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„Ein unheilbarer Riss im Stoffwechsel zwischen Natur und Gesellschaft"

von John Bellamy Foster im Gespräch mit Christian Stache
Dezember 2016

Ein Gespräch mit John Bellamy Foster

John Bellamy Foster ist Professor für Soziologie an der University of Oregon und Herausgeber des U.S.-amerikanischen sozialistischen Magazins „Monthly Review“. Er hat verschiedene Bücher zur politischen Ökonomie, zur Imperialismustheorie und zur marxistischen Ökologie veröffentlicht. Einige sind in deutscher Übersetzung im LAIKA Verlag erschienen. Das Interview mit ihm führte Christian Stache, der den Text auch übersetzt und annotiert hat. Eine Kurzfassung des Interviews erschien am 20. August d.J. als Wochenendgespräch in der Tageszeitung „ junge Welt“.

Sie und Ihr Kollege Paul Burkett haben jüngst ihr neues Buch Marx and the Earth: An Anti-Critique (Marx und die Erde. Eine Antikritik)[1] veröffentlicht. Im Untertitel haben Sie es als eine „Antikritik“ klassifiziert. Auf wessen Kritik reagieren Sie und vor allem, warum sahen Sie sich zu einer Reaktion genötigt?

JBF: Um die Frage zu beantworten, müssen wir einen kleinen Blick in die Geschichte werfen. Seit den 1980er-Jahren hat sich zuerst in Nordamerika und Europa, anschließend überall auf der Welt eine ökosozialistische Bewegung entwickelt.

Die erste Generation von Ökosozialisten, wie Paul Burkett und ich sie nennen, stülpte dem Marxismus grüne Ideen über; hin und wieder verfuhr sie auch umgekehrt. Sie kreierte hybride Analysen. Pioniere wie Ted Benton, André Gorz oder James O’Connor bezichtigten Marx und Engels, ökologische Blindstellen in ihrem Denken zu haben. Sie warfen ihnen sogar vor, anti-ökologische Positionen eingenommen zu haben. Manchmal wurde Marx auch vorgehalten, seine Ablehnung malthusianisch bestimmter natürlicher Grenzen sei zu weit gegangen. Insgesamt entwickelte sich die erste Generation von Ökosozialisten unter der Hegemonie grüner Theorie. Obwohl man sich des Marxismus bediente, z.B. der Klassentheorie und des Arbeitsbegriffs, wurde unterstellt, dass die zentralen ökologischen Kritiken eher einem Denken außerhalb des historischen Materialismus entsprungen seien, als dass sie in seiner Tradition stünden. Nicht alle, aber einige Ökosozialisten der ersten Generation verteidigten eisern ihre Auffassung, der Ökosozialismus habe den klassischen Marxismus als wissenschaftliches und politisches Paradigma ersetzt und ihn von zahlreichen mutmaßlich negativen Elementen der sozialistischen Tradition befreit. In diesen Fällen entpuppte sich der Ökosozialismus als eine Negation des klassischen Marxismus.

Für gewöhnlich wird angenommen, dass die Publikation von Paul Burketts Buch Marx and Nature (1999) und meiner Monographie Marx’s Ecology (2000) den Beginn der zweiten Generation des Ökosozialismus markiert. An unserer Seite fanden sich aber schnell zahlreiche Theoretiker ein, darunter Brett Clark, Hannah Holleman, Stefano Longo, Kohei Saito und Richard York. Elmar Altvater ist ein deutscher Vertreter dieser Linie, auch wenn seine Arbeiten schon zu einem früheren Zeitpunkt begonnen haben. Die Angehörigen dieser zweiten Generation wandten sich wieder den Grundlagentexten des klassischen historischen Materialismus zu, um den Stellenwert der ökologischen Analysen in der Tiefenstruktur von Marx’ und Engels’ Kritik der politischen Ökonomie zu untersuchen. Wir konzentrierten uns vor allem auf die Beziehung zwischen der materialistischen Geschichtskonzeption und dem materialistischen Verständnis der Natur.

