Umwälzungen im arabischen Raum

Al Dschasira und die Umwälzungen in der arabischen Welt

Juni 2011

Die Weichen für Demokratisierung und Säkularisierung in den arabischen Ländern hat der Fernsehsender Al Dschasira gestellt.

Antonio Gramsci war überzeugt, dass revolutionäre Prozesse in der modernen Welt nur in Gang kommen, wenn ihnen eine Phase umfassender kultureller Vorbereitung voran geht. Die Bürger müssen wissen und selbst verantworten, wohin sie wollen. Die arabischen Revolutionen befinden sich in einer Phase, die später vielleicht einmal die „epische“ genannt werden wird. Von ihr gibt es unzählige Fernsehbilder, die den Todesmut vieler Einzelner, aber auch die Kraft der großen, vereinigten Massen zeigen. Es waren zunächst keine westlichen Medien, die diese beeindruckenden Bilder produzierten und verbreiteten, sondern die vom Emirat Katar aus sendende Fernsehanstalt Al Dschasira. Sie scheute keine Kosten und war mit zahlreichen Kamerateams und Reportern sofort an den jeweiligen Brennpunkten präsent, um von Tunesien, Ägypten, Libyen, Bahrein und den weiteren in Aufruhr befindlichen arabischen Ländern quasi ununterbrochen life zu senden.

In allen nordafrikanischen Ländern durfte Al Dschasira vor Beginn der Erhebungen weder Studios einrichten noch mobile Kamerateams offen arbeiten lassen. Aber keines der Regime konnte dauerhaft verhindern, dass die Bürger sich über ihre Satellitenschüsseln Al Dschasira ins Wohnzimmer holten. Und damit fand über eineinhalb Jahrzehnte auch jene kulturelle Vorbereitung statt, die den jetzigen Revolutionen ihre Grundrichtung und auch ihre wichtigste kommunikative Basis gab. Während Facebook und Twitter realiter nur als technische Kommunikationsmittel eine Rolle spielen, gab Al Dschasira über viele Jahre hinweg auch inhaltliche Muster vor, die für die Entwicklung der Demokratie in islamischen Ländern von großer Wichtigkeit sind.

Der Sender brach – seit seiner Gründung 1996 – mit der in islamischen Ländern, aber auch einst im Ostblock herrschenden Unsitte, die realen gesellschaftlichen Widersprüche außen vor zu lassen, die sich in verschiedenen, z. T. auch konträren Meinungen und Haltungen kondensieren. Das Staatsfernsehen führte – unter Aufsicht des jeweiligen Innenministeriums – ein geglättetes, künstlich harmonisiertes Bild der Gesellschaft vor. Al Dschasira dagegen machte es sich von vorneherein zur Aufgabe, Widersprüche der arabischen Gesellschaften in aller Härte öffentlich zu verhandeln. Tagtäglich organisierte der Sender supranationale Foren, wo sich gestandene Modernisten, Feministinnen, aber auch Linke, die in ihren Ländern verboten und verfolgt waren, mit beinharten Islamisten und Konservativen spektakuläre Wortgefechte lieferten. Damit übertrumpfte man rasch die jeweiligen nationalen Sender, wie auch die westliche Konkurrenz, die nur billige Unterhaltung und Apolitisierung dagegen zu setzen hatte.

Die Al-Dschasira-Redaktionen selbst präsentierten sich von Anbeginn an modern und demokratisch, was vor allem durch den großen Anteil von hochqualifizierten und zumeist auch noch bildschönen Frauen geschieht, die sich mehrheitlich ohne Kopfbedeckung präsentieren. Durch diese säkular ausgerichtete, transnationale Medienarbeit hat Al Dschasira als Katalysator einer neuen kulturellen Basis besonders des arabischen, zweifellos aber auch des gesamten islamischen Raumes, gesorgt, die den bislang herrschenden autoritären Nationalismus delegitimiert und zweifellos auch den Islamismus zurückgedrängt hat. Mit für die islamische Welt völlig ungewohnten Formaten wie z. B. eine ´Meinung und Gegenmeinung` genannte Sendereihe führte Al Dschasira den arabischen Völkern ihre – im Staatsfernsehen niemals gezeigte – Pluralität vor Augen. Durch die Organisation von Dialogen und Streitgesprächen der verschiedenen, auch gegensätzlichen Strömungen wurde gezeigt, dass die Anerkennung der Pluralität gesellschaftlichen Fortschritt ermöglicht. Denn in solche Wettbewerbssituationen gestellt, hat der Islamismus nicht günstig abgeschnitten.

Modernität und Weltoffenheit demonstriert Al Dschasira auch durch die vielen RedakteurInnen und ReporterInnen mit westlichem, afrikanischem oder asiatischem Hintergrund, die der Sender auf seinen verschiedenen Stationen und Kanälen beschäftigt.

Wie konnte diese Fernsehanstalt entstehen? Finanziert sie wirklich der Emir von Katar? Und wenn, warum? Solche Bedenken höre ich immer wieder, wenn ich über Al Dschasira berichte. Vielleicht können wir sie minimieren, wenn wir uns mal wieder ins Gedächtnis rufen, dass die Arbeit von Karl Marx und Friedrich Engels durch das Einkommen des letzteren finanziert wurde, das ihm aus den Wuppertaler Werken seiner Familie zufloss, die die Ausbeutung ihrer Arbeitskräfte keinesfalls aufgegeben hatte. Manchmal, wenn auch selten, kommt so etwas in der Geschichte vor.

