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Die US-Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise

Zerwürfnisse, Sackgassen und Hoffnungen auf Erneuerung. Interview: Thomas Goes

Dezember 2010

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Th.G.: Kim, was sind die wichtigsten Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die us-amerikanische Lohnabhängigenklasse – insbesondere mit Blick auf Entlassungen, Lohnkürzungen und öffentlichen Dienstleistungen? Gibt es Unterschiede zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor?

K.M.: Die Rezession hat die amerikanische Arbeiterklasse sehr hart getroffen. Die offizielle Arbeitslosenquote ist zeitweise auf über 10 Prozent gestiegen und lag in diesem September immer noch bei 9,6 Prozent. Das sind fast 15 Millionen erwerbslose Arbeiter. Zusätzlich weist die Statistik 5,7 Millionen Menschen aus, die zwar nicht als Teil des Arbeitskräftepotenzials gelten, die aber Arbeit suchen. Wir reden also von mehr als 20 Millionen Arbeitern ohne Jobs. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit hat auch die Gewerkschaften mitgenommen. Als Folge der Rezession haben sie im Jahr 2009 rund 771 000 Mitglieder verloren. Das hat moderate Mitgliedergewinne, die in den beiden Jahren zuvor gemacht wurden, mehr als zu Nichte gemacht. Die durchschnittlichen Lohnerhöhungen (bezogen auf das erste Jahr der Lohnvereinbarungen) fielen von 3,6 Prozent in den Abschlüssen 2008 auf 2,3 Prozent 2009 und 1,6 Prozent im ersten Halbjahr 2010 – wobei bei einem Drittel dieser neuen Vereinbarungen gar keine Lohnerhöhungen im ersten Jahr ihrer Laufzeit vorgesehen sind. So etwas hat es seit zwei Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Den Gewerkschaften in der Industrie und im Baugewerbe – hier war der Stellenabbau am heftigsten – erging es dabei sogar noch schlechter. Lohnabschlüsse im Jahr 2010 sahen hier nur eine Lohnsteigerung um 1,1 Prozent im ersten Jahr vor. Über die eigentliche Rezession hinaus sehen sich viele Gewerkschaften mit rasanten Konsolidierungsprozessen innerhalb ihrer Industrien konfrontiert – das führt dazu, dass sie sich neuen Verhandlungspartnern gegenüber sehen. Das gilt insbesondere für die Stahl- und die Automobilindustrie. In der Autoindustrie gab es katastrophale Arbeitsplatzverluste und die Gewerkschaften machten viele Konzessionen. Aber die Konsolidierung betrifft auch andere Sektoren, die Gesundheitsindustrie mit inbegriffen. Außerdem haben Millionen von Menschen aus der Arbeiterklasse ihre Häuser verloren als die Finanzkrise sich ausweitete. Die Wirtschaftspolitik der Obama-Regierung, die die Konjunktur ankurbeln soll, hat bislang nur einen sehr moderaten Effekt. Neben der „Rettungsaktion“ und dem Versuch, die Wirtschaft zu stimulieren, hatte Obama zwei zentrale Reformen versprochen, als er an die Macht kam: Zum einen eine Reform der Gesetze, die die industriellen Beziehungen regeln, zum anderen eine Reform des Gesundheitssystems bzw. des Krankenversicherungssystems. Unter massivem Druck der Unternehmer hat die Regierung den „Employee Fair Choice Act“ fallen gelassen, durch den Organizing für Gewerkschaften etwas leichter geworden wäre. In gewissem Sinne wollten die Demokraten ein Tauschgeschäft machen: Fallenlassen dieser Reform zugunsten der Reform der Krankenversicherung. Aber auch die ist magerer ausgefallen, als es sich viele Gewerkschaftsaktivisten erhofft hatten – noch immer bleiben 23 Millionen Menschen ohne irgendeine Art von Krankenversicherung und die private Industrie bleibt nach wie vor der bestimmende Faktor im Versicherungssystem. Rund 18 Millionen bislang unversicherter Menschen erhalten nun eine staatlich finanzierte Versicherung (Medicaid), während weitere 16 Millionen finanziell unterstützt werden, um sich eine private Versicherung zu kaufen. Damit werden den privaten Konzernen nochmal 3 Milliarden Dollar hinterhergeworfen. An dieser Reform gibt es kaum etwas, was den ärmeren Menschen helfen dürfte. Insgesamt, so kann man sagen, waren die letzten paar Jahre ein weiterer Rückschlag für gewerkschaftlich organisierte wie unorganisierte Beschäftigte gleichermaßen.