Über die vergangenen 15 Jahre haben die beiden ökosozialistischen Generationen ausgiebige Debatten über den Stellenwert der Marxschen Ökologie geführt. Auf der Basis neuer Forschung, neuer Belege und theoretischer Entwicklungen sahen sich die Vertreter der ersten Generation dazu genötigt, in fast allen Streitpunkten nachzugeben. Paul Burketts und mein jüngstes Buch, Marx and the Earth, ist in vielerlei Hinsicht eine Summe dieser Auseinandersetzung. Wir formulieren darin Antworten auf etliche Gegenangriffe und sich hartnäckig haltende Missverständnisse bei der Interpretation von Marx’ und Engels’ Werk insbesondere auf dem Gebiet der Ökologischen Ökonomie. Einige ihrer bekannten Repräsentanten wie Joan Martinez-Alier and James O’Connor haben argumentiert, dass Marx und Engels die Thermodynamik nicht in ihre Analysen einbezogen hätten. In diesem Zusammenhang ist Engels zudem vorgeworfen worden, er habe das Zweite Gesetz der Thermodynamik bestritten. Wir antworten aber auch auf andere Kritiken des klassischen historischen Materialismus, unter anderem auf Joel Kovels These, Marx und Engels hätten der Natur keinen intrinsischen Wert beigemessen, oder John Clarks Behauptung, Marx’ habe die organische Beziehung zwischen Natur und Gesellschaft geleugnet.

Was genau ist dann eine Antikritik?

JBF: In der marxistischen Theorie hat der Begriff der Antikritik eine lange und distinguierte Tradition. In der Regel wird er direkt mit Rosa Luxemburgs Schrift Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Kritik gemacht haben. Eine Antikritik in Verbindung gebracht. Mit dieser Arbeit, die normalerweise nur unter dem Namen Antikritik firmiert, antwortete Luxemburg auf die marxistische Kritik ihres Hauptwerks. Engels’ zuvor publizierter und noch weitaus populärerer Anti-Dühring kann auch als Antikritik interpretiert werden. Engels sah sich genötigt, Eugen Dührings naturwissenschaftlichen, philosophischen und politisch-ökonomischen Ausführungen nachzugehen, um Dühring auf den von ihm gewählten Feldern der Auseinandersetzung zu widerlegen. Er und Marx wollten dadurch der, wie sie dachten, größten Herausforderung für den Sozialismus ihrer Zeit begegnen.

Für eine Antikritik ist es also erforderlich, sich mit der Kritik des eigenen Standpunktes zu beschäftigen und eine Entgegnung zu entwickeln, bei der die innere Logik und historische Basis beider Standpunkte berücksichtigt wird. Das Ziel der Auseinandersetzung besteht darin, Klarheit über die eigenen Auffassungen zu gewinnen, ein gewisses Maß an Selbstkritik zu leisten und dadurch die eigenen theoretischen Positionen dialektisch weiter zu entwickeln. Auf dieser Art und Weise ist es im Marxismus immer wieder gelungen, die eigenen Erkenntnisse und Grundpositionen angesichts neuer historischer Herausforderungen zu vertiefen und zu revolutionieren.

Allerdings weisen wir nicht Angriffe auf unsere eigenen Ideen zurück, auch wenn es solche ebenfalls gibt, sondern Attacken der ersten ökosozialistischen Generation auf Marx’ und Engels’ ökologische Analysen.

Warum glauben Sie, ist es notwendig, insbesondere auf dem Feld des Ökosozialismus beziehungsweise der Ökologie Kritik an Marx, Engels und dem Marxismus zu begegnen?

JBF: Die Frage hat einen eigenartigen Unterton. Sie könnten genauso gut fragen, ob es notwendig sei, Kritik an Darwins Evolutionstheorie zu widerlegen. Die Antwort ist evident: Es handelt sich um eine Frage der Wissenschaft. Wie weit sich die Evolutionstheorie seit Mitte des 19. Jahrhundert auch entwickelt hat, wir kehren immer zu Darwin und seiner Arbeit zurück, um neue Einsichten zu gewinnen. Dies ist einer der Wege, auf denen Wissenschaft Fortschritte erzielt.

Es geht also nicht nur darum, Marx und Engels oder den Marxismus zu verteidigen. Wir müssen auch andere grundlegende sozial- und naturwissenschaftliche Auffassungen verteidigen, ebenso wie wir gehaltvolle sozialökologische Analysen im Anthropozän entwickeln müssen. Darüber hinaus fördert Kritik, wenn sie denn bei den wesentlichen Punkten ansetzt, auch neue Fragen und Einsichten zu Tage, so dass wir unsere „progressiven Forschungsprogramme“ voranbringen können.

Die sozialen und ökologischen Probleme sind heute gewaltiger denn je angesichts des planetarischen Notstands, in dem sich unsere Erde derzeit befindet und die der Kapitalismus verursacht hat. Es ist für den gegenwärtigen Prozess der Krisenbewältigung entscheidend, unsere kritischen Traditionen erneut zu untersuchen, um zu verstehen, was falsch gelaufen ist, und um neue kritische Instrumente zu entdecken, die uns bislang gefehlt haben. Rosa Luxemburg hat einmal gesagt, dass Marx’ Wissenschaft uns „im voraus überholt hat“ und dass wir im Angesicht neuer historischer Herausforderungen „wieder in das Marxsche Gedankendepot [greifen], um neue einzelne Bruchstücke seiner Lehre auszuarbeiten und zu verwerten“[2], die wir bislang ignoriert oder nicht erkannt haben. Dies ist insbesondere hinsichtlich der Ökologie der Fall. Marx’ Gedanken zu diesem Thema sind lange von der Bewegung vernachlässigt worden, weil sie den unmittelbaren Bedürfnissen der Bewegung voraus waren.

