Marx-Engels-Forschung

Struktur, Handlung, Herrschaft

Zur Diskussion über Herrschaftsverhältnisse in der Kritik der politischen Öko-nomie

von John Lütten
Dezember 2015

JIm Zuge jüngerer Debatten um die Marxsche Ökonomiekritik bleibt auch die Frage der Herrschaftsverhältnisse nicht unumstritten. Mehrere Strömungen und Interpretationsansätze bemühen sich dabei um scharfe Abgrenzung von einem u.a. als ,traditionell‘ aus der Mode gekommenen ,Arbeiterbewegungs-‘ oder ,Klassenkampfmarxismus‘, der den Klassenkonflikt als einen Zentralbegriff der Marxschen Kritik versteht und das Ausbeutungsverhältnis von Bourgeoisie und Proletariat zum Ausgangspunkt politischer Intervention macht. Stattdessen wird die ,Anonymität‘ oder ,Subjektlosigkeit‘ bürgerlicher Herrschaftsverhältnisse betont und die Kritik mystifizierter Vorstellungen über den gesellschaftlichen Zusammenhang ins Zentrum gerückt.

Denn der vor allem am Klassenkampf orientierte Marxismus, so der Vorwurf, reduziere Herrschaftsverhältnisse letztlich auf die verschleierte, personale Herrschaft einer herrschenden Klasse und mache Konflikte um Arbeits- und Produktionsverhältnisse auf unzulässige Art und Weise zum Ausgangspunkt für Gesellschaftskritik und eine politische Praxis, die sich in der Konsequenz bloß auf das Schaffen von Klassenbewusstsein und politische Organisation beschränke. Damit würden jedoch die spezifischen Bedingungen bürgerlicher Vergesellschaftung verkannt: Zentral sei weniger das Klassenverhältnis von Produktionsmittelbesitzern und Lohnabhängigen, sondern der Umstand, dass diese sich als freie und gleiche Eigentümer ihrer Waren auf einem von unmittelbaren Herrschaftsverhältnissen befreiten Markt gegenüber treten. Aus diesen Tausch wiederum würden ökonomische Verkehrsformen – Wert, Geld, Kapital, Mehrwert etc. – hervor gehen, die sich gegenüber den Akteuren dergestalt verselbständigen würden, dass vielmehr von der Herrschaft des Strukturzusammenhanges über das Handeln der Menschen gesprochen werden müsse. Bürgerliche Herrschaftsverhältnisse seien daher insofern „subjektlos“ (Kurz), „anonym“ (Elbe) oder „unpersönlich“ (Heinrich), als diese Verselbständigung nicht auf den Willen oder das Interesse einzelner Akteure zurückgehe, sondern sich hinter deren Rücken vollziehe. Einzelne für die Konsequenzen dieser Systematik verantwortlich zu machen sei daher eine ,Personalisierung‘ gesellschaftlicher Verhältnisse, sprich eine unzulässige Komplexitätsreduktion. Als Personifikationen ökonomischer Kategorien seien schließlich auch die ökonomisch Herrschenden zur Ausführung struktureller Imperative gezwungen.

Die Frage nach dem Zusammenhang von Struktur, Handlung und Herrschaft tangiert antikapitalistische Politik wesentlich, und für die politische Arbeit hat Konfusion über den Stellenwert von Herrschaftsverhältnissen in der Ökonomie fatale Konsequenzen. So gibt es mittlerweile zahlreiche Stimmen, die Proteste etwa gegen den G7-Gipfel oder gegen die Austeritätspolitik der Europäischen Zentralbank unter Verweis auf deren angeblich ,verkürzte‘ und ,personalisierte‘ Kapitalismuskritik ablehnen. Statt nach einzelnen Verantwortlichen zu suchen, so der Tenor, solle Kapitalismus als ,abstraktes‘ und ,apersonales‘ Herrschaftssystem kritisiert werden. Unterstellt wird eine ökonomische Systematik, die sich offenbar weitgehend vom Handeln der Menschen entkoppelt hat. In der ,Antifa‘-Bewegung gehören derlei Prämissen längst zum Common Sense (Sommer/Witt-Stahl 2014), und auch in gewerkschaftliche Bildungsarbeit hält so ein Kapitalismusverständnis zusehends Einzug: Bei Bildungsseminaren zum Thema Antifaschismus etwa ist zu erfahren, dass die ,personalisierte‘ und am Handeln der einzelnen Kapitalisten ansetzende Kapitalismuskritik nicht nur falsch, sondern vor allem maßgeblicher Bestandteil einer rechten, ,regressiven‘ Kapitalismuskritik sei.