Obama und die Wirtschaftskrise – Zu kurz gesprungen?

Th.G.: Du hast die Reaktionen der Obama-Regierung auf die Wirtschaftskrise erwähnt[2]. Kannst Du einige Bestandteile des Konjunkturpaketes beschreiben?

K.M.: Ich sehe das Problem darin, dass der Löwenanteil des Geldes, das von der Regierung ausgegeben wurde, direkt an die Wall Street floss – 875 Milliarden US-Dollar des Förderprogramms wurde über die 50 Einzelstaaten verteilt, um so Millionen wieder in Arbeit zu bringen, verglichen mit 3 Billonen Dollar, die für die Rettung einer handvoll von Banken ausgegeben wurden. Das Konjunkturpaket bestand an sich aus Subventionen für die Einzelstaaten, die für Bauarbeiten und ähnliche arbeitsplatzschaffende Maßnahmen vorgesehen sind. Allerdings sind die Einzelstaaten bankrott und nicht in der Lage, den eigenen nötigen finanziellen Beitrag für entsprechende Ausgaben zu zahlen, damit tatsächlich Wachstumsanreize geschaffen werden könnten. Deshalb war der Konjunkturanreiz zu schwach. In Folge dessen haben nur wenige Menschen eine wirkliche Verbesserung erlebt, wodurch sich der politischen Rechten die Gelegenheit bot, Obama zu attackieren. Das andere Problem sind natürlich die Defizitausgaben und die eigentlichen Schulden. Das alles verlangt nach einem Angriff auf die Großkonzerne – und das ist etwas, was Obama oder die Demokraten trotz gelegentlicher Rhetorik nicht tun werden.

Die Antworten der Gewerkschaftsspitzen

Th.G.: Und was war bisher die strategische Antwort der Gewerkschaftsführungen?