Marx war der Erste, der eine ökologisch-soziale Systemtheorie entwickelt hat. Er sah die Verbindung zwischen den ökologischen und ökonomischen Widersprüchen des Kapitalismus und bestand mit Nachdruck darauf, dass eine nachhaltige Gesellschaft notwendig sei. Dieses kritische Denken wird heute mehr als jemals zuvor dringend benötigt.

In drei der fünf Hauptkapitel Ihres Buches beschäftigen Sie sich mit Anschuldigungen gegen „die beiden Begründer des historischen Materialismus“ auf dem Feld der Thermodynamik im Zusammenhang mit der Arbeit des ukrainischen Sozialisten Sergej Podolinsky aus dem 19. Jahrhundert. Können Sie kurz erläutern, was Marx und Engels vorgeworfen wird und warum sie die Kritik zurückweisen?

JBF: Podolinsky war ein ukrainischer Marxist und Anhänger von Marx und Engels. Er wurde als Gründer der Ökologischen Ökonomie bekannt durch die Studie Menschliche Arbeit und Einheit der Kraft, die er viermal in vier verschiedenen Sprachen (Französisch, Italienisch, Deutsch und Russisch) veröffentlicht hat. Podolinsky hat Marx 1880 einen frühen Entwurf seiner Schrift geschickt. Marx machte sich ausführliche Notizen und antwortete ihm. Podolinsky verfasste daraufhin einen neuen erweiterten Entwurf, der kurz darauf in französischer Sprache publiziert wurde. Dann erschien die italienische Fassung. Das Leitorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Die Neue Zeit, veröffentlichte die deutsche Fassung 1883 kurz nach Marx’ Tod.[3]

Bedauerlicherweise sind Marx’ Briefe an Podolinsky nicht erhalten geblieben, so dass wir seine Meinung über Podolinskys Manuskript nicht kennen. Allerdings schrieb Engels Marx 1882, nur wenige Monate vor Marx’ Ableben, auf dessen Bitte zwei Briefe zu Podolinskys Arbeit. Engels verwies auf bedeutende Erkenntnisse Podolinskys, kritisierte ihn aber auch für seine kruden Kalkulationen zum Energieverbrauch in der Landwirtschaft. Er hob besonders Podolinskys Fehler hervor, dass er nicht nur den menschlichen Stoffwechsel, sondern auch Düngemittel und fossile Brennstoffe (vor allem Kohle) in seine Berechnungen hätte einbeziehen müssen.

Engels war zudem sichtlich verärgert über einige extreme Aspekte der Darstellung Podolinskys, z.B. darüber, dass er den Menschen als die perfekte thermodynamische Maschine interpretierte, die ihren eigenen Antrieb neu starten könnte. Podolinsky war davon überzeugt, dass die Akkumulation von Sonnenwärme auf der Erde und ein möglicher globaler Temperaturanstieg Anzeichen für den menschlichen Fortschritt seien. Engels hingegen kritisierte, es sei entscheidend einzusehen, dass der Kapitalismus „nicht nur ein Fixierer gegenwärtiger, sondern ein noch viel größerer Verschwender vergangner Sonnenwärme ist“[4], d.h. unter anderem von Kohle.

Entscheidend ist hier, dass einige Angehörige der ersten ökosozialistischen Generation und Ökologische Ökonomen die Debatte um Podolinsky genutzt haben, um Marx und Engels vorzuhalten, sie hätten die Ökologische Ökonomie abgelehnt. Die Quellen deuten jedoch darauf hin, dass sie Podolinskys Analyse einer eingehenden Betrachtung unterzogen haben und dass Marx und Engels sie aus den genannten Gründen verworfen haben. Auch der führende Ökologische Ökonom des 20. Jahrhunderts, Nicholas Georgescu-Roegen, hat sich bei diesen strittigen Themen hinter Engels’ Position und nicht hinter Podolinskys oder Martinez-Aliers gestellt.

