Differenzierte und schonungslose Kritik

Über Anspruch und tatsächliche Wirkungen der Kulturpolitik der Nazis – Anmerkungen zu Jost Hermand

Dezember 2011

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Der deutsche Kulturhistoriker und Germanist Jost Hermand (geb. 1930), Professor an der Universität Wisconsin-Madison in den USA, lehrte nach seiner Emeritierung seit 2003 als Honorarprofessor an der Berliner Humboldt-Universität. Dem deutschen und dem internationalen Publikum wurde er schon früh als Ko-Autor der von dem deutschen Kunsthistoriker Richard Hamann (1879-1961) initiierten Reihe „Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus“ (1959-75) bekannt. Von deren fünf Bänden (Gründerzeit, Naturalismus, Impressionismus, Stilkunst um 1900 und Expressionismus), die im Akademie-Verlag der DDR erschienen, hat Hermand nach dem Tode Hamanns die letzten vier faktisch allein verfaßt. Sie wiesen den seit 1958 in den USA lebenden Wissenschaftler als profunden Kenner der deutschen Kunst- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts aus, und zwar der Literatur wie der bildenden Künste, und als einen so fähigen wie kritischen Analytiker ihrer Produktions- wie Wirkungszusammenhänge. Seither hat Hermand in vielen anspruchsvollen Büchern zur deutschen Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Literaturwissenschaft und zur deutschen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts Qualitätsmaßstäbe gesetzt, Maßstäbe für die Verbindung der ästhetischen Analyse eines Kunstwerks mit der Untersuchung seiner sozialgeschichtlichen Voraussetzungen, seiner Stellung und Funktion innerhalb der zeitgenössischen Kulturgeschichte und seiner Wirkungsgeschichte.

Die vorliegende Analyse über An­spruch und tatsächliche Wirkungen der Kulturpolitik der Nazis, über deren Gegner im Exil und die Autoren der so genannten inneren Emigration ist nicht seine erste Arbeit über diesen Gegenstand, vielmehr faßt sie seine Erkenntnisse prägnant zusammen. Den gesonderten Analysen der drei Teilbereiche unter dem Gesichtspunkt, welche Kulturansprüche von ihren jeweiligen Repräsentanten vertreten wurden, stellt Hermand die für das gesamte Buch zentrale Frage voran: „Warum wurden in dem Zeitraum von 1933 bis 1945 gerade die künst­lerisch anspruchsvollsten Formen der Kultur von allen gebildeten oder auch nur halbgebildeten Deutschen – ob nun den Hauptverantwortlichen unter den Nazifaschisten, den Vertretern der Inneren Emigration sowie den aus dem Dritten Reich Vertriebenen – noch als politisch bedeutsame Phänomene empfunden, um deren Besitz erbittert gerungen wurde? Eine derartige Wertschätzung der hohen und höchsten Manifestationen von Kultur ist vielen Menschen innerhalb der heutigen massenmedialen Freizeit- und Eventbetriebsamkeit kaum noch verständlich. Sie haben sich längst damit abgefunden, daß die verschiedenen Formen der sogenannten Hochkultur inzwischen gesellschaftliche Randphänomene geworden sind, die zwar weiterhin existieren, aber keine in das Gesamtbewußtsein einer Nation ‚eingreifende’ Funktion mehr haben. Unter ‚Kultur’ wird deshalb gegenwärtig weder eine Hochschätzung der Meisterwerke der älteren Kunst noch eine Auseinandersetzung mit den elitären Restformen der einstmals ‚avantgardistischen’ E-Künste verstanden. Im Zuge eines erweiterten Kulturbegriffs gilt heutzutage als ‚Kultur’ gerade alles, was die Menschen in ihrem täglichen Leben umgibt.“ (7)

Nicht die höheren oder ernsten Künste meinten neoliberale Kulturkritiker heute, wenn sie von „Kultur“ sprechen, sondern Unterhaltungskultur, Wohnkultur, Reisekultur, Freizeitkultur, Eßkultur oder Badezimmerkultur. Durch die verbreitete Konsumentenhaltung sei in der arbeitsfreien Zeit ein Sinnverlust eingetreten, eine Leere, die sich „nur noch schwer mit irgendwelchen gesamtgesellschaftlichen oder hochkulturellen Werten“ auffüllen lasse. Das Ablenkungs- und Zerstreuungsbedürfnis sei so weit verbreitet, daß „selbst den meisten Vertretern und Vertreterinnen der sog. gebildeten Schichten irgendwelche überindividuellen Zielvorstellungen – seien sie nun staatlicher, religiöser, parteigebundener oder auch kunstbetonter Art – (...) abhanden gekommen“ seien.

