfänglich „dem Wertgesetz zu unterwerfen“ (217). Die Rückkehr der Natur und das wechselseitige Zusammenspiel von Natur- und Gesellschaftsgeschichte, wie sie in der fortschreitenden Veränderung des globalen Klimas zum Ausdruck kommen, brächten die virtuell-symbolische Blase der Postmoderne, die über Natur und Gesellschaft zu schweben schien, endgültig zum Platzen.

Als epistemologisches Alternativparadigma schlägt Malm einen „sozialistischen Klimarealismus“ (140) vor, dessen Ausgangspunkt er in Anlehnung an Roy Bhaskars realistische Wissenschaftstheorie in der Unterscheidung von Wissensobjekt und den Formen, dieses zu erkennen, sieht. Es geht darum, an der „Priorität der äußeren Natur“ (MEW 3: 44) gegenüber der menschlichen Erkenntnis festzuhalten. Übersetzt heißt das: Der Klimawandel ist eine Frage der gesellschaftlichen und natürlichen Praxis und geschieht auch, selbst wenn wir uns einbildeten, die Natur, natürliche Prozesse oder Naturgesetze existierten überhaupt nicht oder sie seien gesellschaftliche Konstruktionen. Des Weiteren zeichne sich die Gesellschaft durch bestimmte Strukturen aus, die vom Menschen geschaffen worden und vergegenständlichte soziale Relationen sind. Diese sozialen Verhältnisse schlössen zugleich immer auch ein Verhältnis zur Natur ein. Mit anderen Worten: Indem die Menschen bestimmte historisch besondere Beziehungen zueinander eingehen, unterhalten sie auch ein spezifisches Verhältnis zur Natur, einen Stoffwechsel mit ihr. Nichts anderes besagt Marx’ und Engels’ historisch-materialistischer Kernbegriff der gesellschaftlichen Arbeit. Es gibt also in Malms Gegenentwurf eine von der Gesellschaft unabhängige Natur, eine von Menschen gemachte Gesellschaft und eine dialektische Beziehung zwischen beiden, die über geschichtlich besondere Formen der gesellschaftlichen Arbeit vermittelt wird. Der Klimawandel ist das Produkt des Zusammenspiels aller drei unter kapitalistischen Bedingungen und, so Malm, eine Ursache für den möglichen Rückfall in die Barbarei, in den der „Fortschritt“ der kapitalistischen Gesellschaft derzeit kulminiere.

Der einzige Weg, einer neuerlichen Menschheitskatastrophe zuvorzukommen, sei ein öko-operaistisches Projekt gegen die Ausbeutung von Arbeit und Natur durch das Kapital. Ein solches müsse nicht nur eine effektive Klimapolitik durchsetzen, sondern mindestens die „vollständige Expropriation der oberen ein bis zehn Prozent“ (190). Die „Befreiung der Natur“ sei schließlich wie ihre Selbstbefreiung eine „Forderung der globalen Arbeiterklasse“ (208).

Christian Stache

Politische Ökonomie des
Gesundheitswesens

Hartmut Reiners, Privat oder Kasse? Politische Ökonomie des Gesundheitswesens; VSA: Verlag, Hamburg 2017, 141 S., 11,80 Euro

Mit aktuell ca. 5,5 Millionen Beschäftigten und einem Anteil von ca. 11 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist das – weiter wachsende – Gesundheitssystem bereits jetzt halb so groß wie die gesamte Industrie einschließlich Bau sowie Energie- und Wasserversorgung mit 10,5 Mio. Beschäftigten bzw. 30 Prozent BIP-Anteil. Zudem ist, wer ärztlich oder pflegerischer Leistungen bedarf, auf die Leistungsfähigkeit der Institutionen angewiesen, wie in sonst kaum einer anderen Lebenssituation.

Dies sind gute Gründe für die Beschäftigung mit dem Gesundheitssystem. Reiners‘ – fraglos eingelöster – Anspruch ist, hierfür einen problemorientierten Überblick zu verschaffen über einen Bereich, der „einer derart detaillierten politischen Steuerung“ unterliegt wie sonst nur die Landwirtschaft (8).