In einigen der Kapitel unseres Buches legen Paul Burkett und ich die gesamte Geschichte der Marx- und Engelsschen Diskussionen zur Energetik dar und zeigen, dass diese Behauptungen falsch sind. Im dritten Kapitel untersuchen wir, wie Marx die Thermodynamik in seine ökonomischen Schriften aufgenommen hat. Damit war er einer der wenigen Ökonomen des 19. Jahrhunderts, die dies taten. Bis heute ist das den meisten Wirtschaftswissenschaftlern noch nicht gelungen. Im vierten Kapitel befassen wir uns mit dem häufig formulierten Vorwurf von Autoren wie Martinez-Alier, Leszek Kołakowski und Daniel Bensaïd, Engels hätte das zweite Gesetz der Thermodynamik bestritten. Wir demonstrieren hingegen, dass Engels, wie die meisten führenden Physiker seiner und unserer Zeit, die Schlussfolgerung in Abrede gestellt hat, aus dem Gesetz lasse sich ein Wärmetod des Universums ableiten.

Paul Burkett und Sie schreiben, dass „dem klassischen Marxismus eine komplexe materialistische Ökologie zugrunde liegt“. Welches sind die grundlegenden und wichtigsten Erkenntnisse von Marx und Engels über die Zerstörung der Natur durch die kapitalistische Produktionsweise? Worin besteht ihr Beitrag zu einer kritischen Gesellschaftstheorie der dialektischen Beziehung zwischen Natur und Gesellschaft?

JBF: Dies sind komplexe Fragen und es ist nicht einfach, sie in einem Interview kurz zu beantworten. Die zentralen Erkenntnisse auf diesen Feldern sind Marx’ Theorie eines Risses im Stoffwechsel zwischen Natur und Gesellschaft, seine ökologische Werttheorie und Marx’ und Engels’ Dialektik der Ökologie. Weitere bedeutende Entdeckungen sind die Theorie des ungleichen ökologischen Tauschs beziehungsweise des ökologischen Imperialismus.

Marx außergewöhnliche radikale Definition von Nachhaltigkeit sticht besonders hervor. Er schreibt im dritten Band des Kapital, dass „selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, (…) nicht Eigentümer der Erde“ seien. „Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias [gute Familienväter] den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“[5] An der gleichen Stelle seines Hauptwerks definiert Marx, dass im Sozialismus „der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten (…) ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln“[6] und ihre menschlichen Potentiale voll entfalten.

Marx adaptierte das Konzept des Stoffwechsels aus den Naturwissenschaften. Er betrachtet die Dialektik zwischen dem „gesellschaftlichen“ und dem „durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebnen Stoffwechsel“, d.h. die Beziehung zwischen der Gesellschaft und der Natur unter den Bedingungen der historisch besonderen Form gesellschaftlicher Arbeit und dem „allgemeinen Stoffwechsel der Natur“.[7] Da dem Kapitalismus ein entfremdeter gesellschaftlicher Stoffwechsel innewohnt, der im Widerspruch zum allgemeinen Stoffwechsel der Natur steht, erzeugt die kapitalistische Produktionsweise einen „unheilbaren Riß“[8] im Zusammenhang der beiden. Marx untersuchte diesen Riss unter dem Einfluss der Arbeiten des deutschen Chemikers Justus von Liebig anhand der Unterbrechung des Nährstoffkreislaufs des Bodens. Marx entwickelte auf diese Weise eine Theorie der ökologischen Krise der kapitalistischen Produktion, die nicht ausschließlich ökonomisch-werttheoretisch, sondern auch durch die Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen durch den Kapitalismus begründet wird.

Nach Marx’ ökologischer Wertformtheorie, welche Gebrauchswert und Tauschwert umfasst, untergräbt die Produktion im Kapitalismus die natürlich-materiellen Gebrauchswertkomponenten des Reichtums. Die kapitalistische Produktionsweise schafft nicht nur den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, sondern auch einen zwischen Kapital und Natur. Ökonomietheoretisch liegt den Wertformen eine Abstraktion von den Naturbedingungen zugrunde – nicht ein Atom Naturstoff, so Marx, gehe in die Wertgegenständlichkeit der Waren ein. Marx ökologische Wertanalyse enthüllt die Widersprüche, die dem Kapitalismus und der Aneignung der Erde als einer „Gratisnaturkraft des Kapitals“ [9] innewohnen.

Paul Burkett und Sie sprechen davon, dass es mindestens drei Generationen von Marxisten gebe, die versucht hätten, ökologische Zerstörungen durch die Brille von Marx’ und Engels’ Werk zu interpretieren. Welches sind die Verdienste der verschiedenen Generationen, worin unterscheiden sie sich und welches Verhältnis unterhalten sie zueinander?