Dies war, so Hermand, in der Nazizeit noch anders. „Zumindest in den oberen Rängen der Gesellschaft“ wurde allerorten von „unverzichtbaren Kulturansprüchen geredet, als gehe es dabei um die höchsten weltanschaulichen Werte schlechthin.“ (8) Aber war, nachdem der „Einbruch der kommerzgesteuerten Massenmedien in den Kulturbereich“ bereits in der Weimarer Republik eingesetzt hatte, ein solcher politisch-ästhetischer Anspruch nicht längst eine bedeutungslose Phrase geworden? „Zwischen 1933 und 1945 wurde jedenfalls auf Seiten der meisten Nazifaschisten, der Inneren Emigration und des Exils noch mit derselben Vehemenz darum gerungen, wer auf diesem Gebiet den maßgeblichen Stellvertreteranspruch aufbieten konnte, die wahrhaft „große deutsche Kultur“ zu vertreten.

In der nazifaschistischen Propaganda tauchte kaum ein Schlagwort so häufig auf wie „Kultur“ – wenn wir einmal von „Volk“ und „Rasse“ absehen. Da war die Rede von „deutscher Kultur“, „nordischer Kultur“, „arischer Kultur“, „volkhafter Kultur“ oder „Kultur aus Blut und Boden“. Hinter solchen Beschwörungsformeln stand jedoch kein kohärentes Kulturkonzept. Vielmehr hinderte der hochgestochene An­spruch offizieller Nazipolitiker diese überhaupt nicht, mit dem Begriff „Kultur“ exzessiv Schindluder zu treiben und „selbst das Trivialste als ‚Kultur’ auszugeben, wenn es sich dazu gebrauchen ließ, den sogenannten breiten Massen ein falsches Bewußtsein einzutrichtern. Daher waren die Kulturvorstellungen der Nazifaschisten in ihrer Doppelbödigkeit wesentlich inkongruenter als die der Inneren Emigration und des Exil“. (12) Doch gerade die schichtenspezifische Aufspaltung, die den Bildungsbürgern wie den Angestellten und den Arbeitern jeweils das ihnen „Gemäße“ offerierte, erwies sich als einer jener Faktoren, der den Nazis zu bis heute beschämenden Erfolgen verhalf. „Ihre Gegner in der Inneren Emigration und im Exil – ohne Zugang zu den auf Breitenwirkung zielenden Massenmedien und daher zwangsläufig auf den Bereich der randständigen höheren Künste angewiesen – blieben dagegen relativ wirkungslos und konnten erst (...) nach dem ,Dritten Reich’ die nötige Anerkennung finden und damit eine politästhetische Wirkung entfalten.“ (12)

Hermand geht von den Feindbildern dieser Kulturpolitik aus, Kommunisten und Juden voran, gefolgt von „modernistischen“ Kunstrichtungen, und beschreibt anschließend ihre unmittelbar kurzfristigen wie die nebulösen langfristigen Zielvorstellungen, um deren Praxis in Architektur, Malerei und Skulptur, Musik, Literatur, Theater sowie Rundfunk, Film und Presse anhand der verfügbaren Zeugnisse im Detail zu untersuchen. Dabei stellt er eine äußerst erfolgreiche Dreifachstrategie heraus: erstens die verstärkte Förderung der traditionellen Hochkultur für die gebildete Oberklasse, zweitens die Förderung einer so genannten Durchschnittskultur für die mittleren Schichten und drittens eine weitgehende Duldung der für die Unterschichten gedachten massenmedialen Unterhaltungskultur. Es gab keine explizit durchformulierte Kulturpolitik, das wichtigste Nahziel der nazistischen Kulturpolitik war vielmehr Massenzustimmung und das hatte zwangsläufig Auswirkungen auf die Architektur und Künste. In der Musik war am verbreitetsten die Unterhaltungsmusik. In der Architektur standen repräsentative Gemeinschaftsbauten im Vordergrund, eine klassizistisch anmutende Steinbauweise sollte den Eindruck einer herrschaftsbetonten Monumentalität erwecken und wurde als „artgemäße Bauweise“ ausgegeben.