K.M.: Eine strategische Antwort auf die Rezession hat es nicht gegeben. Wenn die Gewerkschaften überhaupt zusammengearbeitet haben, dann nur, um Obama zu wählen und den Demokraten eine Kongressmehrheit zu verschaffen. Und das war letztlich eine große Enttäuschung – und zwar eine, die in die Hände der immer aggressiveren Rechten spielt, des sogenannten Tea-Party-Movements.[3] Faktisch konnte man in den letzten Jahren innerhalb der US-Gewerkschaftsbewegung[4] eine Art „Bruderkrieg“ beobachten. Zuerst spalteten sich 2005 sechs AFL-CIO Gewerkschafen vom Dachverband ab und gründeten die „Change to Win Federation“ (CtW) als Konkurrenzverband zur AFL-CIO. Angeführt wurde die CtW von Andy Stern, dem Vorsitzenden der „Service Employees International Union“ (SEIU). Die CtW sollte die Organizing-Anstrengungen der sieben Mitgliedsgewerkschaften koordinieren. Zum neuen Verband gehörten die „International Brotherhood of Teamster“ (IBT), die „United Food and Commercial Workers“, die „Laborers’ International Union of North America“ (LIUNA), die „United Farm Workers“, UNITE-HERE (ein Zusammenschluss der ehmaligen Textilbeschäftigten-Gewerkschaft UNITE und der Hotel- und Restaurantarbeitergewerkschaft HERE), die „United Brotherhood of Carpenters“ (UBC) und die „Service Employees International Union“ (SEIU). Anstatt allerdings ein gemeinsames Vorgehen dieser Gewerkschaften zu ermöglichen, hat Andy Stern eine der CtW Mitgliedsgewerkschaften – UNITE-HERE – derart hart angegriffen, dass es nach internen Streitigkeiten zur Spaltung kam.[5] Obwohl der Grund für die ursprüngliche Abspaltung von der AFL-CIO der Wunsch war, die Organisierungsbemühungen der Gewerkschaften zu verbessern, war die CtW-Federation von Anfang an ein Flopp. Die meisten Mitgliedsgewerkschaften haben Mitglieder verloren, nur die SEIU hat welche gewinnen können. Seither gab es eine Art Krieg zwischen einigen Gewerkschaften, wobei die SEIU im Zentrum steht, die andere Gewerkschaften angreift – darunter auch CtW-Gewerkschaften – und versucht auf ihre Kosten Mitgliedergewinne zu erzielen. Das alles scheint sich allerdings gelegt zu haben, seitdem Andy Stern kürzlich als Vorsitzender der SEIU zurückgetreten ist.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch einige positive Entwicklungen Bemerkenswert ist beispielsweise der Aufbau einer neuen Gewerkschaft im Gesundheitsbereich, der „National Union of Health Care Workers“, die die SEIU verlassen hat.[6] Außerdem ist durch Zusammenschluss dreier kleinerer, aber kämpferischer Organisationen eine neue Krankenschwestern-Gewerkschaft entstanden – die „United National Nurses“. Eine andere Gewerkschaft, die aus den gerade erwähnten Auseinandersetzungen mit einer kämpferischen Haltung hervorgegangen zu sein scheint, ist die erwähnte Organisation UNITE-HERE, die sich nun energisch darum bemüht, landesweit Hotelbeschäftigte zu organisieren.

Und auch wenn Streiks insgesamt ziemlich selten blieben, gab es trotz – oder wegen? – der Rezession einen leichten Anstieg der Streikhäufigkeit, darunter insbesondere Streiks von Krankenschwestern, Dockarbeitern, Hotelbeschäftigten, Gastronomieangestellten und Fabrikarbeitern. So gesehen: Während es den Gewerkschaften insgesamt an einer wirklichen Strategie mangelt, gibt es einige Ansätze von Widerstand.

Der Aufschwung der politischen Rechten

Th.G.: Ist diese aggressivere Rechte durch Obama in die Welt gekommen? Bislang dachte ich, es handele sich dabei mehr oder weniger um dieselben Rechtsextremen, die vorher den rechten Flügel der Bush-Unterstützer bildeten.

K.M. Das sind sie auch, aber es spielen auch andere Momente eine Rolle. Es handelt sich zumeist um Mittelschichtangehörige. Viele ihrer Führer sind Geschäftsleute im Ruhestand. Wie andere politische Rechte auch haben sie gelernt, wie man populistisch Themen – wie z.B. Anti-Banker-Stimmungen – zum Vorteil der Rechten verbindet. Was sie aber von anderen Rechten unterscheidet, das ist ihr Aktivismus und ihre Bereitschaft, ihre eigenen Kandidaten auch gegen ziemlich konservative Mainstream-Republikaner – in den Vorwahlen zu den Kongresswahlen im November – aufzustellen. Mit Sarah Palin haben sie außerdem eine Gallionsfigur gefunden, die das Establishment der Republikanischen Partei erschüttern und Präsidentschaftskandidatin in den nächsten Wahlen werden will. Außerdem sieht es so aus, als seien sie finanziell gut aufgestellt. Die Kongresswahlen im November werden ein Test für sie sein. Ein weiterer Unterschied zwischen den Neokonservativen um George Bush und den Tea Party Leuten ist, dass die Neokonservativen (wenn auch Bush selbst nicht) eine gut ausgearbeitete und „schlechte“ Ideologie haben sowie eine Perspektive auf die USA als Weltmacht. Die Tea Party Leute sind da nicht so elaboriert. Die sind im Wesentlichen gegen „Big Government“, Anti-Steuer-Populisten eben. Natürlich können sie einen ziemlichen Schaden anrichten.