Hinsichtlich seiner Unabhängigkeit verweist der Sender auf sein ursprüngliches Vorbild, die BBC, die staatliche Unterstützung erhält und trotzdem weltweit als unabhängig gilt. Da Al-Dschasiras Berichterstattung über Saudi Arabien sehr kritisch ist, verhindert dieser große Nachbar Katars durch gezielten Druck auf die Werbebranche und Boykottandrohungen an werbewillige Firmen bis heute, dass der Sender finanziell völlig selbständig werden kann. Er hängt noch immer vom Emir ab, mit dem aber seit 1998 ein offizielles Abkommen besteht, wonach dieser sich nicht in die Belange des Senders einmischt. Dies hebt der Emir selber auch gegenüber den USA hervor, die ihn schon öfter drängten, mäßigend auf Al-Dschasira einzuwirken. Hamad bin Khalifa Al Thani hat sich als aufgeklärter Monarch erwiesen, der in seinem Land für einige Institutionen demokratische Wahlverfahren eingeführt hat, an denen auch Frauen teilnehmen. Insbesondere ist der Kommunalrat zu nennen, dessen Mitglieder zu zwei Dritteln direkt gewählt werden. Andererseits erlaubt er den USA, in Katar Militärbasen zu unterhalten. Eine befindet sich in direkter Nachbarschaft zum Sender Al Dschasira. Diese Militärbasen spielen eine wichtige Rolle bei den Kriegen im Nahen Osten. Der Fernsehsender kritisiert aber trotzdem unzweideutig die Kriegspolitik der USA. Al-Dschasira war der einzige Kanal, der 1998 das ´Operation Desert Fox` genannte siebzigstündige Bombardement der USA und Großbritanniens auf 100 militärische Ziele im Irak filmte. Es wurde mit fünfminütigem Verzug weltweit von allen großen Sendern gezeigt, die sich heute mit der Übernahme von Bildern von Al Dschasira übrigens weit mehr zurückhalten, weil der Sender nicht den Blick auf die arabische Welt, sondern aus der arabischen Welt reproduziert.

Al-Dschasira war der einzige Kanal, der 2001 unter dem Bombardement der amerikanischen Luftwaffe direkt aus Kabul sendete, wobei auch das eigene Büro getroffen wurde, obwohl es fernab der militärischen Ziele untergebracht war. Im Irak musste sich Al-Dschasira gegen Einschränkungen und Instrumentalisierungsversuche durch Saddams Regime wehren. Aber als der Sender dann 2003 das Einrücken der Koalitionstruppen in Bagdad filmen wollte, wurde sein Standort mit amerikanischen Panzerraketen beschossen, obwohl die in einem Wohnviertel gelegene Adresse dem Koalitionsmilitär bekannt war. Der Mitarbeiter Tarik Ajub erlag seinen Verletzungen. Al-Dschasira berichtet wesentlich ausführlicher über die sogenannten ´Kollateralschäden` der vom Westen geführten Kriege, über Opfer und Drangsalierungen der Zivilbevölkerung, über radioaktive Verseuchung. Der Sender zeigt auch Gefangene und Tote der Koalitionstruppen, was wiederum deren Proteste hervorruft. Weil Al-Dschasira ständig unterstellt wird, mit Terroristen zusammenzuarbeiten, wurden zahlreiche in Afghanistan und im Irak tätige Mitarbeiter festgenommen. Einige haben das Gefängnis Abu Ghraib und sogar Guantanamo erlebt. Am meisten Empörung rief hervor, dass Al Dschasira immer wieder Videobänder von Usama bin Laden und anderen Führern von Al-Kaida ausgestrahlt hat. Es wurde aber errechnet, dass den insgesamt 5 Stunden, die Bin Laden in der Ära Bush von Al Dschasira auf den Bildschirm gebracht wurde, 500 Stunden gegenüber standen, in denen der amerikanische Präsident zu Worte kam.

Ein starkes Indiz für die Lauterkeit von Al Dschasira ist für mich die parteiliche Haltung des Senders bei der Unterstützung des Befreiungskampfes der Palästinenser. Sie wird aber nicht durch plakativ-radikale Verlautbarungen zum Ausdruck gebracht, sondern durch sachliche Berichterstattung von den Brennpunkten in den besetzten Gebieten, dem Gazastreifen und auch in Israel selbst. Im letzten Gazakrieg 2009/2010 war Al Dschasira mit eigenen Kamerateams buchstäblich im Bombenhagel und in den Lazaretten dabei, zog zur Denunzierung der Menschenrechtsverbrechen der israelischen Armee aber auch westliche Waffenspezialisten und Menschenrechtsaktvisten heran. Deren Statements wurden erst mit tagelanger Verspätung von westlichen Fernsehanstalten übernommen bzw. auch nur zaghaft kommentiert. Weil Al Dschasira die Korruption der Autonomiebehörde in der Westbank nachdrücklich kritisierte, wurde das Büro in Ramallah von Sicherheitskräften der Fatah gestürmt. Von israelischer Seite wurde der Sender immer wieder beschuldigt, Sprachrohr der Al-Aksa-Brigaden zu sein. Auch gegenwärtig läuft eine Kampagne, die auf das Verbot der Arbeitsmöglichkeiten von Al Dschasira in Israel zielt.

Der Amerikaner Hugh Miles[1], der eine Studie zu Al Dschasira vorgelegt hat, hebt hervor, dass es dem Sender gelungen sei, „die Richtung des Informationsflusses umzukehren, so dass er nunmehr zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren von Ost nach West fließt“.

Es klingt unwahrscheinlich, könnte sich aber als wahr erweisen: Der Fernsehsender Al Dschasira wird bei der Unterstützung des demokratischen Fortschritts in der arabischen Welt letztlich erfolgreicher sein als die Gewaltpolitik des Westens.

[1] Hugh Miles, Al-Dschasira. Ein arabischer Nachrichtensender fordert den Westen heraus, Hamburg 2005.