25 Jahre Historikerstreit

von Werner Röhr zu Mathias Brodkorb
Dezember 2011

Mathias Brodkorb (Hrsg.), Singuläres Auschwitz? Ernst Nolte, Jürgen Habermas und 25 Jahre „Historikerstreit“. Adebor Verlag, Banzkow 2011, 179 S., 14,90 €

Brodkorb (Jg. 1977) studierte in Rostock Philosophie und Altgriechisch. Zur Philosophie führte ihn der Marxismus, von dem er sich alsbald abwandte. Politisch organisierte er sich 1994-1997 in der kommunistischen Plattform in der PDS und wechselte 1997 zur SPD, für die er seit 2002 im Schweriner Landtag sitzt, gegenwärtig als stellvertretender Fraktionsvorsitzender seiner Partei und Sprecher für Hochschulpolitik und politische Bildung.

Innerhalb seiner politischen Tätigkeit spezialisierte Bordkorb sich auf die Bekämpfung der heutigen Nazis, so begründete und unterhält er ein tagesaktuelles Internetportal, in dem die faschistischen Aktivitäten dokumentiert, analysiert und bekämpft werden (www.endstation-rechts.de[1]). Diese mutige und rührige Initiative leidet hinsichtlich ihrer Analysen an zwei Schwächen: Brodkorb ist von manchen rechten Denkern, so in jüngster Zeit von Ernst Jünger, zu sehr fasziniert, um ihren Positionen konsequent genug entgegentreten zu können. Und er ist zu bestrebt, seinen Gegner zu verstehen und sich in ihn einzufühlen. Diese „Empathie“, dieses „Verständnis“ im Nolteschen Sinne schließt inhärent ein Moment der Akzeptanz ein, das die Analysefähigkeit beschränkt und eine entschiedene Gegnerschaft verhindert.

Der westdeutsche „Historikerstreit“ der Jahre 1986/87 wurde seinerzeit zu einem öffentlichen politischen Ereignis, weil Philosophen, Historiker und Publizisten dem offenen Geschichtsrevisionismus von Michael Stürmer, Ernst Nolte, Klaus Hilde­brand, Andreas Hillgruber und anderen öffentlich widersprachen und gegen deren Versuch, Erkenntnisse über den deutschen Faschismus und seinen Aggressionskrieg zu eskamotieren, Front machten. Der eingebürgerte Name „Historikerstreit“ war und ist insofern irreführend, als es nicht um eine Debatte von Historikern über eine wissenschaftliche Streitfrage ihres Fachs ging, sondern um eine politische Kontroverse anhand historischer Sachverhalte. Dieser Streit ist in der Literatur mehrfach dokumentiert und erörtert worden.[1][2] Hier sei nur an zwei Sachverhalte erinnert, die für das seitherige Vordringen des historischen Revisionismus von Bedeutung waren und sind:

1. Die verbreitete Annahme, die 1986/87 öffentlich als Geschichtsrevisionisten attackierten Historiker hätten eine Niederlage erlitten und damit an Autorität und Wirkungsfähigkeit verloren, ist nicht einmal zur Hälfte richtig.[2][3] Publizistisch zum zeitweiligen Rückzug gezwungen, haben sie, vor allem aber ihre Schüler und Parteigänger, keineswegs das Kampffeld geräumt oder an Terrain verloren. Vielmehr umgekehrt, sie konnten schon in den Jahren vor dem Anschluß der DDR zielstrebig an Universitäten, in Verlagen und Redaktionen an Boden gewinnen und seit Ende der 1980er Jahre zu einer neuen Offensive übergehen. Hatte die Gruppe um Rainer Zitelmann zunächst vor allem sozialpolitisch argumentiert, so bediente sie sich seit 1990 zunehmend aus dem Arsenal der „Konservativen Revolution“ aus den Endjahren der Weimarer Republik[3][4] und blies seit 1991 mit der Forcierung des Machtstaatsdogmas der Konservativen bald zur Generalattacke auf die Sozialstrukturgeschichte.

2. Die 1986/87 gegen den historischen Revisionismus auftretenden Historiker ließen in dem politischen Streit „die methodischen Grundannahmen ihrer deutschnationalen Fachkollegen unangetastet“.[4][5] Sie zogen sich gegen die Noltesche Ableitung des nazistischen Judenmords aus dem bolschewistischen Terror auf die Position der Singularität, d.h. der Einzigartigkeit, Einmaligkeit, Unvergleichbarkeit und Unwieder-holbarkeit dieses Völkermords zurück und forderten deren Anerkennung als conditio sine qua non des Historikers. Dies war nun keine geschichtswissenschaftliche, sondern eine eingeforderte moralisch-politische Norm, wie auch Singularität als Merkmal nur als Ergebnis eines stattgehabten Vergleichs erkannt werden könnte, nicht aber als Voraussetzung und Vergleichsverbot.

