Editorial

März 2018

Am 5. Mai 2018 jährt sich zum 200. Mal der Geburtstag von Karl Marx – „Marx 200“. Das Jahr wird eine große Zahl an Veranstaltungen und Publikationen bringen, die diesem Ereignis gewidmet sind. Die zentrale Frage für Marxistinnen und Marxisten stellt sich jedoch ganz unabhängig von diesem Jahrestag als dauerhafte Herausforderung: Es ist die nach der Aktualität des Marx‘schen Denkens und der Fähigkeit seiner heutigen Anhänger, die inneren Widersprüche der globalen kapitalistischen Entwicklung adäquat zu fassen und eine Kapitalismuskritik zu entwickeln, die Zugänge zu dessen Überwindung und eine Perspektive eröffnet, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. „Marx 200“ ist Gelegenheit, diese Frage in aller Deutlichkeit gegen den zu erwartenden Tenor der öffentlichen Medien und Publizistik zu stellen, die Marx attestieren werden, die krisenhafte Entwicklung und Dynamik des Kapitalismus zwar überraschend gut beschrieben zu haben, aber für die Zukunft nicht befragbar zu sein.

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„Arbeit und Ausbeutung“ sind Gegenstand des Schwerpunkts im vorliegenden Heft. Wir beginnen mit einem Blick auf aktuelle und anstehende Arbeitskämpfe. Bei Redaktionsschluss hatte die IG Metall im Rahmen der laufenden Tarifrunde ihre neue Kampfform der 24-Stunden-Streiks erprobt: An drei Tagen befand sich zusammengenommen rund eine halbe Million Beschäftigte in über 250 Betrieben im Ausstand. Ökonomischer Klassenkampf ist konstitutives Moment der antagonistischen bürgerlichen Gesellschaft. Erstmals seit 2003 versucht die IG Metall wieder, die Initiative in der Arbeitszeitfrage zurückzugewinnen, die sie nach dem Kampf um die 35-Stunden-Woche im Kontext von Intensivierung und Flexibilisierung der Arbeit verloren hatte. Der Versuch, den Einstieg in eine längerfristige Auseinandersetzung um neue Arbeitszeitregelungen im Interesse der Belegschaften zu finden, muss, wie Robert Sadowsky (Gewerkschaftssekretär) und Isa Paape (Betriebsrätin) berichten, zugleich neue Interessenlagen in den Belegschaften berücksichtigen. Es geht heute um die kollektive Absicherung individueller Entscheidungsmöglichkeiten in der Arbeitszeitfrage. Zugleich geht es um Lohnfragen. Dies betrifft auch die anstehenden Auseinandersetzungen im Postbereich (Werner Siebler). Dass die Internationalisierung des Kapitals und eine wachsende Sensibilität von Konsumenten auch zu einer Internationalisierung im Kampf gegen Ausbeutung zwingen, zeigt Michael Fütterer am Beispiel der Textil-Wertschöpfungskette. Die länderübergreifende Zusammenarbeit von Gewerkschaften, Betriebsräten und NGOs will zugleich mithelfen, in den Produktionsländern eigenständige handlungsfähige gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen.

Klaus Müller diskutiert den Ausbeutungsbegriff auf der Grundlage der marxistischen Arbeitswerttheorie und bezieht diese auf aktuelle statistische Kategorien der Einkommensverteilung und der Lohnentwicklung. Er zeigt, dass die Zunahme der Ausbeutung, statistisch widergespiegelt durch sinkende Lohnquoten, mit steigenden Reallöhnen vereinbar ist. Deren Veränderung ist nicht notwendig verbunden mit der Entwicklungstendenz des Wertes der Arbeitskraft, welche durch den Produktivitätsfortschritt und den Wandel von Bedürfnissen bestimmt wird. Ausgehend von einer populären Comic-Geschichte entwickelt Erik Olin Wright einen soziologischen Ausbeutungsbegriff. Dieser wird zwar am Beispiel der ökonomischen Sphäre erklärt, ist aber auch auf die Geschlechterbeziehungen oder auf kulturelle Phänomene anwendbar. Ausbeutung basiere auf den drei Momenten Abhängigkeit, Ausschluss und Aneignung. Der Ausbeuter sei zwar Herrscher und Unterdrücker, gleichzeitig aber sei er auch abhängig von den Leistungen der Ausgebeuteten. Dies sei wichtig, um das Wesen der Ausbeutung und gleichzeitig Formen des Widerstands zu verstehen.

Harald Werner setzt sich mit Veränderungen im Ausbeutungsverhältnis auseinander, die der Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses“ folgten. Eine der neueren Formen wird dabei als „Arbeitskraftunternehmer“ beschrieben. Dieser verfügt zwar scheinbar über größere Zeitsouveränität, kann diese aber nicht im eigenen Interesse nutzen; er muss weiterhin die vom Kapitaleigner bestimmten Ergebnisse erbringen. Die Folge sind eine Ausdehnung des Arbeitstages ohne entsprechende Bezahlung und oft eine kleinteilige Kontrolle, die im Zuge der Digitalisierung durchgesetzt wird. Was bedeutet „Ausbeutung“ im Selbstverständnis von Beschäftigten? Heinz-Jürgen Krug hat frühere Akteure aus der IKT-Branche befragt, die sich jahrelang gegen Umstrukturierungen, Personalabbau, Arbeitsverdichtung, Outsourcing und schließlich Betriebsstillegung gewehrt haben. Sein Fazit: Über einen theoretisch fundierten Begriff von Ausbeutung verfügen sie nicht, aber sie fühlen sich (im Sinne der „moral economy“) „irgendwie“ ausgebeutet – weniger aufgrund schlechter Bezahlung als vielmehr wegen als ungerecht, unfair und verletzend empfundener Behandlung. Hier, so Krug, liegt ein wesentlicher Impuls für Empörung und Widerstand.