Thesenartig und auf Grundlage einer logisch-systematischen Lesart von Marx' Ökonomiekritik sollen hier einige Einwände gegen die populärsten solcher Annahmen formuliert werden. Mit Blick auf die Einheit von Struktur und Handlung wird erst diskutiert, was mit der ,Verselbständigung‘ ökonomischer Formen gemeint ist (1.); zweitens wird die Bedeutung des Klassenverhältnisses für die Konstitution ökonomischer Verkehrsformen herausgestellt (2.) und argumentiert, dass dieses ein Herrschaftsverhältnis beinhaltet, welches von seiner politischen Form mystifiziert wird (3.). Schließlich wird das Verhältnis von Personifikation, Trägerschaft und individuellem Willen diskutiert (4.). Es wird dabei nicht darum gehen, den Nachweis einer bewussten Steuerung der Gesellschaft durch die Bourgeoisie zu erbringen. Vielmehr soll dort eingehakt werden, wo das Verhältnis von Struktur und Handlung ungenau gefasst und der zentrale Stellenwert des Klassenverhältnisses verkannt werden.

1. Einheit von Struktur und Handlung

Verschiedentlich wird die These vertreten, Marx zeige in den ersten vier Kapiteln des Kapital, dass sich ökonomische Verkehrsformen dergestalt gegenüber dem Handeln der Menschen verselbständigten, dass von einer eben ,apersonalen‘ usw. Herrschaft ökonomischer Strukturen gesprochen werden müsse. Es kommt aber darauf an, was mit ,Verselbständigung‘ gemeint ist.

Marx’ Kritik der politischen Ökonomie beansprucht, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“ (Kapital, 15f.). Sie untersucht die ökonomischen Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft, stellt ihre inneren Widersprüche dar und kritisiert sie somit, und sie unterzieht die klassische Nationalökonomie einer entsprechenden Kritik. Zugleich legt sie damit den für die bürgerliche Gesellschaft spezifischen Zusammenhang von Struktur und Handlung dar, indem sie in der Rücknahme mehrerer Abstraktionsstufen darlegt, wie die Menschen unbewusst im bewusst vollzogenen Warentausch Verkehrsformen hervor bringen, die ihnen als apriori gegebene erscheinen. Sie zeigt damit nicht nur, dass es die Menschen sind, die ihren gesellschaftlichen Zusammenhang produzieren, sondern auch, wie sie dies tun und warum ihnen dieser Zusammenhang als verselbständigter gegenübertritt (Wolf 2002).

Am Beispiel der Ware-Geld-Beziehung lässt sich das grob nachvollziehen. So sind es zu jedem Zeitpunkt die Menschen selbst, die die Strukturen ihres gesellschaftlichen Zusammenhanges produzieren, indem sie die Produkte ihrer privat und unabhängig von einander verrichteten Arbeit miteinander gleichsetzen. Sie bringen so den Wert hervor und mit ihm schließlich die Geldform bzw. das Geld als allgemeines Äquivalent. Da mit der Geldform auch die Wertbeziehung eine der Ware scheinbar äußerliche wird, erscheinen den Menschen die von ihnen selbst produzierten Strukturen als ihrem Handeln entzogene, apriori gegebene. Sie handeln zwar zu jedem Zeitpunkt intentional, wenn sie ihre Produkte auf dem Markt miteinander in Beziehung setzen; dass sie damit strukturelle Notwendigkeiten schaffen, aus denen die genannten Strukturen hervor gehen, entzieht sich hingegen dem alltäglichen Verständnis. Man muss nicht begriffen haben, was etwa Geld ist, um es gebrauchen, wollen oder horten zu können. Ihr eigener gesellschaftlicher Zusammenhang erscheint den Menschen als Bewegung von Sachen, auf die sie keinen Einfluss haben – die ökonomischen Strukturen samt ihrer Imperative scheinen nicht das Produkt der Menschen zu sein, sondern anonym zu herrschen.

Inwieweit lässt sich nun also von einer ,Verselbständigung‘ ökonomischer Verkehrsformen sprechen? Tatsächlich zeigen die ersten Kapitel des Kapital, dass die ökonomischen Verkehrsformen aus dem Handeln der Menschen ähnlich den klassisch soziologischen ,nicht intendierten Handlungsfolgen kollektiven Handelns‘ hervor gehen. Die Entstehung von Wert oder Geld geht nicht auf die Entscheidung eines Souveräns oder das Interesse konkreter Akteure zurück – sie entstehen notwendig aus dem Warentausch. Insofern ist es richtig, von einer Verselbständigung im Sinne logischer bzw. struktureller Notwendigkeit zu sprechen, die sich aus dem Tausch ergibt: Die Konstitution ökonomischer Formen beinhaltet ,selbständige‘ und ,subjektlose‘ Momente, die nicht aus dem Willen der handelnden Menschen hervor gehen. Doch von einer Verselbständigung der ökonomischen Formen selbst kann hier nicht gesprochen werden, insofern ihre Konstitution wie auch Bewegung zu jedem Zeitpunkt an das Handeln der Akteure gebunden bleiben. Marx abstrahiert zwar stellenweise vom Handeln der Menschen bzw. der Warenbesitzer – er führt sie erst im zweiten Kapitel des Kapital in die Darstellung ein –, doch es bleiben zu jedem Zeitpunkt die handelnden Menschen, die den gesellschaftlichen Zusammenhang produzieren und aufrecht erhalten.