Gegenüber dem Nahziel der auf Massenzustimmung abzielenden Kulturpolitik blieben ideologische Fernziele der Kulturpolitik über einen bloßen Deutschheitskult hinaus verschwommene und aufgeladene Leerformeln, von den Leitbildern des Heldischen und der alten Germanen über Stammeskult, Erbhofgesinnung und Kinderreichtum zu Aufartungs­vorstellungen und Bauernkult bis hin zu Hitler als zentralem Leitbild. Besonders verschwommen war eine „arteigene Wesensschau“. Alle Versuche bestimmter Kreise der NSDAP, über die „Wiederauflebung der deutschen Kultur“ und ihre schichtenspezifische Praxis hinaus eine allgemein verbindliche deutsche Volkskultur als Zielstellung mit parteipolitischen Maßnahmen zu fördern oder durchzusetzen, blieben problematisch.

Hermands Analysen der Kulturpolitik in den einzelnen Genres zeugen von genauer und umfassender Materialkenntnis, sie bieten – manchmal verblüffende – Einsichten in die Wirkungsweise der Naziideologie, soweit deren Wirkung über Künste vermittelt wurde. Er legt dabei mehrere Trugschlüsse bloß, die der kritischen Verwunderung darüber, daß diese Ideologie überhaupt Massenwirkung erzielen konnte, häufig zugrunde liegen: „Frühere Kunst- und Kulturhistoriker haben sich lange Zeit immer wieder gefragt: Wie war es nur möglich, daß sich ein so hochkultiviertes Volk wie die Deutschen nach 1933 geradezu über Nacht von einer ‚halbgebildeten Terrorclique’ wie den Nazifaschisten willenlos ‚gleichschalten’ ließ und ihr unter größten persönlichen Opfern bis zur Katastrophe von 1945 eine zu allem bereite Gefolgschaft leistete?“ (154)

Hermand antwortet: „Erstens konnte sich die nazifaschistische Führungsriege bereits auf eine beachtliche Reihe nationalkonservativer bzw. völkisch gesinnter Weltanschauungskomplexe stützen, deren ideologische Ahnenkette bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreichte. Zweitens hat es das Volk ‚der Deutschen’ nie gegeben, sondern stets nur eine in verschiedene Klassen gespaltene deutsche Bevölkerung, die sich auch nach dem 30. Januar 1933 nicht ohne weiteres zu einer homogenen ,Volksgemeinschaft’ zusammenschloß. Und drittens herrschten in den verschiedenen Schichten dieser Bevölkerung aufgrund höchst disparater Bildungsvoraussetzungen recht unterschiedliche Kunst- und Kulturerwartungen, auf welche die hierfür Verantwortlichen innerhalb der NSDAP durchaus Rücksicht nahmen, indem sie jeder Schicht das ihnen Gemäße zu offerieren suchten.“ (154)

Zu Beginn der Naziherrschaft verfügten etwa vier bis fünf Prozent der deutschen Bevölkerung über eine höhere Bildung, die Zahl der Studierten lag noch darunter. Die staatliche finanzielle Förderung der in der Weimarer Republik angeblich depravierten Künste wurde in den folgenden Jahren erhöht, vor allem für Theater, Opernhäuser und Symphonieorchester. Diese Förderung der traditionellen Hochkultur zielte auf die gebildeten Oberschichten, das so genannte Bildungsbürgertum, und fand bei ihnen weitgehende Akzeptanz, nicht zuletzt auch, weil sich die Verfemung moderner Kunst mit deren verbreiteter Ablehnung durch diese Adressaten traf. Die Schichten der älteren Bildungsbourgeoisie hatten „schon vor 1933 alles ‚Modernistische’ weitgehend abgelehnt und waren nicht erst durch den Nazifaschismus gezwungen worden, alle expressionistischen, futuristischen, kubistischen, dadaistischen, veristisch-gesellschaftskritischen oder kommunistischen Kunstwerke als ‚entartet’ abzulehnen“. Sie begrüßten „mehrheitlich die entschiedene Frontstellung, welche auch die Nazifaschisten gegen diese Art von Kunst bezogen“ (175).