Digitalisierung des Kapitals heißt Intensivierung der Ausbeutung, konstatiert Marcus Schwarzbach (Berater von Betriebsräten). Cloudworking, ständige Erreichbarkeit, Assistenzsysteme oder innerbetriebliches „benchmarking“ sind zugleich Formen systematischer Leistungskontrolle mit wachsender Arbeitsbelastung. Dies zeigt auch die Bestandsaufnahme empirischer Forschungen zu Arbeitsbelastungen, die Rolf Schmucker zusammengestellt hat. Dabei legt er einen besonderen Akzent auf die gestiegene Bedeutung psychischer Belastungen sowie auf die Flexibilisierung von Arbeitszeiten. Er vermutet, dass „gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen in zunehmendem Maß Gegenstand von Arbeitskonflikten und Tarifauseinandersetzungen werden“ können.

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Marx-Engels-Forschung: Thomas Kuczynski hinterfragt die gängige Formulierung von der „Inwertsetzung der Natur“, eine im Konzept des ‚grünen Kapitalismus‘ zentrale Vorstellung. Wenn vormalige Gratisleistungen der Natur wie z.B. sauberes Wasser gesellschaftlich reproduziert werden müssen, dann findet – wie Marx gezeigt hat – eine „Wertrevolution“ statt: Die ursprünglich gratis zur Verfügung gestellten Naturressourcen erhalten im Nachhinein einen „Reproduktionswert“, der in den Wert auch der bereits produzierten Waren eingeht. Die Neuedition der „Deutschen Ideologie“ von Marx und Engels im Rahmen der MEGA erläutert mit Rückgriff auf die Editionsgeschichte Winfried Schwarz. Die Neufassung erleichtert das Verständnis der Gedankenentwicklung von Marx und Engels gegenüber der Textdarbietung in der MEW (die der ersten MEGA folgte).

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1968: Wolfgang Abendroths erstmals 1978 veröffentlichte, differenzierte und auch skeptische Sicht auf die Ereignisse von 1968 mag heute als doppelte Intervention gelesen werden: einerseits gegen die wachsende rechte Tendenz, 1968 als Sündenfall zu stigmatisieren, gegen den sich nun eine „konservative Revolution“ (Dobrindt) zu richten habe, andererseits aber auch gegen eine romantisierende Verklärung der Revolte, die heute abermals ihre Abkehr von Klassenfragen und der traditionellen Linken mit ultralinker Geste zu inszenieren beginnt.

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Weitere Beiträge: Kersten Artus wendet sich in ihrem Beitrag zum Thema Prostitution gegen die sogenannte abolitionistische Forderung nach einem „Sexkaufverbot“ (vgl. die Besprechung des Buches von Katharina Sass u.a. durch Lothar Peter in Z 112). Sie kritisiert die Vermengung von Sexarbeit mit Zwangsprostitution und Menschenhandel. Die Debatte zum Thema Populismus ist durch den Aufstieg seiner rechten Variante aktuell, aber auch durch diese dominiert. Populäre Formulierung linker Politik muss sich ebenfalls mit der generellen Verdammung durch den liberalen Mainstream auseinandersetzen. Dies ist der Hintergrund, vor dem Dieter Boris zwei aktuelle Veröffentlichungen zum Thema Populismus vorstellt. Kai Wagner setzt in Reaktion auf Peter Wahls Artikel „Wie nationalistisch ist der Nationalstaat“ in Z 112 die Debatte um Nation, Nationalstaat und Nationalismus fort. Er legt den Fokus auf die Entwicklung der Nation in Wechselwirkung mit dem Kapitalismus. Thomas Metscher setzt sich mit einer Veröffentlichung von Jörg Zimmer zu „Grundproblemen der ästhetischen Terminologie“ auseinander. In dieser Auseinandersetzung um den Kunst-Begriff hat Zimmer eine Replik für Z 114 angekündigt. Um Ideologiekritik geht es bei Jens Grandt: Er vergleicht die neoklassische Ökonomie mit einer religiösen Lehre, deren Glaubenssätze als unantastbar gelten, wonach etwa ein Staat wie ein Unternehmen zu führen, die Staatsschuld zu verringern und die Arbeitszeit zu verlängern sei. Zeitschriftenschau, Berichte und Rezensionen geben Gelegenheit zur Information über aktuelle Debatten, Tagungen und Neuerscheinungen.

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Die ursprünglich für Z 113 geplante Fortsetzung des redaktionellen Beitrags zu den Ergebnissen der Bundestagswahl aus Z 112 wird angesichts des schleppenden Fortgangs der Regierungsbildung auf das nächste Heft verschoben. Z 114 (Juni 2018) wird als Schwerpunktthema aktuelle Umweltprobleme behandeln.

Die „Marxistische Studienwoche“ 2018 findet vom 19. bis 23. März 2018 in Frankfurt/M., Haus der Jugend, statt. Thema: „Marx 200: Klassentheorie und Klassenbewegungen heute“. Näheres sh. Vorankündigung in diesem Heft, S. 21.