Der Wissensvorsprung der AnbieterInnen führt zum „Marktversagen als Prinzip“ (Kap. 1): Die Ausweitung von Prozeduren (Untersuchungen und Behandlungen) im Einkommens- und Gewinninteresse ist empirisch überwältigend belegt (14 f.) und macht politische Eingriffe auf der Leistungsseite ebenso notwendig wie auf der Finanzierungsseite, etwa in Form der Krankenversicherungspflicht.

Das wachsende und öffentlich finanzierte Gesundheitssystem erweckt den Unwillen der Kapitalseite, die bei den Lohn(neben)kosten gern auf die Bremse tritt. Hierzu wird seit Jahren das Bild einer angebliche „‘Kostenexplosion‘“ bemüht (Kap. 2). Dessen Wirkmächtigkeit liegt gewiss auch an einer scheinbaren Plausibilität: Die zunehmende Alterung sowie der medizinisch-technische Fortschritt, heißt es, müsse zu einer Kostenzunahme führen, weil mit der Alterung auch der Bedarf an (besseren und daher teureren) Behandlungen steige. Jedoch folgt der dominierende Trend der „Kompressionsthese“: Die Phase von Krankheit und Pflegebedürftigkeit verlängert sich nicht einfach mit der Zunahme der Lebenserwartung, sondern verschiebt sich in spätere Altersphasen (36f.). Allerdings geschieht dies nicht als Selbstläufer, sondern dann, wenn es „gelingt, sozial bedingte Disparitäten im Gesundheitszustand zu nivellieren“ (38).

Handlungsbedarf besteht auch bei dem Unikat der „dualen Krankenversicherung“ (Kap.3), also dem Vollversicherungsschutz bei privaten Versicherern (PKV) neben einem gesetzlichen System. Die Schwierigkeiten der PKV werden sich weiter verschärfen; die PKV braucht „eine Relation von Sparern zu Entsparern von 1,2 zu 1, um schwarze Zahlen schreiben zu können“, diese wird in den nächsten Jahren jedoch „auf 1 zu 1 und noch darunter sinken“ (57). Zudem reichen die niedrigen Erträge der an den Finanzmärkten angelegten Altersrückstellungen nicht mehr aus, um die Ausgaben für die über 60-Jährigen zu decken (ebd.). Reiners‘ Darlegungen dazu werden übrigens in nicht öffentlichen Gesprächen selbst von VertreterInnen der PKV geteilt.

Die wichtigste Institution im deutsche Gesundheitssystem, jedoch nur wenigen Nicht-Fachleuten (näher) bekannt, ist der „kleiner Gesetzgeber“ genannte Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA; 71). Seine Aufgabe besteht vor allem darin, festzulegen, welche Prozeduren und Arzneimittel von der GKV zu finanzieren sind. Kriterium hierfür ist die evidenzbasierte Medizin: belegen die weltweit zugänglichen Forschungsergebnisse einen positiven Gesamtnutzen (überwiegen also die ange-strebten positiven die schädlichen Nebenwirkungen), wird das Verfahren oder Mittel in den Katalog der Versorgungsleistungen der GKV aufgenommen.

Um Fragen der Versorgung geht es im 5. Kapitel. Zur Sprache kommen hier auch die Krankenhäuser; in diesen werden die PatientInnen „von 33% weniger Pflegepersonal betreut [als in anderen europäischen Ländern - d. Rezensent], was eine der Ursachen für die um 20% geringeren Fallkosten ist“ (86). Das allerdings ist eine Verdrehung: Der Abbau des Pflegepersonals war Folge einer Finanzierungsentscheidung, nämlich der Fallpauschalen bzw. sogenannter Diagnosis Related Groups (DRGs).

Diese werden in Kapitel 6 behandelt. Die DRGs seien nicht das Problem, ihre Einführung „war im Prinzip richtig“, gleichwohl bestehe Reformbedarf, „vor allem bei der Berücksichtigung der Pflegezeiten und des Einsatzes von Pflegepersonal“ (106).