Die Kulturbedürfnisse der einzelnen Schichten waren nicht nur unterschiedlich, sondern standen einander fremd oder auch feindlich gegenüber. Die in der Weimarer Republik zur herrschenden Kulturform aufgestiegene kommerzielle U-Kunst wurde ebenso gefördert wie die so genannte hohe Kunst. Der schöne Schein der Kultur- und Freizeitprogramme verdeckte die Wirklichkeit des Terrors, die auf vollen Touren laufende Freizeitindustrie bot der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung die „Wonnen der Gewöhnlichkeit“. Kurzum, Hermand zeichnet ein Erfolgsbild jener Dreifachstrategie: „Mit ihren realpolitischen Taktiken und ideologischen Überredungskünsten“ waren die Nazifaschisten bis zur letzten Minute erfolgreich (174).

Welche Kunstwerke von innerhalb Nazideutschlands lebenden und schaffenden Künstlern können als Werke einer „Inneren Emigration“ gewertet werden? Weder jene des weitverbreiteten Klassikerkults noch jene der ins Triviale tendierenden Unterhaltungskultur. Aber auch nicht alles, was in einem oberflächlichen Sinne als nichtfaschistische Kunst charakterisiert wird. Die Kultur der Inneren Emigration wurde von professionellen Künstlern geschaffen, die Vertreter der herkömmlichen Bildungsbourgeoisie waren. Sie verstanden sich als anspruchsvolle Künstler, denen es um die hintergründige Wirkungsabsicht ging, hinter dem schönen Schein des Regimes nicht die terroristische Repression und die Fernziele aus dem Auge zu verlieren. Sie konnten dies nur auf eine symbolische andeutende oder kryptisch verschlüsselte Weise tun. Ihre Wirkungsabsicht setzte ein Kunstverständnis voraus, wie es nur bei einer äußerst dünnen Schicht der Bildungsbourgeoisie vorhanden war. Eine größere Wirkung war so von vornherein ausgeschlossen.

Unter den Künstlern der Inneren Emigration war eine Anzahl höchst achtenswerter Künstler, die auf alle äußeren Erfolge und Aufstiegsmöglichkeiten verzichteten und es vorzogen, selbst unter Gefahr ihres Lebens „lieber eine Kunst zu schaffen, mit der sie sich nicht an den Verbrechen des herrschenden Regimes mitschuldig machten wollten“ (179). Von ihnen analysiert Hermand Werke der Literatur, Malerei und Skulptur und der Musik. Er ist der Meinung, daß es die Schriftsteller der Inneren Emigration wegen der sorgfältigen Vorzensur der Nazis am schwersten hatten. Damit wurden in den zur Veröffentlichung bestimmten Texten geheime Botschaften so sorgfältig verschlüsselt, daß sie selbst von politisch interessierten Zeitgenossen kaum wahrgenommen wurden. Hermand differenziert sechs verschiedene Richtungen, von denen allein vier sich religiöser Motive bedienten. Sofern sie vor 1933 nicht als Sozialkritiker aufgetreten waren, sondern sich jeder politischen Äußerung enthalten hatten, wurden sie von Nazis nicht als ‚widerständig’ empfunden. Tolerant verhielten sie sich auch gegen­über dem sehr umworbenen Ernst Jünger, der seine Kritik an bestimmten Maßnahmen in die Form einer ästhetizistischen Distanzierung kleidete. Hermands Kommentar zu den Bestrebungen, Jünger mit einem Persilschein der Inneren Emigration versehen zu wollen, lautet: „Schließlich ist Hochmut allein noch kein Widerstand. Das gleiche gilt für andere kalligraphische Fingerübungen dieser Art ...“ (185)

Maler der Inneren Emigration wie Hofer oder Dix konnten ungestört weiterarbeiten, wenn sie auf öffentliche Ausstellungen verzichteten und ihre Werke an private Sammler verkauften. Nicht so Barlach, den die Nazis wegen seiner a-heroischen Kriegerdenkmale mit nicht nachlassendem Haß verfolgten.