JBF: Wenn wir die Periode zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und heute betrachten und uns ausschließlich auf jene Personen konzentrieren, die wir Ökosozialisten oder ökologische Marxisten nennen können, ergibt sich zumindest für die englischsprachige Welt ein ziemlich kohärentes Bild. Es gab eine Pionierperiode, in der Einzelpersonen gewichtige Erkenntnisse formuliert haben, unter anderem K. William Kapp, Barry Commoner, Virginia Brodine, Paul Sweezy, Murray Bookchin (in seiner eher marxistischen Phase), Charles Anderson und Alan Schnaiberg. Zu dieser Zeit ging man allgemein davon aus, dass Marxismus und Ökologie zwei Seiten derselben Medaille seien. Darauf folgten die beiden ersten Generationen von Ökosozialisten.

Die Geschichte der ökologischen Frage im Marxismus wird allerdings ein wenig komplizierter, wenn man den Zeitraum zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg betrachtet. In dieser Zeit gab es mehrere Generationen sozialistisch-ökologischer Theoretiker insbesondere in Großbritannien, die von Marx und Darwin beeinflusst worden waren. In dieser Periode hatte der Sozialismus den größten Einfluss auf die Ökologie. Leider ist diese Geschichte kaum bekannt. Sie fiel in die Zeit vor der Entstehung der modernen Ökologiebewegung. Die damaligen Entdeckungen bezogen sich vor allem auf ökologische Beziehungen. Ich arbeite schon lange an einem Buch über diese Entwicklung.

Und in der Sowjetunion?

JBF: Das Bild wird noch ein wenig undeutlicher, wenn man die Sowjetunion berücksichtigt. In den 1920er-Jahren war die wissenschaftliche Ökologie der UdSSR weltweit führend. Sie wurde fast vollständig durch die politischen Säuberungen unter Stalin zerstört. Sie ist aber in den Jahrzehnten nach Stalins Tod zum Teil auf dem Fundament der Naturwissenschaften wieder hergestellt worden. Allerdings hinderte dies die Sowjetunion nicht daran, destruktive Beziehungen zur Natur zu unterhalten, wie zum Beispiel Tschernobyl gezeigt hat. Trotzdem haben sowjetische Wissenschaftler als erste auf den beschleunigten Klimawandel im Anschluss an Michail Budykos Arbeiten zur Eis-Albedo-Rückkopplung hingewiesen.[10] In der UdSSR hat es mehr Klimatologen als irgendwo anders gegeben und sie waren führend auf ihrem Feld bis Mitte der 1960er-Jahre. Die sowjetische Naturschutzbewegung war in den 1980er-Jahren sehr stark. Sie hatte Millionen Anhänger und unterschied sich von ihren westlichen Pendants dadurch, dass sie von Naturwissenschaftlern angeführt wurde.

In der Sowjetunion sind auch Entwicklungen in der marxistischen Ökologie gemacht worden, die erst heute anerkannt werden. Viele Linke und Rechte haben aus augenfällig politischen Gründen darauf insistiert, dass es irgendwie falsch sei, diese aufzugreifen. Sie weigerten sich sogar, schlicht die Fakten zur Kenntnis zu nehmen, weil sie von der rigiden und weitgehend irrationalen Ideologie überzeugt waren, die Sowjetunion sei eine monolithische Gesellschaft gewesen, die als Ganze von oben gesteuert worden sei. Der späte Richard Levins wies zu Recht darauf hin, dass es in der UdSSR auch immer eine Unterströmung ernsthafter marxistischer und dialektischer Analytiker insbesondere in den Naturwissenschaften gegeben hat.

Warum unternehmen viele Wissenschaftler so große Anstrengungen, um die Erkenntnisse von Marx und Engels auf dem Gebiet der Ökologie zu übergehen, herunterzuspielen oder sich von ihnen zu distanzieren?

JBF: Ich glaube, heute ist dies weniger der Fall als in der Vergangenheit. Die Tatsache, dass es ein solches Abgrenzungsbedürfnis gibt, sollte uns aber nicht überraschen. Ökosozialismus beziehungsweise der ökologische Marxismus entstand in einer Periode des Niedergangs der Linken in den 1980er- und 1990er-Jahren. In den Augen vieler geriet der Marxismus durch den Zusammenbruch der Sowjetunion gänzlich in Misskredit. Die Ideologen des Establishments haben diese Haltung natürlich genüsslich kultiviert. Der Stern der Postmoderne ging auf und mit ihr hielten Skeptizismus, ein starker Fokus auf Dekonstruktion, Sozialkonstruktivismus und Identitätspolitik Einzug, während ein echtes Befreiungsprojekt aufgegeben wurde. Zudem verschwanden die Ideologien des Kalten Kriegs auch nicht. Sie wurden transformiert. Der Niedergang der UdSSR galt zum Beispiel als Beleg für die extremsten Interpretationen dieser Gesellschaft und auch ihres Verhältnisses zur Natur.

