Editorial

September 2018

Kaum ein Ereignis in der Geschichte des Kapitalismus in Deutschland bildet einen so tiefen Einschnitt und ist in so hohem Maße politisch-ideologisch umkämpft wie die Novemberrevolution 1918. Im offiziellen Gedenken wird das Ereignis als Geburtsstunde der parlamentarischen Demokratie gefeiert. Dass die Durchsetzung elementarer demokratischer Rechte im bürgerlichen Deutschland einer bewaffneten Massenrevolution bedurfte, wird dabei ebenso unter den Teppich gekehrt werden wie der Umstand, dass der von der herrschenden Klasse entfesselte Terror von rechts gegen die Revolution nur anderthalb Jahrzehnte später auch die parlamentarische Demokratie liquidierte. Wir bringen im vorliegenden Heft Beiträge zur Verlaufsgeschichte und Interpretation, aber auch zu biographischen Aspekten. Der Bogen wird gespannt von der Vorgeschichte der Novemberrevolution bis zum „Deutschen Oktober“ 1923, also dem Ende der so genannten „revolutionären Nachkriegskrise“. Auch auf der Linken ist die Novemberrevolution in vieler Hinsicht Gegenstand von Kontroversen; sie werden hier zumindest zum Teil aufgenommen.

Der November 1918 ist, so Stefan Bollinger, nur zu verstehen, wenn er als Teil der internationalen revolutionären Krise gesehen wird, die 1917 begann und 1923 endete. In der Phase der Kriegsmüdigkeit und des Bankrotts des kaiserlichen Regimes wollte die radikale Linke eine sozialistische Räterepublik, die Mehrheitssozialdemokratie hingegen den Ausbau der repräsentativen Demokratie und des Sozialstaats. Die Linken waren sich untereinander uneins, sie hatten keine wirkliche Strategie und ihnen fehlte eine stabile Massenbasis. Die Mehrheitssozialdemokratie dagegen schwamm mit dem Strom und suchte das Bündnis mit der herrschenden Klasse. Insgesamt, so Bollinger, ist die von marxistischen HistorikerInnen entwickelte Formel tragfähig, es habe sich um eine bürgerlich-demokratische Revolution gehandelt, die mit proletarischen Kampfmitteln ausgetragen wurde. Die systematische Mobilisierung konterrevolutionärer und entgrenzter Gewalt gegen die Novemberrevolution ist Thema von Klaus Gietinger. Er präsentiert z.T. weithin unbekannte bzw. von der Forschung wenig beachtete Tatsachen als Belege für eine „beispiellose Gewaltmaschinerie“, die durch das Zusammenwirken von führenden Sozialdemokraten in der Regierung und reaktionären Kräften des Militärs entfesselt wurde. Gietinger sieht hierin eine präfaschistische Entwicklung, die nicht notwendig, aber folgerichtig den Weg zum Faschismus ebnete.

Holger Czitrich-Stahl und Rainer Holze bieten einen Literaturbericht über Neuerscheinungen zur Novemberrevolution. Die meisten Darstellungen der revolutionären Ereignisse im Herbst 1918 bleiben aber auf Republik, Wahlen zur Nationalversammlung und Weimarer Verfassung fixiert. Die innovative Option der Räte ist höchstens ein Randthema. Der Zusammenhang von Massenforderungen nach Demokratie und den Versuchen der radikalen Linken, in Deutschland eine sozialistische Revolution voranzutreiben, wird nur von wenigen Autoren thematisiert.

Theoretischer Kopf der revolutionären Linken in der deutschen Sozialdemokratie war Rosa Luxemburg. Annelies Laschitza, die Grande Dame der Luxemburg-Edition und -Forschung, öffnet den Blick auf Luxemburgs Analysen zu Imperialismus, linker Politik und Revolution. Sie zieht dazu insbesondere die beiden zuletzt von ihr edierten Bände 7.1 und 7.2 der Werkausgabe Luxemburgs heran, die u.a. handschriftliche Fragmente aus den Jahren 1917 und 1918 enthalten. Rosa Luxemburg blickte auf die russische Revolution mit großen Erwartungen, sah aber in deren konkreten Bedingungen und der durch sie geprägten bolschewistischen Politik kaum Chancen, die auch für die deutsche Arbeiterklasse zu nutzen wären, sondern eher Risiken. Nicht eine Minderheit, sondern die breite Mehrheit der Arbeiterklasse, so ihre Erwartung an die deutschen Arbeiter, müsse sich der revolutionären Aufgabe stellen.

In der KPD schlossen sich 1918/19 verschiedene Gruppen der radikal-revolutionären Linken zusammen, die teilweise sehr unterschiedliche politische und organisatorische Vorstellungen hatten. Eine ihrer wichtigen „Quellgruppen“ waren die Bremer Linksradikalen, die 1914 von Anfang an offen gegen den Kriegskurs der SPD opponiert hatten und die – als Internationale Kommunisten Deutschlands (IKD) – basisdemokratische Positionen vertraten. Gerhard Engel erinnert an diese zeitweilig bedeutsame Strömung der Arbeiterbewegung vor allem Norddeutschlands, aus der später eine Reihe ‚dissidenter‘ kommunistischer Gruppen und Persönlichkeiten hervorging. Mirjam Sachse untersucht den „langen Weg der proletarischen Frauen zur ‚Novemberrevolution‘“. Der entschiedenen Kriegsgegnerschaft von Antimilitaristinnen und Internationalistinnen stellt sie die ambivalente Haltung von Luise Zietz (1865-1922) gegenüber, die als Mitglied des SPD-Parteivorstands bis zu ihrem Übertritt zur USPD 1917 der „Burgfriedenspolitik“ verpflichtet war. Bedeutsam waren vor allem Proteste gegen Nahrungsmittelknappheit, die Frauenstimmrechtsbewegung und der Kampf um das Wahlrecht. Die (betriebliche) Rätebewegung blieb jedoch weitgehend männlich dominiert.