Von jenen, die in den ersten vier Kapiteln des Kapital einen Beleg für die Verselbständigung des ökonomischen Strukturzusammenhanges sehen, wird diese Unterscheidung nicht getroffen. Von der Feststellung ,verselbständigter‘ und unbewusster Momente in der Konstitution ökonomischer Verkehrsformen wird direkt auf die Verselbständigung der Verkehrsformen selbst geschlossen. Der Rede von der ,subjektlosen‘ etc. Herrschaft ökonomischer Strukturen liegt dann die implizite Annahme einer Auflösung der Einheit von Struktur und Handlung zu Grunde. Nur so lässt sich nämlich von der ,Herrschaft‘ eines ,verselbständigten‘ Strukturzusammenhanges sprechen.

2. Klassen- und Kapitalverhältnis

Marx macht deutlich, dass die „Selbstverwertung des Werts“ nur im Verhältnis von Kapital und Arbeit besteht: „Der Konsumtionsprozess der Arbeitskraft“, schreibt er, sei „zugleich der Produktionsprozess von Ware und von Mehrwert“ (Kapital, 189). Kapital ist keine positivistisch fixierbare und fest vorliegende Entität, sondern ein soziales Verhältnis zwischen Geld und Arbeitskraft, das nur in actu existiert, und als dessen soziale Träger sich Kapitalisten und Arbeiter gegenübertreten. Von einer ,subjektlosen‘ Herrschaft ökonomischer Strukturen kann indes nur die Rede sein, wenn dieser Zusammenhang von Klassen- und Kapitalverhältnis zum Kapitalverhältnis hin aufgelöst wird.

Wird das Klassenverhältnis theoretisch unter ein als eigenständiges und vom Klassenverhältnis gelöst unterstelltes Kapitalverhältnis subsumiert, kommen auch Klassenkonflikte und das Handeln der Akteure bloß in ihrer das Kapitalverhältnis reproduzierenden Funktion in Betracht. Gesellschaftliche Strukturen erscheinen dann als dem Handeln der Akteure entzogene, Klassenkonflikte sinken hinab zur ausschließlich funktionalen Binnenkategorie eines übermächtig erscheinenden Kapitalverhältnisses. Dass die von Menschen produzierten Strukturen dann als sie anonym beherrschende erscheinen müssen, ist nicht verwunderlich. Eine solche strukturfetischistische Position versteht denn auch den Marxschen Begriff des automatischen Subjekts nicht mehr auch als kritische Beschreibung eines von Menschen produzierten Zusammenhanges, der, fetischistisch mystifiziert, eine scheinbar eigengesetzliche und verselbständigte Bewegung vollzieht. Vielmehr nimmt sie den Schein für bare Münze und hält das ,automatische Subjekt‘ ausschließlich für eine eigenständige Struktur, welche Kapitalisten und Arbeiter gleichermaßen setzt, beherrscht und zum Handeln zwingt (vgl. Sommer/Wolf 2008: 55–85).

Am konsequentesten ist diese Position von Robert Kurz vertreten worden. Das von Geld- und Arbeitskraftbesitzern eingegangene Tauschverhältnis gilt ihm als „bloße Erscheinungsform“ des „subjektlosen Fetischs“ „an“ den handelnden Subjekten. Ihr Verhältnis sei nicht das „Wesen der Sache“, denn sie würden nur einen „überindividuellen, subjektlosen Zweck“ an sich selbst vollziehen, nämlich die „Selbstbewegung (Verwertung) des Geldes“. Werde dies nicht begriffen, drücke sich die Argumentation „um das Fetischproblem herum“ und müsse das versachlichte Verhältnis der Menschen letztlich immer „in eine subjektive Veranstaltung“ auflösen. Die Konsequenz: „Der Begriff des ‚automatischen Subjekts’ (Marx), die eigentlich subjektlose Ebene des fetischistischen Verhältnisses, wird so grundsätzlich verfehlt.“ (Kurz 1993) Kurz macht den Fetischismus bürgerlicher Verhältnisse zum zentralen Ausgangspunkt für die Frage nach Struktur, Handlung und Herrschaft. Den „gemeinen Marxismus“ kritisiert er darum wie folgt:

„[F]ür den gemeinen Marxismus ist die Selbstbewegung des Geldes, die Verwertung des Werts, gerade jener Schein, der auf die Zwecke, den Willen, das subjektive Handeln der Menschen zurückzuführen und also in (‚falsche’, herrschaftliche) Subjektivität aufzulösen ist. Eine radikale, konsequente Fetischismuskritik müsste dagegen genau umgekehrt die empirische Subjektivität selber als den Schein denunzieren, d.h. die Zwecke, den Willen und das subjektive Handeln der warenproduzierenden Menschen in ihre wahre Subjektlosigkeit als bloße Exekution einer allen Subjekten vorausgesetzten Fetischform auflösen. Nicht etwa, um sich dem ‚automatischen Subjekt’ zu unterwerfen, sondern im Gegenteil, um es als solches angreifen und überwinden zu können.“ (Ebd.)

Der Fetischbegriff gilt Kurz als Zentralbegriff der Gesellschaftskritik, weil er für ihn den Schlüssel zum Verständnis einer den Menschen vermeintlich äußerlichen Gesellschaftlichkeit überhaupt darstellt. Dabei geht er so weit, Geschichte nicht mehr als Geschichte von Klassenkämpfen, sondern als „Geschichte von Fetischverhältnissen“ bestimmen zu wollen. Klassenkonflikte sinken so zur reinen „Binnenkategorie von etwas Übergeordnetem“ herab: „Die Klassenkämpfe (und andere Formen sozialer Auseinandersetzung) verschwinden dadurch natürlich nicht, aber sie werden herabgesetzt zu einer Binnenkategorie von etwas Übergeordnetem, nämlich der subjektlosen Fetisch-Konstitution und ihren jeweiligen Codierungen bzw. Funktionsgesetzen.“ (Ebd.)

Kurz’ Mystifizierung des Kapitalverhältnisses gründet in der Annahme, dass sich das Kapital als voll entfaltetes „Weltverhältnis“ dergestalt vom Handeln der Menschen gelöst habe, dass ihr Tun nunmehr allein im Sinne der Reproduktion des Kapitalverhältnisses relevant sei. Er unterstellt, dass es einen Moment geben könne, bzw. schon gegeben habe, in dem sich das Kapitalverhältnis vom Klassenverhältnis entkoppelt und die ökonomische Form Kapital über das Verhältnis von Produktionsmittel- und Arbeitskraftbesitzern erhoben hat. Davon ausgehend stellt er das Verständnis der Konstitution des Kapitals radikal von den Füßen auf den Kopf: Es ist für Kurz nicht mehr das Handeln der Menschen, welches das Kapital konstituiert, sondern es ist das Kapital, welches das Handeln der Menschen konstituiert. Konsequent löst er deshalb alles Handeln in ein vom automatischen Subjekt diktiertes Determinationsverhältnis auf und übt Kritik an vermeintlich subjektivistischen Herrschaftstheorien, die das Herrschaftsverhältnis von Kapitalist und Arbeiter mit individuellem Willen, konkreten Interessen oder Entscheidungen in Verbindung bringen. Dabei überdehnt er auch den Begriff der Charaktermaske bzw. der Personifikation ökonomischer Kategorien: Während Marx damit eine Formbestimmung des Handelns meint, die wirksam wird, sobald die Menschen Teil des ökonomischen Geschehens werden – der Geldbesitzer aus freien Stücken, der Arbeiter, weil er muss –, versteht Kurz das gesamte individuelle Handeln als von strukturellen Zwängen determiniertes; nicht nur das ökonomisch bestimmte Handeln, sondern das ganze Subjekt geht bei ihm also in der Diktion der Charaktermaske auf. Da es folgerichtig kein Außerhalb des Kapitalverhältnisses mehr geben kann, sinkt nicht nur der Klassenkampf zur rein funktional bestimmten „Binnenkategorie von etwas Übergeordnetem“ herab, sondern auch die vollends als vom Kapital produziert verstandene Subjektivität der Menschen kann kein Bezugspunkt für politische Intervention sein. Dass bürgerliche Herrschaftsverhältnisse dann nur noch als ,subjektlose‘ Herrschaft ökonomischer Formen erscheinen können, nimmt nicht wunder.

3. Form und Inhalt des Klassenverhältnisses

Bis hierhin ist das Klassenverhältnis nur seiner Form nach betrachtet worden. Als solches ist es ein Tauschverhältnis von freien Warenbesitzern, zwischen denen keinerlei Herrschaftsbeziehung vorliegt. Es beruht jedoch auf einem Verhältnis der Klassenherrschaft, das von seiner politischen Form verschleiert wird; es bleibt verborgen, wenn die egalitäre Form vom herrschaftsförmigen Inhalt getrennt wird.