Die Gewerkschaften und die Demokratische Partei – eine tragische Beziehung?

Th.G.: Was die Gewerkschaften betrifft: Wie erklärst Du Dir den Mangel an Strategie und die ausschließliche Unterstützung von Obama?

K.M.: Das einzige Projekt, das US-Gewerkschaften in den vergangenen Jahrzehnten hatten, war die Unterstützung der Demokratischen Partei. Sogar das System der Muster-Tarifverhandlungen in den Hauptindustrien, das es bis in die 1980er gab, ist dahin. Die AFL-CIO bietet kaum etwas, was an strategisches Denken erinnert. Dazu muss man wissen: Die Demokratische Partei, an die die Gewerkschaftsführungen ihre Hoffnungen knüpfen, ist keine sozialdemokratische Partei, sondern Amerikas älteste pro-kapitalistische Partei. Sicher, sie ist liberaler als die Republikanische Partei, die sich auch weiterhin nach rechts bewegt – und sie ist auch abhängig von den Stimmen aus der Arbeiterklasse und scheint so den Gewerkschaften stärker zugeneigt zu sein. Aber die Partei bekommt den Großteil ihrer Spenden, durch die sie ihre Kampagnen finanziert – insgesamt hunderte von Millionen Dollar während der Präsidentschaftswahlen – von Geschäftsleuten, insbesondere von der Wall Street, aus Hollywood und den High-Tech-Industrien.

Natürlich, viele Leute hatten große Hoffnungen in Obama gesetzt, aber seine eigene Partei hat unter dem massiven Druck der Geschäftswelt in allen wichtigen Reformprojekten, die der Kandidat Obama versprochen hatte, versagt. Er selbst ist ein ziemlich normaler Liberaler. Die ältere Generation radikaler afroamerikanischer Politiker ist weitgehend von der Bildfläche verschwunden – seine Generation stammt eher aus der Mittelschicht und ist politisch konventionell. Um ein Beispiel zu geben: Während er sich öffentlich um Armut, Bildung usw. sorgt, hat er gleichzeitig kein spezielles Programm, das den innerstädtischen afroamerikanischen Communities helfen könnte, die sich in einer ausweglosen Notlage befinden.

So wie es aussieht haben die Gewerkschaftsführungen wenig Alternativen, solange sie nicht bereit sind, die Menschen auf die Straßen zu bringen, eigenständig zu mobilisieren.

Th.G.: Gibt es einen linken Flügel in der Demokratischen Partei, auf den die Gewerkschaften setzen? Soviel ich weiß, arbeitet auch die offizielle Sozialdemokratie, die Democratic Socialist of America (DSA), bei den Demokraten mit. Das würde es ja wenigstens plausibel machen, weshalb Gewerkschaftsführungen ausschließlich die – wie Du sie nanntest – älteste pro-kapitalistische Partei unterstützen.