Was Reiners anscheinend nicht sehen will: Die Vergütung auf Basis ermittelter Durchschnittskosten setzt die Krankenhäuser in einen Kostenwettbewerb und zwingt Häuser mit überdurchschnittlichen Kosten zu deren Senkung. Das senkt wiederum den Durchschnitt und bewirkt die von Michael Simon als „Kellertreppeneffekt“ bezeichnete Dynamik in Form der Verminderung der Personalkosten – die ohnehin den Löwenanteil im Krankenhaus ausmachen.

Aus Reiners‘ Perspektive erscheint die Forderung der LINKEN und Gewerkschaften nach Finanzierung auf Basis der Selbstkosten „eher nostalgisch als sachgerecht“ (ebd.) Wie dramatisch und unhaltbar die Situation allerdings bereits geworden ist, zeigt die teils ohne und teils sogar gegen Verdi in Gang gesetzte politische Bewegung von KrankenpflegerInnen gegen die Zustände im Krankenhaus bis hin zu Streiks – nicht für mehr Geld, sondern für mehr Personal! Auch das findet bei Reiners keinerlei Erwähnung. Für den Anspruch einer „politischen Ökonomie“ ist das zu wenig.

Um einige Probleme und Aufgaben der Arzneimittelversorgung geht es in Kapitel 7 („Der Kampf mit der Pharmaindustrie“). Der Pflegeversicherung als relativ neuer Säule der Sozialversicherung gilt das 8. Kapitel („Die Pflegeversicherung: Neue Aufgaben der Gesundheits- und Sozialpolitik“). Auch hier kommen die mittlerweile sattsam bekannten Probleme unzureichender personeller Ausstattung nur ansatzweise zur Sprache.

Das abschließende 9. Kapitel unternimmt drei Ausblicke auf „Reformbaustellen einer solidarischen Gesundheitspolitik“. Für LeserInnen mit gewissen Vorkenntnissen sicher das spannendste Kapital.

Eine der wichtigen Linien der herrschenden Gesundheitspolitik in den letzten Jahren war die Einführung oder Verstärkung von Wettbewerbselementen zwecks Steigerung der Versorgungsqualität und von Effizienz und Transparenz. Etwas bedauerlich ist, dass sich Reiners hierzu praktisch nicht äußert – im Unterschied zu seiner klaren Einschätzung der Folgen einer (reinen) Marktsteuerung.

Dennoch: Insgesamt ist dem Rezensenten kein vergleichbar kompakt und gut verständliches Buch zur Einführung in das deutsche Gesundheitswesen bekannt.

Olaf Gerlach

Politik der Grenze als Kampffeld

Andrea Komlosy, Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitverlauf, Promedia Verlag, Wien 2018, 247 S., EUR 19,90

Die Gestaltung von Grenzregimen auf unterschiedlichen Gebieten ist in vielen Ländern zu einer zentralen politischen Frage geworden: Themen wie Flucht und Migration, Außenhandel, Kapitalverkehr, aber auch der Umgang mit kulturellen und sozialen Grenzen prägen weltweit die politischen Diskurse. Die Wiener Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Andrea Komlosy liefert mit ihrem neuen Buch keine Rezepte oder gar politische Forderungen, wie man sich in diesen Auseinandersetzungen positionieren sollte. Indem sie aber die Frage von Grenzen und Grenzregimen in ihren jeweiligen historischen Zusammenhang stellt liefert sie jene unabdingbaren Informationen, die es erst ermöglichen, die aktuellen Probleme als Gegenstand von Interessengegensätzen und sozialen Konflikten zu begreifen.