Unterdessen warfen marxistische Wissenschaftler, die sich mit der Umwelt beschäftigten, nach und nach radikalere Fragen auf. Die Umweltsoziologie wuchs in den USA und wurde seit ihren Anfängen in den 1970er-Jahren von einer marxistischen oder neo-marxistischen Kritik des Kapitalismus dominiert. Der Ökosozialismus entstand als eine davon getrennte Tradition in den 1980er-Jahren. Diese Tendenzen waren also gegenläufig.

Der Marxismus ist ferner selbstverständlich eine revolutionäre Philosophie, die an den Glauben, die Erwartung oder Hoffnung geknüpft ist, dass die Arbeiterklasse fähig ist, ihre eigene Emanzipation zu erkämpfen. Bei einigen linken Akademikern löst diese Vorstellung Angst aus. Andere behaupten, dass die Arbeiterklasse von Natur aus anti-ökologisch sei und dass sich die Ökologiebewegung deshalb auf die Mittelschicht oder die herrschende Klasse verlassen sollte. Wir dürfen nicht vergessen, dass Universitäten letzten Endes eine bürgerliche Institution sind.

Die Wahrheit ist, dass es sehr viele gemäßigte Umweltaktivisten gibt, die den Kapitalismus nicht in Frage stellen oder ihn sogar als Instrument nutzen wollen. Der verstorbene deutsche Soziologe Ulrich Beck zum Beispiel leugnete, dass ökologische Probleme eine Klassenfrage sind. Er war Senior Fellow am Breakthrough Institute, dem führenden U.S. Think Tank, der für eine ökologische Modernisierung mit ausschließlich technokratischen und marktbasierten Maßnahmen eintritt und damit die exponentielle Kapitalakkumulation antreibt.

Ein klassisches Ideologem von Umweltaktivisten und Umweltwissenschaftlern im weitesten Sinne besteht darin, ökologische Probleme als Menschheits- oder Speziesprobleme statt als Klassenfragen zu begreifen, gerade so, als ob es keine Gewinner und Verlierer des Ökozids gäbe. Wie erklären Sie sich diese Fehlschlüsse und welche Rolle spielt der Klassenkampf für die Erklärung der Ausbeutung der Natur im Kapitalismus und für die Lösung ökologischer Probleme wie etwa des Klimawandels?

JBF: In der Tat hängen liberale Umweltschützer allen möglichen Varianten der Vorstellung an, dass „wir alle gemeinsam in einem Boot sitzen“. Die malthusianische Position, dass alle ökologischen Probleme letztlich eine Frage einer zu großen Bevölkerung auf dem Planeten seien, ist eine von ihnen. Im Original erklärt Malthus sogar die Zahl der armen Menschen zum ausschlaggebenden Problem. Eine andere Spielart stellt darauf ab, dass wir uns auf dem Raumschiff Erde befänden und deshalb alle in derselben misslichen Lage seien.

Folgt man diesen Auffassungen, sind die Klassengegensätze und Ungleichheit obsolet, rassistische oder geschlechterspezifische Unterdrückung können vernachlässigt werden, Imperialismus existiert nicht und die Lebensbedingungen indigener Völker sind unsichtbar. Entsprechend gibt es auch keine sozialen und ökologischen Ungerechtigkeiten, keine unterschiedlichen Lebenschancen usw. Das ist natürlich reine liberale Ideologie.

Die beste Antwort, die man auf Ihre Frage geben kann, ist von Ian Angus. In einem bemerkenswerten Kapitel seines Buchs Facing the Anthropocene[11] gibt es ein Kapitel mit dem Titel Wir sitzen nicht alle im selben Boot (engl. Original: We Are Not All in This Together). Darin spricht Angus Ungleichheiten durch die Ausbeutung in der Klassengesellschaft und im imperialistischen internationalen System, durch Rassismus und andere Exklusionen an, die die sich vertiefende Krise des Anthropozäns auszeichnen. Angus nennt diese Ungleichheiten, die schlimmer sind als alles, was wir bislang gesehen haben, beim Namen.

Die Wahrheit ist, dass die Umweltprobleme und die wachsenden Katastrophen, denen sich die Menschheit ausgesetzt sieht, letztlich auf ökonomische und ökologischen Ungerechtigkeiten und auf eine Gesellschaft zurückzuführen sind, in der die Kapitalakkumulation wichtiger ist als die Menschen oder die Natur.