K.M.: Mitglieder der DSA haben jahrzehntelang versucht, die Demokraten nach links zu bewegen, ohne damit sonderlich erfolgreich gewesen zu sein. Klar, im Kongress und anderswo gibt es Demokraten, die auch in Europa als Sozialdemokraten durchgehen könnten. Allerdings sitzt nur ein einziger bekennender Sozialist im Kongress, Bernie Sanders. Und der ist kein Demokrat, sondern ein unabhängiger Kandidat. Wenn ich sage, die Demokratische Partei ist Amerikas ‘älteste pro-kapitalistische Partei’, dann meine ich, dass sie ideologisch und politisch immer dem Kapitalismus als System verbunden gewesen ist, obwohl die Partei zu Zeiten bereit war, einige Reformen durchzusetzen – wie etwa in den 1930er und 1960er Jahren, als Massenbewegungen eine Bedrohung der ‘Ordnung’ wurden. Seit Mitte des 19. und das gesamte 20. Jahrhundert hindurch wurde sie von Teilen der Wall Street und verschiedenen Sektoren der „Dienstleistungswirtschaft“ unterstützt und auch geführt, wahrend die Industriellen vorwiegend Anhänger der Republikaner waren. Wie auch immer, das Kapital finanziert seit langer Zeit beide Parteien. Wie David Harvey kürzlich schrieb: „Die Partei der Wall Street hat immensen Einfluss sowohl innerhalb der Demokratischen Partei wie auch bei den Republikanern.“ Und sicher, die Gewerkschaften stellen auch Gelder für die Demokraten zur Verfügung; allerdings in erheblich geringerem Ausmaß als es das Kapital sich erlauben kann. Eine andere Sache ist die direkte politische Einflussnahme. Es gibt keine offizielle Anbindung an die Demokratische Partei. Auch wenn die Gewerkschaften und eine Mehrheit der Wähler aus der Arbeiterklasse seit den 1930er Jahren die Demokraten unterstützt haben, gibt es für sie keinen offiziellen Weg, in der Partei die eigenen Interessen auch wirklich durchzusetzen. Schließlich sind die beiden Hauptparteien in den USA keine wirklichen Mitgliederorganisationen. Man lässt sich lediglich in den Einzelstaaten als Mitglied registrieren, ein wirkliches Mitgliederleben gibt es nicht. Die Demokratische Partei wird durch die Geschäftswelt finanziert und in der Regel von Berufspolitikern geführt, die der Oberschicht angehören. Seit dem Ende des Bürgerkrieges (1865) und in den 1920ern und sogar in den 1930ern hat es verschiedene Bemühungen gegeben – einige sogar recht vielversprechend – eine Labourparty nach englischem Vorbild oder eine sozialistische Partei aufzubauen.[7] Sogar in den 1990ern versuchten fünf oder sechs Gewerkschaften eine Labourparty zu gründen. Aber all diese Versuche sind aus sehr verschiedenen Gründen gescheitert. Über die Ursachen könnte man mehrere Untersuchungen anstellen.

Innergewerkschaftliche Kräfteverhältnisse

Th.G.: Du hast oben die Spannungen und Konflikte zwischen einzelnen Gewerkschaften sowie die Konkurrenz zwischen der AFL-CIO und der CtW-Federation erwähnt. Wie sehen die Kräfteverhältnisse in den Gewerkschaften aus? Ich nehme an, es gibt auch innerhalb der Bürokratie Spannungen, Gräben. Gibt es in den Apparaten so etwas wie ‘linke Flügel’? Und wie verhält sich die Mitgliedschaft?

K.M.: So etwas wie einen ‘linken Flügel’ innerhalb der Organisationen der Arbeiterbewegung gibt es durchaus. Beispielsweise ist der Vorsitzende der Stahlarbeitergewerkschaft ein Sozialdemokrat. Und es gibt kleinere Gewerkschaften wie die „United Electrical“ (UE), die International Langshore and Warehouse Union (ILWU) oder das „Farm Labour Organising Committee“. Andere, wie die „Communication Workers of America“ (UCWA) kann man als Mitte-Links beschreiben. Abgesehen von wenigen Ausnahmen unterstützen sie aber politisch alle die Demokraten. Sich selbst sehen die meisten Gewerkschaftsführer natürlich als „Progressive“.