Eine systematisierte und umfassendere Erforschung des Exils deutscher Antifaschisten und von den Nazis Verfolgter setzte erst Jahrzehnte nach der Befreiung 1945 ein. Doch inzwischen liegen, keineswegs beschränkt auf Künstler, für alle Exilländer und deren Bedingungen und für so gut wie alle politischen wie Berufsgruppen des Exils die Grunddaten ebenso vor wie mehrere umfassende Übersichtswerke. Was Hermand auf rund einhundert Druckseiten und beschränkt auf Literatur, Theater, Film, Malerei, Graphik, Fotomontage und Musik vorstellt, ist daher hinsichtlich der Fakten nicht neu. Dennoch hat diese knappe Darstellung ihren besonderen Reiz. Erstens richtet der Autor sein Augenmerk auf ihren politischen Anspruch, das andere, das bessere Deutschland zu verkörpern. Und zweitens analysiert er ihren Kulturanspruch, den sie aus Deutschland mitbrachten, der jedoch in den Exilländern, wo er auf andere Ansprüche, Bedürfnisse und Bedingungen traf, kaum zu realisieren war.

Es hat in der jüngeren deutschen Geschichte nicht nur eine Massenvertreibung gegeben, doch jene nach 1933 ist ohne Beispiel. Zahlenmäßig machten weder die Künstler, noch die Wissenschaftler oder die Politiker die Mehrheit dieser Vertriebenen aus, ihre große Masse bestand aus emigrierten deutschen Juden. Hermand unterstreicht daher zunächst einmal, wie außerordentlich differenziert, wie sozial zerklüftet und politisch zersplittert das Exil in seiner Gesamtheit war, auch künstlerisch mit ausgeprägten Individualitäten, Lebenswegen, künstlerischen und politischen Standpunkten. Von den deutschen Künstlern im Exil waren jene, die sich aktiv antifaschistisch betätigten, eine Minderheit: „Teilen wir daher (...) die Exilkünstler einmal nach dem Grad ihres politischen Engagements gegen das Dritte Reich, das ihre Ausbürgerung verursachte, in resignierend-eskapistische, kulturbewußt-humanistische und aktiv-antifaschistische Gruppen ein“ (212). Die Eskapisten zogen sich in den Privatbereich zurück, weil sie schon vorher weitgehend unpolitisch waren oder sie resignierten angesichts der Übermacht des Naziregimes. Nicht wenige fanden eine neue Heimat im Schoß des Zionismus oder der katholischen Kirche. Zu den unpolitischen vertriebenen Künstlern gehörten viele der geflohenen Filmschaffenden; sie hofften, an ihrem Traumort Hollywood eine lukrative Anstellung zu finden, und auch manche Schriftsteller, die wie Robert Musil ihre literarische Bedeutungslosigkeit im Exil beklagten.

Unpolitisch blieben meist auch jene humanistischen Verteidiger der Kultur aus „gut- oder bestbürgerlichen Kreisen“, die in eine vornehme Reserviertheit emigrierten und meinten, daß gute Kunst die beste Politik sei. Sie beriefen sich gern auf Thomas Mann, „den selbsterwählten Repräsentanten der bürgerlichen Hochkultur, der 1937 in seinem Essay ,Richard Wagner und der Ring der Nibelungen’ noch einmal seine frühere These aus den ,Betrachtungen eines Unpolitischen’ (1918) aufgewärmt hatte, nämlich daß der ,deutsche Geist an sozialen und politischen Fragen im Wesentlichen uninteressiert’ sei.“ (213) Daher solle man nur die Kunst, nicht die Politik als maßgebend anerkennen. Hermand nennt sie „exilierte Bildungsaristokraten“.

Mit Sympathie, besonderer Aufmerksamkeit und Parteilichkeit verfolgt Hermand die Anstrengungen jener exilierten deutschen Künstler, die wie Bertolt Brecht und Hanns Eisler unter heute unvorstellbaren Schwierigkeiten sich hartnäckig und unermüdlich bemühten, Werke für den innerdeutschen Widerstand zu schaffen und diese nach Deutschland einzuschmuggeln und die Öffentlichkeit ihrer Gastländer über das Terrorregime der Nazis aufzuklären. Seine Analyse ihrer Werke ist dennoch nicht unkritisch, sondern instruktiv. Hermand würdigt die Leistungen der antifaschistischen Künst­ler und nimmt auch gegenüber ihren Schwächen, Widersprüchen und Schwankungen kein Blatt vor den Mund.