Dass die Mehrwertproduktion eines innerbetrieblichen Herrschaftsverhältnisses bedarf, der ,anonyme‘ Zwang zur Verwertung des Werts also auf ein Herrschaftsverhältnis konkreter Personen angewiesen ist, ist klar. Hier soll es um den Umschlag im Aneignungsgesetz gehen, den Marx im Kapital darstellt (vgl. Kapital, 609) und in dessen Folge das Tauschverhältnis von Kapitalist und Arbeiter in einem anderen Licht erscheint: „Das Verhältnis des Austausches zwischen Kapitalist und Arbeiter wird also nur ein dem Zirkulationsprozess angehöriger Schein, bloße Form, die dem Inhalt selbst fremd ist und ihn nur mystifiziert. Der beständige Kauf und Verkauf der Arbeitskraft ist die Form. Der Inhalt ist, dass der Kapitalist einen Teil der bereits vergegenständlichten fremden Arbeit, die er unaufhörlich ohne Äquivalent aneignet, stets wieder gegen größeres Quantum lebendiger fremder Arbeit umsetzt.“ (Kapital, 609)

Mit der entwickelten Darstellung des Produktionsprozesses „zerrinnt der Schein des bloßen Verhältnisses von Warenbesitzern“, schreibt Marx (Resultate, 87). Der frei vollzogene Kauf und Verkauf von Arbeitskraft erscheint nur noch als „vermittelnde Form seiner [des Arbeiters, JL] Unterjochung unter das Kapital“. Was der Form nach ein Vertragsverhältnis von Warenbesitzern ist, offenbart ein Abhängigkeitsverhältnis, in dem die Lohnabhängigen ihre Abhängigkeit und die Herrschaft der Produktionsmittelbesitzer immerzu reproduzieren. Marx kritisiert die „Vulgärökonomie“, die das Klassenverhältnis bloß in der Zirkulationssphäre ansiedelt und mit der Produktionssphäre auch das ihr inhärente Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis ignoriert: „Um also zu beweisen, dass das Verhältnis zwischen Kapitalist und Arbeiter durchaus nichts als ein Verhältnis zwischen Warenbesitzern ist, die zu ihrem wechselseitigen Vorteil und durch einen freien Kontrakt Geld und Ware mit einander austauschen, genügt es den ersten Prozess [des Kaufs und Verkaufs des Arbeitsvermögens, JL] zu isolieren [von der Konsumtion der Ware Arbeitskraft, JL] und an seinem formellen Charakter festzuhalten. Dies einfache Kunststück ist keine Hexerei, aber es bildet den ganzen Weisheitsvorrat der Vulgärökonomie.“ (Resultate, 29)

Dass sich Arbeiter und Kapitalist jenseits ihres Herrschaftsverhältnisses als freie Warentauschende gegenüber treten, gilt ihm nur der Form nach als von vorigen, „mehr direkteren Formen der Knechtung der Arbeit“ unterschieden. Das Geldverhältnis vertusche dieses Abhängigkeitsverhältnis: „Es ist dies eine dieser Produktionsweise immanente Form der Vermittlung, diese Verewigung des Verhältnisses des Kapitals als Käufers und des Arbeiters als Verkäufers von Arbeit; aber es ist eine Form, die sich nur der Form nach von andern mehr direkten Formen der Knechtung der Arbeit und des Eigentums an sie auf Seiten der Besitzer der Produktionsbedingungen unterscheidet. Sie vertuscht als blosses Geldverhältnis die wirkliche Transaktion und die perpetuierliche Abhängigkeit, die beständig erneuert wird, durch diese Vermittlung des Kaufs und Verkaufs.“ (Resultate, 87. Herv. u. Grammatik i. O.)

Es irre sich darum, schreibt Marx weiter, wer „in diesem oberflächlichen Verhältnis, in dieser wesentlichen Formalität, Schein des Kapitalverhältnisses, sein Wesen selbst“ finden wolle. Arbeiter und Kapitalist gleichermaßen unter das Verhältnis von Warenbesitzern zu subsumieren, hieße, ihr Verhältnis zu „apologisieren“ und „seine differentia specifica“ auszulöschen (Resultate, 88).