Einleitend weist sie auf den Widerspruch im dominierenden Globalisierungsdiskurs hin, der einerseits die Existenz von Grenzen zu negieren scheint, während diese andererseits in der Politik eine immer größere Rolle spielen: „Es ist geradezu paradox, wie in Zeiten, in denen schwerwiegende Fortifikationen von Grenzen vorgenommen werden – … – der Mythos der Grenzenlosigkeit die herrschenden und die widerständigen Interessen gleichermaßen im Banne hält.“ (10) Die Autorin verwendet nach eigener Aussage einen weiten Grenzbegriff, was konkret heißt, dass sie die „Wirkungsweise politischer, kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Grenzen im Raum“ behandelt. Oberbegriff bleibt also die Territorialität, die allerdings weiter gefasst wird als nur in Bezug auf „flächenhafte Staatlichkeit“ (13). Ihr Ansatz ist durchweg historisch, wodurch sie die Relativität von Grenzen, ihre Abhängigkeit von jeweiligen Interessenkonstellationen deutlich macht. Grenzen sind keine quasi natürlichen Einrichtungen, sondern immer sozial gesetzt.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die Chronologie von Territorialität (I), die Typologie der Grenzen (II) und die Grenzregime (III). Die Abschnitte lesen sich jeweils wie eine gedrängte Geschichte der behandelten Erscheinungen, wobei nur jene (jüngeren) Perioden behandelt werden, in denen es eine gewisse Staatlichkeit gegeben hat. Die historischen Darstellungen fallen (notwendigerweise) sehr kurz und kursorisch aus. Im Mittelpunkt steht der europäische Raum, was einerseits verständlich – die europäische Form von Territorialität wurde via Kolonialismus exportiert – andererseits aber doch ein gewisser Mangel ist, weil im Zuge des Aufstiegs von Ländern des ‚globalen Südens‘ doch auch eigenständige, historisch gewachsene Begriffe von Territorialität wieder an Bedeutung gewinnen, die außereuropäische Wurzeln haben. Die von China vorangetriebene „neue Seidenstrasse“ ist ohne den Bezug auf die chinesische Geschichte und deren Umgang mit Territorialität unverständlich. Nicht alles muss man also „aus einer europäischen Perspektive“ (232) behandeln. Am Ende des ersten Teils konstatiert die Autorin, dass sich die Form von Territorialität, an die wir gewöhnt sind, unter dem Druck von durch globale Kapitalgruppen organisierte globale Wertschöpfungsketten tendenziell auflöst: „Während die moderne Staatsbildung in der Frühen Neuzeit dazu geführt hat, Territorialität mit flächenhafter Staatlichkeit zu assoziieren, führt uns das Ende der Flächenhaftigkeit in eine neue Epoche, deren Territorialitätsmuster wir noch nicht ausmachen können.“ (90)

Im zweiten Teil diskutiert sie die Typologie von Grenzen, wobei jeweils den Bezug auf die Territorialität beibehalten wird, also auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Grenzen in ihren Wirkungen im Raum untersucht werden. Wichtig die Feststellung: „Territorialität war … nicht exklusiv, sondern überlappend.“ (102) Grenzen können auch in Bezug auf territoriale Herrschaft uneindeutig sein – je nach Bereich können sich Herrschaftsräume überschneiden, Zugehörigkeiten verschiedene Formen annehmen. Bei den vielen herangezogenen historischen Beispielen hat ‚Kakanien‘, das habsburgische Österreich-Ungarn, verständlicherweise ein leichtes Übergewicht.

Im dritten Teil geht es um die „Politik der Grenze“, wobei vier Themenfelder behandelt werden: Waren- und Kapitalverkehr, Personenverkehr, Überschreiten sozialer Grenzen und kultureller Zugehörigkeiten. In allen Fällen werden die historischen Veränderungen über die Perioden hinweg dargestellt, d.h. das Mittelalter, die Frühe Neuzeit, die „Moderne“ (20. Jahrhundert) und die „Postmoderne“. Diese Darstellungen können naturgemäß nur sehr gedrängt ausfallen, so dass der Leser letzten Endes nur das Bild einer ständigen Veränderung und Veränderlichkeit im Kopf behält, einer Veränderlichkeit, die sozial konstruiert ist. Im aktuell besonders interessanten Abschnitt über den Personenverkehr (Migration) macht die Autorin auf einen Aspekt aufmerksam, der in den aktuellen Debatten leider zu kurz kommt: „Was alle über die politischen Grenzen hinweg eint, ist die Nützlichkeitserwägung aus der Perspektive der eigenen Gruppe. Nützen sie uns, oder schaden sie uns? Und zwar hier. Hier bei uns. Was dort, wo die Flüchtlinge herkommen, passiert, ob die Menschen dort gebraucht werden, was ihre Flucht bewirkt … ist in dieser Auseinandersetzung vollständig ausgeblendet.“ (198) Das kann man nur unterstreichen.

