Editorial

März 2011

Im Mittelpunkt dieses Heftes stehen die Machtverschiebungen im kapitalistischen Weltsystem, dem ehemaligen Clinton- und Obama-Berater Larry Summers zufolge das wichtigste Ereignis der letzten 1000 Jahre nach der italienischen Renaissance und der industriellen Revolution. Selbst wenn man es etwas nüchterner sieht: Die Internationalisierung des Kapitals geht einher mit der Verlagerung der Wachstumspole in die ehemalige Peripherie, dem relativen Niedergang der G7-Staaten und der zunehmenden Ungleichzeitigkeit von Entwicklung. Während die enge wirtschaftliche Verflechtung eine supranationale wirtschaftspolitische Regulierung erfordert, verschlechtern sich die Bedingungen für international koordinierte Politiken der großen Nationalstaaten. Dies ist vor allem Folge des hegemonialen Niedergangs der USA, die zwar die Welt nicht mehr nach ihren Interessen gestalten, jede unerwünschte Maßnahme aber blockieren können. Neue hegemoniale Konstellationen zeichnen sich nicht ab.

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Das Merkmal der Ungleichzeitigkeit macht sich nicht nur global, sondern auch in den Regionen krisenhaft bemerkbar. Joachim Becker behandelt die durch die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise offen gelegten Bruchlinien innerhalb der Europäischen Union. Er zeigt, dass es nicht nur um den Unterschied zwischen ärmeren und reicheren Ländern geht, sondern dass unterschiedliche nationale Akkumulationstypen aufeinandertreffen. Im Mittelpunkt der EU-Politik zur Überwindung der Krise stehen Finanzinteressen. Linkskeynesianisch und ökologisch ausgerichtete Alternativen haben im institutionellen Gefüge der EU kaum Erfolgschancen, lediglich in den EU-Peripherieländern sieht der Autor Spielräume.

Jörg Goldberg gibt einen Überblick über die durch die Krise beschleunigte Verschiebung der weltwirtschaftlichen Gewichte. Während die Konjunkturkrise überwunden scheint, bleibt die „Hyperthrophie des Finanzsektors“ als Hauptkrisenfaktor bestehen. Die Rettung der Banken durch Überflutung der Märkte mit Notenbankgeld verschärft die Fragilität. Obwohl die Krise die tiefste der Nachkriegszeit war, zeichnet sich kein wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel ab, wie die vorläufige Bilanz der Re-Regulierung des Finanzsektors zeigt. Die Abwesenheit einer neuen hegemonialen Konstellation und das Übergewicht der Finanzindustrie verhindern die notwendige wirtschaftspolitische Wende hin zur Förderung des ökologischen Umbaus der Wirtschaft durch mehr produktive Investitionen.

Im Zentrum der weltwirtschaftlichen Verschiebungen steht China, das Helmut Peters als „eine Art Staatskapitalismus“ bezeichnet; trotzdem habe die chinesische Führung das sozialistische Ziel – bei Risiken der Entartung – nicht aus den Augen verloren. China begreife sich zwar als Teil des kapitalistischen Weltsystems, strebe aber eine Demokratisierung der kapitalistischen Weltordnung an. Die USA insistieren dagegen weiter auf ihrem Führungsanspruch, wobei innenpolitisch zwei Richtungen miteinander ringen: eine eher kooperative Variante der Einbindung Chinas einerseits und die der aggressiven Eindämmung andererseits. Die während des Staatsbesuchs von Hu Jintao im Januar 2011 getroffenen Vereinbarungen bewertet Peters als große historische Chance.

Pia Eberhardt untersucht am Beispiel der Handelspolitik mit Indien die Beziehungen zwischen der quasi-staatlichen EU-Kommission einerseits und den Transnationalen Konzernen andererseits. Gestützt auf zahlreiche Primärquellen zeigt Eberhard, dass die Kommission nicht bloß die handelspolitischen Interessen der europäischen Unternehmen in Indien fördert sondern vielmehr aktiv – unter Einsatz von Steuermitteln – die Organisation des Kapitals vorantreibt.

Rolf Geffken erörtert Rolle und Selbstverständnis der Gewerkschaften in China. Der Autor berichtet über eine von ihm organisierte Tagung mit chinesischen und deutschen Gewerkschaftern und Wissenschaftlern zu einer Debatte, die seit einiger Zeit auch in China selbst stattfindet: Seit Einführung der Marktwirtschaft und dem Aufkommen spontaner Protestaktionen und Arbeitskämpfe in chinesischen Betrieben werden die Rolle der Gewerkschaften und insbesondere das Streikrecht neu diskutiert.