Damit ist nicht gemeint, dass der Arbeiter auf den Stand des Leibeigenen zurückfalle oder bürgerliche Freiheiten eine Einbildungseien – dieExistenz des juristisch freien Lohnarbeiters ist ja gerade eine notwendige Bedingung für die gesellschaftliche Durchsetzung des Kapitals (vgl. Kapital, 183). Doch so richtig es ist, dass bürgerliche Herrschaftsverhältnisse keine personalen sind, insofern politische und ökonomische Macht nicht unmittelbar im Willen eines Souveräns zusammenfallen, so wenig lässt sich damit der Nachweis erbringen, dass das Herrschaftsverhältnis von Kapitalist und Arbeiter nicht absolut zentral für die Verwertung des Werts sei. Vielmehr offenbart die hier eingeholte Stufe der Darstellung bürgerliche Herrschaftsverhältnisse wesentlich alsversachlichte und dinglich vermittelte Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Diese ist nicht nur Voraussetzung des gesellschaftlichen Zusammenhanges, sondern zugleich ein fortwährend neu produziertes Resultat. Als ,subjektlose‘ Herrschaft ökonomischer Verkehrsformen kann sie nur erscheinen, wenn die egalitäre, tauschvermittelte Form des Klassenverhältnisses gegenüber ihrem Inhalt hypostasiert wird. Man bewegt sich dann aber auf der Darstellungsebene der einfachen Warenzirkulation, die Marx im ersten Abschnitt des Kapital beschreibt und auf deren Grundlage nicht abschließend über Herrschaftsverhältnisse geurteilt werden kann (Hanloser/Reitter 2008).

4. Personifikation, Trägerschaft und Wille

Marx’ Hinweis auf Kapitalist und Arbeiter als „Charaktermasken“ und „Personifikationen ökonomischer Kategorien“ wird mitunter als Beleg für eine vom individuellen Willen unabhängige, ,subjektlose‘ usw. Herrschaft ökonomischer Strukturen interpretiert. Dabei werden der Stellenwert dieser Begriffe und das Verhältnis von Trägerschaft und individuellem Willen jedoch ungenau gefasst. In der Folge wird der Begriff der Personifikation gegen seine politischen und historischen Voraussetzungen ausgespielt.

Kapitalist ist der Geldbesitzer als „bewusster Träger“ der Verwertung des Werts, er ist „personifiziertes, mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital“ (Kapital, 167f.). Sein Tun und Lassen sind „nur Funktion des in ihm mit Willen und Bewusstsein begabten Kapitals“ (Kapital, 619) und er kommt als Person nur soweit in der Darstellung vor, wie er diese Funktion erfüllt. Marx macht ferner deutlich, dass – anders als in vorbürgerlichen Gesellschaften – der individuelle Konsum nicht der unmittelbare Zweck kapitalistischer Produktion ist: Der Kapitalist verzehrt den Mehrwert nicht selbst, sondern muss ihn zum größten Teil rekapitalisieren. Mit dem Schatzbildner teile er den „absoluten Bereicherungstrieb“, doch was bei ersterem als individuelle Manie erscheine, sei beim Kapitalisten „Wirkung des gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist“, nämlich der Konkurrenz (Kapital, 618).

Der Begriff der Personifikation benennt innerhalb der Marxschen Darstellung ein Verhältnis der Formbestimmung. Strukturelle Imperative beeinflussen das Handeln ab dem Zeitpunkt, zu dem der Einzelne in das ökonomische Geschehen eintritt und darin eine Funktion einnimmt, und es handelt sich dabei um ein fortwährendes, dauerndes Ineinandergreifen von individuellem Willen und Formbestimmung des Handelns. Die Personifikation benennt also das Übersetzen jener Imperative in das Handeln des Einzelnen und lässt sich mit dem Begriff der Trägerschaft genauer fassen: Dass der Kapitalist „bewusster Träger“ der Kapitalverwertung ist, drückt einerseits aus, dass er sich die Erfordernisse der Kapitalakkumulation – aus welchem Motiv heraus auch immer – zu eigen macht und sein Handeln in den Dienst der Verwertung des Werts stellt; der Hinweis, dass der Kapitalist ja ,nur‘ als Charaktermaske handele, drückt also lediglich aus, dass er als jemand handelt, der die Zwänge der Kapitalverwertung zu seinem subjektiven Zweck gemacht hat. Andererseits wird darin erneut deutlich, dass sich strukturelle Notwendigkeiten nur im Handeln eines konkreten Trägers verwirklichen. Das meint Marx, wenn er schreibt, das Kapital sei „wohl vom einzelnen Kapitalisten trennbar“, nicht aber „von dem Kapitalisten, der als solcher dem Arbeiter gegenübersteht“ (Grundrisse, 211, zit. n. Rosdolsky 1968: 251).