In einem letzten kurzen Abschnitt fasst die Autorin ihre Ergebnisse zusammen, wobei sie die Veränderlichkeit von Grenzen, ihre Abhängigkeit von Interessen und Standpunkten unterstreicht. „Grenzen zeigen sich damit als ein vielseitig gestaltbares Phänomen …“. (230) Die Autorin spricht keine politische Empfehlung aus, entwickelt keine Strategie, sie meint aber, dass Grenzen heute „verstärkt zur Disposition“ stünden, die „Politik der Grenze“ also an Bedeutung gewinnen würde (234). Das Buch liefert eine Fülle von historischen Informationen, die man manchmal gerne vertiefen würde. Es verzichtet auf analytische Verallgemeinerungen, ganz zu

„Hegemonieverschiebungen in der Weltwirtschaft – neue Konfliktfelder“

Kolloquium aus Anlass des 75. Geburtstages von Jörg Goldberg

Frankfurt/M., 23. Februar 2019, Bürgerhaus Gallus, 11.00 – 16.30 Uhr

Themen:

I. Veränderte Weltwirtschaft:
Entwickelte kapitalistische Länder – Schwellenländer – Peripherie: Aufstieg der neuen, Abstieg der alten Zentren?

II. Politisch-ökonomische Folgen:
Veränderungen der Weltwirtschaftsordnung und -beziehungen

III. Internationale Politik:
Neue zwischenimperialistische Widersprüche – neue Konfliktfelder

Es diskutieren u.a. Dieter Boris, Frank Deppe, Franz Garnreiter, Leo Mayer, Andres Musacchio, Werner Rügemer, Werner Ruf, Thomas Sablowski, Peter Wahl

Veranstalter: Redaktion Z

Anmeldung unter
redaktion@zme-net.de[4]

schweigen von politischen Konzepten und strategischen Einordnungen. Die meist nüchterne Präsentation des historischen Materials steht im Vordergrund, nicht die politische Bewertung.

Jörg Goldberg

„Geschlechterverhältnisse aus historisch-materialistischer Sicht“

Marxistische Studienwoche 2019

11.–15. März 2019, Haus der Jugend, Frankfurt/Main

Vorträge, Workshops und Diskussionsrunden u.a. mit: Reiner Diederich, Ulrike Eifler, Bettina Gutperl, Frigga Haug, André Leisewitz, Kim Lucht, Eleonora Roldán Mendívil, Gisela Notz, David Salomon, Ingrid Kurz-Scherf, Winfried Schwarz, Ines Schwerdtner, Tove Soiland, Margareta Steinrücke, Kerstin Wolter

Themen: Marxistische Klassiker und aktuelle Debatten, Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse, Geschlechterverhältnisse in Betrieb und Gesellschaft, Frauenbewegung in der Geschichte und heute, Debatte um aktuelle Theorien zu Gender, Klasse und Geschlecht, Kulturprogramm zu „Menschenbild und Geschlechterverhältnisse“

Veranstalter: Heinz-Jung-Stiftung und Redaktion Z

Anmeldung unter
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1[6] Dass die eigene Erinnerung auch täuschen kann, zeigt sich freilich gleich am Anfang, wenn Riexinger zu Recht gegen die Streichung von Weihnachtsgeld polemisiert und feststellt: „Anfang der 1970er Jahre war es hingegen keine Frage, dass ein 13. oder 14. Gehalt als Weihnachts- und Urlaubsgeld gezahlt wurde.“ Dem war nicht so, denn noch Anfang der 80er Jahre waren erst „in weiten Bereichen 50 % des 13. Monatseinkommens als tarifliche Sonderzahlung erreicht“. (IMSF; Handbuch für Arbeiter und Angestellte, 4. A., 1981, S. 412)

1[7] Zur Entwicklung der KPD vor und nach dem März-Aufstand 1923 vgl. Harald Jentsch, Die KPD 1919-1924, Teil I. in Z 115 (September 2018), S. 77ff. sowie Teil II in diesem Heft.

1[8] Vgl. die Besprechung in Z 115 (September 2018), S. 227-230.

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