Der Rückzug auf eine gesetzte moralische Norm als Hauptargument gegen die politische Revision gewonnener historischer Erkenntnisse hatte unweigerlich zur Folge, daß über den Judenmord hinaus die Revisionisten methodisch freie Hand erhielten: Dies betrifft vor allem die Inanspruchnahme des Modernisierungsparadigmas der Sozialstrukturhistoriker aus Bielefeld für die Interpretation der faschistischen Diktatur in Deutschland als „Modernisierungsschub“ bzw. „revolutionäre Modernität“ durch Rainer Zitelmann, Michael Prinz und andere „Jungtürken“. Hier mußten die Gegner Noltes und anderer nach 1989/90 „tatenlos mit ansehen, wie die Schüler der Kontrahenten ihre eigenen erkenntnistheoretischen Halbheiten vereinnahmen“.[5][6]

Soweit ich es bisher übersehe, hat Mathias Brodkorb als einziger deutscher Autor zum 25. Jahrestag extra ein Buch herausgegeben, um die damalige politische Auseinandersetzung zu analysieren. Er präsentiert sich als ein scharfsinniger Philosoph, der nach 25 Jahren endlich den Historikerstreit auf den Begriff bringt, nämlich nicht als politische Kontroverse, nicht als Abwehr eines geschichtsphilosophischen Revisionismus und der Re-Nationalisierung des Geschichtsbildes, sondern als wissenschaftliche Kontroverse zwischen der als „marxismusnah“ verdächtigten Sozialstrukturgeschichte und der tradierten, konservativen Ideengeschichte.

Brodkorb verfolgt mit der von ihm herausgegebenen Broschüre ein ehrgeiziges Anliegen: Er will aus der Erfahrung des vergangenen Vierteljahrhunderts den damaligen Streit analysieren und neu bewerten. Gleichzeitig wollte er die damaligen Kontrahenten, in erster Linie Habermas und Nolte, über die damaligen Frontgräben hinweg wenigstens zum Gespräch zusammenführen, was mißlang. Brodkorbs Klage über die Unversöhnlichkeit des Gegensatzes zeigt nur, dass er das politische Anliegen der Gegner Noltes nicht begriffen hat. Schließlich wurde das politische Anliegen der sog. geistigen Wende, die die Regierung Kohl nach ihrem Amtsantritt 1982 einleiten wollte, nämlich die Re-Nationalisierung der Geschichtswissenschaft, am entschiedensten von Stürmer verfochten.

Über ein Drittel des Textes des schmalen Sammelbandes schrieb der Herausgeber selbst, Vorwort, Einleitung und einen Beitrag, außerdem führte er zwei Interviews, eines mit Ernst Nolte, ein anderes mit Wolfgang Wippermann, der von seinem „mißratenen Lehrer“ spricht. Heinrich August Winkler und Jörn Rüsen stellten Beiträge aus anderen Publikationen bereit. Zwei publizistische Beiträge konservativer Journalisten von FAZ und WELT tragen ebensowenig zur gewünschten Analyse bei. Christian Meier rekurriert auf seine Polemik mit Habermas und räumt in einem Zusatz ein, sich in einem Vorwurf an jenen geirrt zu haben.

Der einzige selbstständige thematische Beitrag stammt von dem Althistoriker Egon Flaig (Jg. 1949), der 1998 dank abgewickelter DDR-Historiker auf einen Greifswalder Lehrstuhl berufen wurde und seit 2008 in Rostock lehrt. Flaig präsentiert sich als dezidierter Anti-68er. Die studentische Rebellion der Jahre 1968 und die auf sie folgenden demokratischen Reformen sind für ihn nur moralingefülltes Gedröhne, demagogische Zumutungen. Als ob er, zwar nachträglich, aber unmittelbar eingriffe, attackiert er Habermas, Wehler und alle Historiker, die gegen Nolte aufgetreten sind, in geradezu hysterischer Weise. Flaig ernennt Wehler zum Großinquisitor der Sozialgeschichte und konstatiert zutreffend, daß der Historikerstreit massenmedialen Gepflogenheiten folgte. Damit, so Flaig weiter, tendierte er zum „Lumpenjournalismus“. Die Gegner Noltes verkörpern für ihn „die pestartige Virulenz“ der political correctness. Kurzum, Flaig sagt klar: Die Revisionisten hatten recht.