Daher werden wir zunehmend die Entstehung eines Umweltproletariats beobachten können. Die arbeitende Klasse, die Mehrheit der Menschen, erfährt durch die Zerstörung der materiellen Lebensbedingungen und die Notwendigkeit, ihr kollektiv zu begegnen, zunehmend die Gemeinamkeit ihrer Interessen. Z.B. wird sich der Unterschied zwischen den Arbeits- und Lebensbedingungen nach und nach auflösen und die Lohnabhängigen in eine ähnliche Lage bringen wie zu Beginn der Industriellen Revolution, als der Klassenkampf sowohl um die Arbeitsbedingungen in den Fabriken als auch um die ökologischen Lebensbedingungen in den Städten geführt worden ist. Die Wahrscheinlichkeit für eine solche Entwicklung ist groß und ich würde argumentieren, dass diese Prozesse bereits eingesetzt haben – zuerst im globalen Süden und erst dann im Norden.

In Ihrem neuen Buch beanspruchen Sie für sich, eine Tradition des Marxismus fortzuführen, deren Repräsentanten sich immer der Kritik ökologischer Zerstörungen verschrieben hätten. Sie schreiben außerdem, dass es zahlreiche marxistische Wissenschaftler gegeben habe, die sich schon vor der Entstehung der neuen sozialen Bewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dieser Probleme angenommen hätten. Dennoch seien diese Vertreter des Marxismus von ihren Gegnern übergangen worden, die den Marxismus wegen seines mutmaßlichen anti-ökologischen Ressentiments angegriffen haben. Was macht diese Tradition aus? Wer gehört ihr an, was macht sie „ökologisch“ und warum wurde sie weitgehend ignoriert?

JBF: Die Geschichte der Beziehung zwischen der sozialistischen Bewegung und dem radikalen Materialismus einerseits und der Ökologie andererseits ist kaum bekannt. Der entscheidende Grund dafür ist, dass die Ökologie als Wissenschaft eher ein Produkt der Natur- als der Sozial-, Geistes- oder Kulturwissenschaften ist. Als der Marxismus im Westen in den 1960er-Jahren wiederbelebt wurde, unterschied er sich wie schon die philosophischen Traditionen zuvor, die in den 1920ern entstanden und als so genannter Westlicher Marxismus bekannt wurden, vom klassischen Marxismus dadurch, dass sie die Naturwissenschaften und damit die Natur aus dem marxistischen Denken weitgehend ausschlossen. Als die Ökologie in den 1960er- und 1970er-Jahren und Begriffe wie „Ökosystem“ oder „Biosphäre“ in den allgemeinen Sprachgebrauch übergingen, hatten die Sozialisten in dieser Zeit überwiegend keine Kenntnis von der Rolle der Sozialisten beziehungsweise materialistischen Wissenschaftler, die besonders in Großbritannien und in der Sowjetunion eine Rolle bei der Entwicklung dieser Konzepte gespielt hatten.

Britische – marxistische wie sozialdemokratische – und russische Wissenschaftler entwickelten zwischen 1880 und den 1940er-Jahren beziehungsweise in den 1920er-Jahren und im geringen Umfang auch noch danach unsere bedeutendsten ökologischen Konzepte: Bionomie, Ökosystem, Biosphäre, Anthropozän (A.P. Pavlov führte den Begriff in den 1920er-Jahren ein[12]), Geobiozinöse, Humanökologie, Genzentrum (die Quellen des globalen Genmaterials), die Haldane-Oparin-Hypothese zur Entstehung des Lebens auf der Erde – um nur einige der intellektuellen Entdeckungen zu nennen.

Im englischsprachigen Teil der Welt wären in diesem Zusammenhang Naturwissenschaftler und Wissenschaftsautoren wie Ray Lankester, Arthur Tansley, H.G. Wells, Joseph Needham, J.D. Bernal, J.B.S. Haldane und C.H. Waddington zu nennen. Zu den Sozialwissenschaftlern, Philosophen, Altphilologen und Künstlern zählen Größen wie Florence Kelley, William Morris, Benjamin Farrington, Christopher Caudwell, George Thompson und V. Gordon Childe. Gemeinsam haben diese und andere Theoretiker zu einer Revolution im Denken beigetragen, durch die der ökologische Materialismus entstanden ist, der tief im historischen Materialismus, der Dialektik und in sozialistischen Ideen verankert ist.

Auf den ersten Blick wirkt es so, als sei Ihr Buch im Vergleich zu Ihren früheren Publikationen, insbesondere zu Was jeder Umweltschützer über den Kapitalismus wissen muss[13] eher an wissenschaftlich-akademischen Debatten orientiert. Was sind die politischen Implikationen von Marx and the Earth? Welchen Gebrauchswert hat es für politische Aktivisten und andere, die sich für die Lösung ökologischer Probleme interessieren?