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Auf die Programmdebatte innerhalb der LINKEN beziehen sich zwei Beiträge. Hans Günter Bell kommentiert und kritisiert den Mangel an Klassenanalyse. Mit seinem Beitrag schließt er an die in Z. seit dem Artikel „Was machen wir mit dem Klassenbegriff?“ von Lothar Peter (Z 81) geführte Debatte um Aktualität und Reichweite des Klassenbegriffs an: Für Bell ist dieser Begriff unverzichtbar, gerade auch im Kontext linker Programmatik. Hermannus Pfeiffer empfiehlt im Rahmen einer Literaturanalyse die Einbeziehung der marxistischen Konzeption der „Reform-Alternative“, die vor zwanzig Jahren von Jörg Huffschmid und Heinz Jung konzipiert wurde, und der Analysen zum Finanzkapitalismus von Huffschmid und Lucas Zeise.

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Drei Beiträge widmen sich der Marx-Engels-Forschung. Die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), deren Schicksal nach 1990 zuerst offen war, wird heute von einem internationalen Konsortium, der Internationalen Marx-Engels-Stiftung IMES, fortgeführt. Seit 1975 sind 58 der auf 114 Bände angelegten MEGA erschienen, davon 24 nach 1990, die zumeist noch auf den in der DDR und der UdSSR begonnenen Vorarbeiten aufbauen konnten. Zur „Halbzeit“ der MEGA informiert ein Interview von Rainer Holze mit Manfred Neuhaus und Gerald Hubmann – dem bisherigen und dem zukünftigen Leiter des MEGA-Projekts – über Stand, Editionsprinzipien und „-Philosophie“ sowie über die Perspektiven der MEGA aus Sicht der Herausgeber. Aus gleichem Anlass veröffentlichen wir einen im Dezember 2010 bei der Berliner Leibniz-Sozietät gehaltenen Vortrag des langjährigen MEGA-Mitarbeiters Martin Hundt über den Fortgang der MEGA und aktuelle Debatten um das Werk von Marx. Stefan Kalmring und Andreas Nowak untersuchen auf der Grundlage von Marx’ Analysen des Kolonialismus vor allem in Indien und China dessen Haltung zur kapitalistischen Durchdringung der Peripherie. Sie zeichnen die Entwicklung von Marx’ Position nach, der den Kolonialismus zunächst als kapitalistischen Modernisierungsfaktor begriffen habe. Marx habe diese Ansicht später modifiziert und gezeigt, dass der Kolonialismus auch Entwicklung behindere und dass es in Abhängigkeit von historischen Bedingungen unterschiedliche Entwicklungswege geben könne.

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Weitere Beiträge: Die Pariser Kommune, der blutig niedergeschlagene, erste Versuch einer proletarischen Klassenherrschaft, liegt 140 Jahre zurück. Marga Beyer erinnert an den großen und vorbildlichen Mut, mit dem die Linken in Deutschland im sozialdemokratischen „Volksstaat“ und im Parlament für die Kommune eintraten.

Lorenz Knorr sieht in der Zunahme der Aktivitäten von Bundeswehrangehörigen in Schulen eine gefährliche Tendenz zur Militarisierung der Gesellschaft. Die Analyse der italienischen Konstellation und ihre Einbettung in eine Gesamtbetrachtung des aktuellen Rechtspopulismus ist Thema von Gerd Wiegels Beitrag. Während der nicht enden wollende Berlusconismus inzwischen europaweit nur noch für Kopfschütteln sorgt, ist Italien seit mehr als einem Jahrzehnt Vorreiter eines stabilen, postdemokratischen Rechtspopulismus. Der in vielen anderen europäischen Ländern erfolgreiche Rechtspopulismus besitze in Italien auch deshalb eine solche Stabilität, weil er sich auf drei Parteien verteilt und unterschiedliche soziale Klassen integrieren kann.

Margarethe Tjaden-Steinhauer untersucht in einem Zweiteiler (der zweite Teil folgt in Z 86) Geschichte und Verwendungsweise des „Geschlecht-“ bzw. „Geschlechterbegriffs“ und diskutiert kritisch Perspektiven auf die damit verbundenen Implikationen. Im ersten Teil geht es um die Rekonstruktion eines genealogischen „Geschlechtbegriffs“ und die Entstehung eines biologisch-klassifizierenden „Geschlechterbegriffs“ seit dem 18. Jahrhundert. David Salomon setzt sich mit dem 2008 vollendeten Romanwerk „Die Kinder des Sisyfos“ von Erasmus Schöfer auseinander. Der Autor erzählt in dieser Tetralogie die Geschichte der westdeutschen Linken zwischen 1968 und 1989. Salomon rekonstruiert die darin formulierte Poetik des Historischen.

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Für die weiteren Hefte sind folgende Themen in Vorbereitung: Die politische Rolle der Medien (Z 86), Bewegungen, Klassen, Massenbewußtsein (Z 87) und die Zukunfts-, Utopie- und Kommunismusdiskussion (Z 88).

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Wir widmen dieses Heft unserem verstorbenen Redaktionsgenossen Reinhard Schweicher.