Und als wollte die FAZ, die 1986 Noltes Beitrag „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ druckte, ihre Rolle als provokativer Initiator des Historikerstreits 2011 fortsetzen, stellte sie Brodkorbs Band vor, indem sie Flaigs Beitrag auf einer ganzen Seite als Antwort auf die Frage nach den „fatalen Folgen“ des „Historikerstreits“ abdruckte.[6][7]

Flaigs Parteinahme für Nolte kann durchaus als die den Band bestimmende Position gelten, auch wenn Brodkorb als Herausgeber gegenüber Noltes Positionen kritischer und gegenüber dessen Kontrahenten Habermas und Wehler etwas höflicher auftritt. Doch sein Anliegen ist eine Neubewertung des damaligen Streits. Genauer gesagt, Brodkorb denunziert und verurteilt die mutige Leistung von Jürgen Habermas und dessen Bündnispartnern unter den Historikern, die den dreisten Versuchen eines historischen Revisionismus hinsichtlich des Völkermordes an den europäischen Juden die Stirn geboten haben. Er klagt den Philosophen Habermas der Anmaßung und des wissenschaftlichen Dilettantismus auf dem Felde der Historie an. Habermas habe als fachfremder Kritiker seine eigenen Theorien nicht ernst genommen, er sei wissenschaftlich unseriös aufgetreten und habe Zitate gefälscht. Heute sei er uneinsichtig und verweigere die Kommunikation. Brodkorb macht Hans-Ulrich Wehler als jenen professionellen Historiker aus, der als der eigentliche Hintermann der Habermaschen Intervention zu gelten und den Nicht-Historiker mit dem notwendigen Material versorgt habe. Gilt Brodkorbs moralische Attacke Habermas, so richtet sich sein theoretischer Angriff in erster Linie gegen Wehler.

Umgekehrt stellt Brodkorb Ernst Nolte, den damals als Hauptvertreter des Geschichtsrevisionismus attackierten Historiker, als moralisch redlichen und umgänglichen Ehrenmann dar, dem Unrecht getan wurde und den zu rehabilitieren er unternimmt, ohne deshalb die Kritik an dem von Nolte unterstelltem Kausalnexus zwischen bolschewistischem Terror und nazistischem Judenmord aufzugeben. Den heute isolierten, als schrulligen bis abseitigen Sonderling geltenden Nolte habe er, Brodkorb, als freundlichen, zugänglichen und umgänglichen Gesprächspartner erlebt, selbst gegenüber ihm widersprechenden Personen, zudem als gründlichen philosophischen Denker.

Brodkorbs Buch ist weder eine Analyse noch eine Bilanz des erinnerten Streits, er erreicht nicht einmal die Klarheit früherer analytischer Arbeiten. Er steht weder über den damals streitenden Parteien noch kann er sie kommunikativ verbinden. Es bleibt eine einseitige, parteiische Stellungnahme, die dazu dient, dem vordringenden historischen Revisionismus den Schleier akademischer Würde und moralischer Ehrbarkeit umzulegen.

Werner Röhr

[1][8] Vgl. Reinhard Kühnl (Hrsg.), Streit ums Geschichtsbild. Die „Historiker-Debatte“. Dokumentation, Darstellung und Kritik, Köln 1987; „Historikerstreit“ – Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987; Hans-Ulrich Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum „Historikerstreit“, München 1988; Heinrich Senfft, Kein Abschied von Hitler. Ein Blick hinter die Fassaden des „Historikerstreits“, Köln 1990; Eike Hennig, Zum Historikerstreit. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Faschismus, Frankfurt/Main 1988; Gernot Erler, Rolf-Dieter Müller, Ulrich Rose, Thomas Schnabel, Gerd R. Ueberschär, Geschichtswende? Entsorgungsversuche zur deutschen Geschichte. Mit einem Vorwort von Walter Dirks, Freiburg/Br. 1987; Charles S. Maier, Die Gegenwart der Vergangenheit. Geschichte und die nationale Identität der Deutschen, Frankfurt/Main – New York 1992; Richard Evans, Im Schatten Hitlers? Historikerstreit und Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik, Frankfurt/Main 1991.

[2][9] Siehe Ernst Nolte: Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit, Frankfurt/Main 1987.

[3][10] Vgl. Armin Mohler. Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch 4. Aufl. Darmstadt 1994 (erste Auflage 1950).

[4][11] Karl Heinz Roth: Geschichtsrevisionismus. Die Wiedergeburt der Totalitarismustheorie, Hamburg 1999, S. 138.

[5][12] Ebenda.

[6][13] Egon Flaig: Die Habermas-Methode. Eine Polemik, in: FAZ, 17.7.2011.

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