Die politischen Widerstände der Regierungen jener Exilländer, die gegen­über Hitlers Kriegskurs Appeasementpolitik betrieben, ließen nur sehr begrenzte Wirkungsmöglichkeiten zu. Um so mehr hebt der Autor die künstlerischen, politischen und organisatorischen Bemühungen dieser Widerstandskunst hervor, z.B. den Schutzverband Deutscher Schriftsteller, den Kulturbund oder die im Exil gegründeten Verlage und Zeitschriften, wobei es unter den konservativen Exilkünstlern kaum Bemühungen um eigene Organisationen gab.

Neben politischen und materiellen gab es auch kulturelle Schwierigkeiten. Die antifaschistischen Widerstandskünstler brachten aus Deutschland einen Kulturanspruch mit, der z.B. in den USA, wo die Mehrheit der exilierten Künstler landete, nicht goutiert, ja angesichts der herrschenden Kulturindustrie, wie sie Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ beschrieben hat, nicht einmal verstanden wurde. So urteilt Hermand, daß so gut wie alle in die USA emi­grierten deutschen Künstler erst einmal einen Kulturschock erlitten, waren sie doch „plötzlich in ein Land verschlagen, das weder feudalaristokratische noch bildungsbürgerliche Kulturtraditionen besaß und daher keinen großen Wert auf Kunstwerke höherer Art – ob nun Opern, Symphonien, Dramen, lyrische Gedichte oder Ölgemälde – legte, die in den Vereinigten Staaten als zu ‚arty’ galten.“ (240). Für die meisten bedeutete das Exil nicht nur einen sozialen, sondern auch einen künstlerischen Abstieg: „Wer war schon in diesem Land, in dem eine weitgehende Trennung zwischen Unterhaltungsindustrie und Politik herrschte, an ihren Werken interessiert?“

Zahlenmäßig waren unter den Exilkünstlern die Schriftsteller die größte und bekannteste Gruppe. Doch gerade für sie brachte das Exil von allen Kunstgattungen strukturell die größte Schwierigkeit mit sich, weil ihr entscheidendes Kunstmittel die Sprache war und kaum einer sofort in einer fremden Sprache schreiben, geschweige denn publizieren konnte. Die literarischen Werke des Exils erschienen mehrheitlich auf Deutsch, wurden also eher von Mitexilierten als von jener ausländischen Bevölkerung gelesen, welche die politisch Engagierten aufklären wollten. Übersetzungen erschienen in verschwindend geringer Zahl. Am schwersten hatten es die Lyriker und die Dramatiker, während historische Romane und Biographien leichter einen Weg zur Übersetzung und Edition fanden.

Hermands Analysen der Entwicklung einiger Schriftsteller und ihrer Werke sind knapp und eindrücklich. Seine differenzierende Würdigung ihrer Anstrengungen führt nicht zu einer Glättung kritischer Analyse, z.B. schreibt er von Thomas Mann: Während dieser sich in seinen Rundfunkvorträgen über die BBC höchst engagiert mit den Zuständen im „Dritten Reich“ auseinandersetzte, ist in seinem Roman „Doktor Faustus“ von „irgendeiner Faschismuskritik nur wenig zu spüren“ (265).

Während die schichtenpezifische Kulturpolitik der Nazis insgesamt erfolgreich war, konnten die Werke der exilierten deutschen Künstler wie auch jene der „Inneren Emigration“ erst nach der Befreiung ihre Wirkung entfalten. Dabei aber erwies sich, daß ihr Anspruch, auch in der Kunst das andere, das bessere Deutschland zu verkörpern, überaus berechtigt war. Allerdings erschienen die literarischen Werke des Exils zunächst über Jahrzehnte fast ausschließlich in der DDR. Für die USA allerdings, das Hauptexilland der deutschen Künst­ler, setzt Hermand die Wirkungen der dort schaffenden deutschen Künstler als relativ gering an. Während in Chicago ein neues Bauhaus entstand und Walter Gropius und Mies van der Rohe ein reiches Betätigungsfeld fanden, wurde die Musik von Arnold Schönberg dort überhaupt nicht aufgeführt.

[1][2] Jost Hermand, Kultur in finsteren Zeiten. Nazifaschismus. Innere Emigration. Exil, Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2010, 338 S., 29,90 €.

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