JBF: Was jeder Umweltschützer über den Kapitalismus wissen muss ist in erster Linie ein Bewegungsbuch, mit dem mein Koautor Fred Magdoff und ich erklärt haben, warum der Kapitalismus bekämpft werden muss, wenn wir die ökologische Krise meistern wollen.

Marx and the Earth ist anders angelegt. Das Buch richtet sich an eine theoretisch interessierte Leserschaft, ist deswegen aber keineswegs unbedeutend für Debatten in der Bewegung. Historisch gesehen ist die Entwicklung von Theorie im Marxismus immer sehr ernst genommen worden. Ohne sie ist eine revolutionäre Praxis unmöglich. Im Manifest der Kommunistischen Partei schreiben Marx und Engels, dass es nötig sei, „in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung“ zu vertreten. Um in den Kämpfen die Kapitalismuskritik zu bestimmen, wie sie von der Marxschen Ökologie und vom Ökosozialismus verkörpert wird, ist es daher unerlässlich, Theorie soweit wie möglich richtig voranzutreiben. Unsere Praxis, die Klarheit unserer Vorstellungen, unser Fortschritt hängen davon ab.

Die Forschungsergebnisse der zweiten Generation von Ökosozialisten haben nicht nur die Interpretationen der ersten Generation und verwandte linke Konzepte widerlegt, sondern auch unsere Kapitalismuskritik und unser Verständnis von neuen Ansatzpunkten für eine revolutionäre ökosozialistische Politik erweitert. Aber die wahre Bedeutung unserer Arbeit, wie die aller theoretischen Entwicklungen, wird sich erst in der Praxis erweisen.

Schließlich hat unsere Antikritik – trotz unserer notwendigen Exkurse auf verschiedene Gebiete, die scheinbar von der unmittelbaren Praxis weit entfernt sind – eine konkrete Basis: Wir schlagen den Bogen von Marx’ „Riß“ im Stoffwechsel zwischen Gesellschaft und Natur zu seiner Forderung, den Stoffwechsel wieder herzustellen und eine nachhaltige Gesellschaft zu schaffen. Dieser Zusammenhang ist die Grundlage des ökologischen Klassenkampfs unserer Zeit. Diese Wiederherstellung des Stoffwechselprozesses kann nur gegen das Kapital und von einer Bewegung für den Sozialismus erkämpft werden.

[1] John Bellamy Foster und Paul Burkett, Marx and the Earth. An Anti-Critique. Brill, Leiden/Boston 2016, 316 S., 115 Euro.

[2] Rosa Luxemburg, Stillstand und Fortschritt im Marxismus, in: dies., Gesammelte Werke Bd. I/2, Berlin 1970, S. 368.

[3] Serge[j] Podolinsky, Menschliche Arbeit und Einheit der Kraft, in: Die Neue Zeit, 1. Jhrg., 1883, Bd. 1, S. 413-424, und S. 449-457.

[4] Engels an Marx in Ventnor, 19. Dezember 1881, in: MEW 35, S. 134.

[5] Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, S. 784.

[6] Ebd., S. 828.

[7] Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie [Ökonomisches Manuskript 1861-1863, Teil I], in: MEW 43, S. 59.

[8] Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, a.a.O., S. 821.

[9] Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 753.

[10] Michail Iwanowitsch Budyko (1920-2001), Klimatologe, Geophysiker und Geograph, Leningrad/Sankt Petersburg. Vgl. z.B. M. I. Budyko, G. S. Golitsyn und Y. A. Izrael, Global Climatic Catastrophes, New York 1988.

[11] Ian Angus, Facing the Anthropocene: Fossil Capitalism and the Crisis of the Earth System, New York 2016.

[12] Aleksei Petrovich Pavlov (1854-1929), Professor für Geologie an der Universität Moskau, bezeichnete 1922 die Gegenwart als eine „anthropogene“ Periode und verwandte in diesem Zusammenhang den Begriff „Anthropozän“. Vgl. A. P. Pavlow, Epoques glaciaires et interglaciaires de l’Europe et leur rapport à l’histoire de l’homme fossile, in: Bulletin de la Société des Naturalistes de Moscou, Nouv. Série, Tome XXXI, 1922. (Für den Hinweis ist Iraida A. Staroduptseva, Moskau, Staatliches W. I. Vernadsky-Museum für Geologie, zu danken.)

[13] John Bellamy Foster/Fred Magdoff, Was jeder Umweltschützer über den Kapitalismus wissen muss, Hamburg 2012.