Insofern ist der u.a. von Michael Heinrich gebrachte Hinweis, dass sich das Kapitalverhältnis nicht auf ein Willensverhältnis reduzieren lasse, nicht falsch (vgl. Heinrich 2005: 89). Wird der persönliche Wille aber erst an der Stelle ins Spiel gebracht, an der die Positionen von Kapitalist und Arbeiter bereits eingenommen sind, droht der Hinweis auf systemische Zwänge auch das realpolitisch bewusst aufrecht erhaltene Klassenverhältnis völlig hinter dem Verweis auf die Formbestimmung des Handelns verschwinden zu lassen. Dass der Klassenantagonismus nicht nur ein Resultat, sondern auch eine willentlich aufrecht erhaltene Voraussetzung der Kapitalakkumulation ist, kann dann nicht mehr adäquat nachvollzogen werden, weil die Formbestimmung gegen ihre eigene Voraussetzung angeführt wird. Man ist demnach, zugespitzt ausgedrückt, offenbar aus Versehen oder gegen den eigenen Willen zum Ausbeuter und Besitzer von Produktionsmitteln geworden. In der Folge wird ein Kapitalist präsentiert, der wie der Arbeiter auch als Getriebener von strukturellen, seinem Zugriff entzogenen Zwängen erscheint. Dabei gerät der entscheidende Unterschied aus dem Blick: Die Rolle des Kapitalisten wird willentlich und immer aus freien Stücken eingenommen, zur Rolle der personifizierten Arbeitskraft ist der Großteil der Gesellschaft durch den Nichtbesitz an Produktionsmitteln verdammt. Kapitalist und Arbeiter haben daher auch nicht gleichermaßen an den Erfordernissen ihrer Charaktermasken zu leiden: „Überhaupt ist zu bemerken, daß da, wo Arbeiter und Kapitalist gleich leiden, der Arbeiter an seiner Existenz, der Kapitalist am Gewinn seines toten Mammons leidet.“ (Manuskripte, 473)

Um etwas Ähnliches scheint es auch den Autoren des Gegenstandpunkt (GSP) zu gehen, die auf den Willen des Kapitalisten zu Herrschaft und Ausbeutung verweisen und gegen Heinrich einwenden, dass kapitalistische Konkurrenz und ihre Intensivierung auf den Beschluss einzelner Kapitalisten zur Teilnahme am Wettbewerb zurückgingen (vgl. Gegenstandpunkt 2008, zit. n. Heinrich 2012: 28). Konsequent zu Ende gedacht, erwidert Heinrich, laufe dies auf eine Vorstellung von Gesellschaft hinaus, die Marx bereits in den Grundrissen kritisiert habe. Heinrich und die GSP-Autoren sprechen jedoch auf unterschiedlichen Ebenen über den individuellen Willen. Während Heinrich den in der ökonomischen Funktion bestimmten Willen vor Augen hat, geht es den GSP-Autoren um den Willen als Voraussetzung zur Einnahme ökonomischer Funktionen. Es geht ihnen also auch um den Willen desjenigen, der Kapitalist werden will. Heinrich hingegen hat allein den Willen innerhalb der Personifikation vor Augen – also den Willen desjenigen, der bereits Kapitalist ist und es bleiben will. Während der GSP also zu Recht auf die Voraussetzungen des gesellschaftlichen Zusammenhanges verweist, beharrt Heinrich auf der Formbestimmung des Handelns innerhalb der Personifikation, und er wirft den GSP-Autoren vor, dass ihnen der Wille des Kapitalisten „als etwas gilt, das ganz unabhängig vom gesellschaftlichen Mechanismus der Konkurrenz existiert“ (Heinrich 2012: 29). Damit führt er den Begriff der Personifikation aber gegen den Hinweis auf dessen realpolitische und bewusst aufrecht erhaltene Voraussetzungen ins Feld und überstrapaziert ihn. Den Verweis auf den Willen als Voraussetzung der Kapitalakkumulation rückt er daher in die Nähe eines voluntaristisch überdehnten Moralismus.

Schluss

Von einer ,subjektlosen‘ usw. ,Herrschaft‘ verselbständigter Strukturen über die Menschen lässt sich nur sprechen, wenn das Verhältnis von Struktur, Handlung und Herrschaft an wesentlichen Punkten ungenau gefasst wird: So wird von der Konstitution ökonomischer Verkehrsformen direkt auf deren Verselbständigung selbst geschlossen, die konstitutive Bedeutung des Klassenverhältnisses verkannt, das ihm zu Grunde liegende Verhältnis der Klassenherrschaft ausgeblendet und die Begriffe der Charaktermaske und der Personifikation werden so überdehnt, dass sie gegen ihre politischen Voraussetzungen angeführt werden. Die Kritik des als reduktionistisch verrufenen ,Arbeiterbewegungsmarxismus‘ schüttet so das sprichwörtliche Kind mit dem Bade aus.