Einen Überblick zur Geschichte der KPD zwischen 1919 und 1924, dessen ersten Teil wir hier präsentieren, bietet Harald Jentsch. „Offensivtheorie“ und „Einheitsfronttaktik“ stehen im Zentrum der Darstellung, die die Gründungsbedingungen und die daraus folgenden Auseinandersetzungen innerhalb der KPD herausarbeitet. Für Jentsch blieb die KPD stets von der Heterogenität und den programmatischen Widersprüchen ihrer Gründungsphase gekennzeichnet. Spätestens mit der Konsolidierung des Kapitalismus zu Beginn der 1920er Jahre geriet die „Offensivtheorie“ der Partei, die von einer finalen Krise des Kapitalismus ausging, in Bedrängnis. Michael Buckmiller thematisiert in diesem Rahmen die Bündnispolitik der KPD anhand der Regierungsbeteiligungen in Sachsen und Thüringen im „Schaltjahr 1923“. Er hebt die Bedeutung der Reichsexekutionen gegen beide Länder für das rasche Ende der Arbeiterregierungen hervor. Buckmiller verweist auf Probleme und Widersprüche mit Blick auf die Regierungsbeteiligungen der KPD, ihr Verhältnis zur Kommunistischen Internationalen, aber auch ihre unrealistische Einschätzung von Kräfteverhältnissen, die sich im Scheitern des „deutschen Oktober“ zeigte.

Jörg Wollenberg erinnert an Wilhelm Dittmann, der als Volksbeauftragter der USPD Mitbegründer der Weimarer Republik war und später langjähriger Vorsitzender der SPD-Fraktion im Reichstag wurde. Dittmann, so Wollenberg, gehörte zu jenen demokratischen Sozialisten, die gerade deshalb „ungeliebt“ blieben, weil sie sich nicht scheuten, auch die eigene Partei scharf zu kritisieren.

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Marx-Engels-Forschung: Ein Abschnitt der Marx’schen „Grundrisse“, der die Automation der Produktion in der Mitte des 20. Jahrhunderts vorwegzunehmen scheint, ist seitens der italienischen Operaisten (Antonio Negri u.a.) unter dem Label „Maschinenfragment“ in den Mittelpunkt einer subjektiv-politischen Lesart des Marx’schen Werks gerückt worden. Werner Goldschmidt unterzieht ihre Marx-Lesart einer nachhaltigen Kritik; im nächsten Heft soll sie mit einem Blick auf die Marx’sche Perspektive der „Befreiung der Arbeit“ fortgesetzt werden. Über die nach 1990 zwangsweise abgebrochene Arbeit am sechsgliedrigen Aufbauplan des Marx’schen „Kapital“ an der Universität Halle berichtet Ehrenfried Galander. Frank Deppes Vortrag von der Tagung „Marx in Hessen“, über die in Z 114 berichtet wurde, behandelt marxistische Traditionen in Hessen in Politik und Wissenschaft (Institutionen wie Personen) und widmet sich der insbesondere von Wolfgang Abendroth inspirierten „Marburger Schule“.

Weitere Beiträge: Andreas Fisahn setzt sich kritisch mit den Kategorien „Externalisierung“ und „imperiale Lebensweise“ auseinander, wie sie von Stefan Lessenich und Uli Brand/Markus Wissen in der Debatte über die Nord-Süd-Beziehungen verwendet werden. Christian Fuchs charakterisiert das Konzept „Industrie 4.0“ als Instrument der politischen Kontrolle, der Rationalisierung und Profitmaximierung sowie der ideologischen Manipulation. An den marxistischen Theoretiker Georgi Plechanow erinnert aus Anlass seines 100. Todestages Gert Meyer. Er bespricht eine Neuausgabe von Reden und Artikeln Plechanows und behandelt dessen Differenzen zu den bolschewistischen Positionen bezüglich der Friedensfrage, der Frage bürgerliche oder sozialistische Revolution und des Bündnisses des Proletariats mit der Bauernschaft.

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Zuschriften, Zeitschriftenschau, Tagungsberichte, Buchbesprechungen: Hier geht es u.a. um Marx-Edition und -interpretation, um aktuelle Konflikte zu Migration und Flüchtlingshilfe (Zeitschriftenschau), um kategoriale Fragen der Kapitalismusanalyse und Geschichte der Linken (Berichte, Buchbesprechungen).

Z 116 (Dezember 2018) wird im Schwerpunkt „Klassentheorie und Klassenpolitik“ behandeln. Des Weiteren sind Beiträge u.a. zur Klimafrage (nach der anstehenden Konferenz von Wroclaw), zur Streikbilanz im 1. Hj. 2018, zu Marx 200 (u.a. Kritik neuerer Biographien) sowie die Fortsetzung der Beiträge von Goldschmidt und Jentsch aus dem vorliegenden Heft vorgesehen.

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