Am mittlerweile populären Vorwurf der ,personalisierten‘ Kapitalismuskritik lässt sich das verdeutlichen. Dieser meint, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse nicht auf den Willen oder die persönliche Verantwortung einzelner Funktionsträger reduzieren lassen, jene also nicht voluntaristisch für ihre individuelle Gier oder schlechten Absichten kritisiert werden sollten. Passiert dies, wäre der Vorwurf berechtigt. Praktisch wird er mittlerweile jedoch immer dort gebracht, wo in irgendeiner Form auf konkretes Handeln Bezug genommen wird und Kapitalisten überhaupt als einflussreiche Funktionsträger der Kapitalakkumulation benannt werden. Ganz so, als seien Lohnabhängige und Unternehmer gleichermaßen für die Folgen und den Fortbestand kapitalistischer Wirtschaft verantwortlich, wird eine nebulöse und vom Handeln entkoppelte Systematik unterstellt, an der wir alle irgendwie gleichermaßen teilhaben. Und weil ein solches Kapitalismusverständnis keinerlei Hebelpunkte zur politischen Einflussnahme aufzeigen kann, müssen Ideologiekritik und die Kritik mystifizierter Denkformen notwendig als primäres oder gar alleiniges Anliegen linker Politik ausgegeben werden.

In ihrer vollends popularisierten Form sind die hier kritisierten Theoriefragmente anschlussfähig an postmoderne und neoliberale Ideologie, der zufolge nur noch Strukturen oder Denkformen herrschen und die Kritik an handelnden Akteuren per se als Komplexitätsreduktion gilt. Eine Vielzahl junger Linker nimmt genau das zum Anlass, jedwede antikapitalistische Politik praktisch einzustellen und die entsprechenden Proteste mit marxistisch klingendem Jargon über ihre angeblich ,verkürzte‘ oder ,personalisierte‘ Kapitalismuskritik zu behelligen. Wichtige Projekte – etwa der Widerstand gegen das europäische Austeritätsregime, gegen Freihandelsabkommen oder die Macht multinationaler Unternehmen – bleiben so auf der Strecke. Mehr noch: Der Kapitalismus wird mit Marx gegen seine Opfer verteidigt und die ohnehin schon schwache Linke wird weiter demontiert.

Literatur

Bischoff, Joachim (1973): Gesellschaftliche Arbeit als Systembegriff. Berlin (West).

Hanloser, Gerhard/Reitter, Karl (2008): Der bewegte Marx. Eine einführende Kritik des Zirkulationsmarxismus. Münster.

Heinrich, Michael (2005): Kritik der politischen Ökonomie (3. Aufl.) Stuttgart.

Heinrich, Michael (2012): Individuum, Personifikation und unpersönliche Herrschaft in Marx' Kritik der politischen Ökonomie, in: Elbe, Ingo/Ellmers, Sven/Eufinger, Jan (Hrsg.): Anonyme Herrschaft. Zur Struktur moderner Machtverhältnisse. Münster, S. 15–34.

Kurz, Robert (1993): Subjektlose Herrschaft. Zur Aufhebung einer verkürzten Gesellschaftskritik, in: Krisis, Nr. 13. Online: http://www.exit-online. org/text. anz1.php?tabelle=autoren&index=16&posnr=135&backtext1=text1.php

Marx, Karl (1966): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, in: MEW, Band 23 [Kapital]. Berlin.

Marx, Karl (1967): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [Grundrisse]. Frankfurt/Main.

Marx, Karl (1969): Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses [Resultate]. Frankfurt/Main.

Marx, Karl (1985): Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW, Band 40 [Manuskripte]. Berlin.

Rosdolsky, Roman (1968): Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ›Kapital‹, Bd. 2. Frankfurt/Main.

Seppmann, Werner (2011): System und Subjekt. Der lange Schatten des Objektivismus. Hamburg.

Sommer, Michael/Wolf, Dieter (2008): Imaginäre Bedeutungen und historische Schranken der Erkenntnis. Eine Kritik an Cornelius Castoriadis. Hamburg.

Sommer, Michael/Witt-Stahl, Susann (2014): »Antifa heißt Luftangriff!« Regression einer revolutionären Bewegung. Hamburg.

Wolf, Dieter (ohne Datum, a): Semantik, Struktur und Handlung im „Kapital“. Online: http://dieterwolf.net/pdf/Semantik_Struktur_und_Handlung_im_Kapital.pdf

Wolf, Dieter (ohne Datum, b): Abstraktionen in der ökonomisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit und in der diese Wirklichkeit darstellenden Kritik der politischen Ökonomie. Online: http://dieterwolf.net/pdf/Abstraktion.pdf[1]

Wolf, Dieter (2002): Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie. Hamburg.