Soweit es um radikalere Entwicklungen geht sind einerseits gewerkschaftliche Kooperationen mit Einwanderern und ihren Organisationen sowie mit Arbeiterorganisationen, die auf der Ebene der Community arbeiten (die sog. Workers’ Center), interessant, andererseits innerorganisatorische Proteste und „Rebellionen“ in der Mitgliederbasis, die es in jüngster Zeit gab, in denen Basisaktivisten gegen die Politik von Gewerkschaftsführungen gekämpft und Alternativen entwickelt haben. Man sollte wissen, dass es in der us-amerikanischen Arbeiterbewegung so etwas wie eine Tradition für „Mitgliederrevolten“ gibt. Vor kurzen haben derartige Rebellionen in mehreren sehr großen lokalen Gewerkschaften dazu beigetragen, Widerstand gegen Angriffe der „Arbeitgeber“ zu fördern. Darunter sind die „Teamster“ in New York (rund 8000 Mitglieder), die „Transport Workers“ in New York (35000 Mitglieder) und die Lehrergewerkschaft in Chicago (etwa 30000 Mitglieder). Die letzten beiden Gewerkschaften werden von Linkssozialisten geführt. Außerdem gibt es auf der lokalen Ebene mehrere Gliederungen, in denen Linke die Leitungen stellen. Allerdings bilden sie alle keine vereinigte Kraft innerhalb der gesamten Arbeiterbewegung. Erwähnenswert ist noch, dass viele Linke bei Gewerkschaften angestellt sind. Sogar im Hauptquartier der AFL-CIO gibt es Sozialisten.

Die wirkliche Spaltung innerhalb der Bürokratie fand aber 2005 mit der Abspaltung der CtW-Federation statt. Aber dabei ging es nicht um „Links“ versus „Rechts“, sondern um taktische Meinungsverschiedenheiten. Der Streitpunkt war das Organizing.

Perspektiven des Widerstandes – Entwicklungen an der Mitgliederbasis

Th.G.: Kannst Du etwas näher auf die Entwicklungen an der Basis eingehen?

K.M.: In den 1960er und 1970er Jahren haben die meisten einflussreicheren Industriegewerkschaften größere Mitgliederrebellionen sowohl in Form wilder Streiks oder ähnlicher Aktionen als auch durch Herausforderungen des Establishments auf lokaler oder landesweiter Ebene erlebt. In den 1980ern und 1990ern gab es so etwas noch bei den Teamster’s und der UAW (United Automobile, Aerospace and Agricultural Implement Workers of America). In jüngerer Zeit beschränkten sich solche Rebellionen auf den lokalen Bereich – so, wie ich es oben beschrieben habe. Natürlich gibt es noch mehr Beispiele, auch in der SEIU, in der es z.B. linken Aktivisten gelungen ist, die gegen die Führung Andy Sterns’ opponiert haben, zwei lokale Gewerkschaften für ihre Politik zu gewinnen. Klar, diese Rebellionen sind nicht stark genug, um die Arbeiterbewegung als Ganzes zu verändern, aber immerhin zeigen sie, dass es innerhalb der Bewegung ein bestimmtes Maß an Unzufriedenheit gibt.

Th.G.: Wenn ich das alles zusammenfasse, dann ergibt das ein ziemlich düsteres Bild: Gewerkschaftsführungen, die sich von einer Demokratischen Partei abhängig machen, die Du als eine Art liberaleren Flügel eines rechtslastigen politischen Zentrums (Demokraten Republikaner) beschrieben hast. Angesichts des Umstandes, dass nur ein sehr kleiner Teil der us-amerikanischen Arbeiterklasse überhaupt organisiert ist, scheinen mir selbst die von Dir genannten Beispiele nicht eben ermutigend. Siehst Du Licht am Ende des Tunnels? Oder wenigstens einen Funken?

K.M.: Im Moment sieht das Bild tatsächlich düster aus. Aber in den Vereinigten Staaten sind Veränderungen in der Gewerkschaftspolitik und im Wachstum der Gewerkschaften selten eine schrittweise und allmähliche Entwicklung. Wachstum und Veränderung werden eher von generellen Aufschwüngen der Militanz und des Kampfgeistes in den verschiedenen Industrien begleitet oder angetrieben, manchmal auch durch soziale Massenbewegungen wie die amerikanische Bürgerrechtsbewegung oder die Frauenbewegung. So war es in den 1960ern und 1970ern. Sowohl in den 1930ern als auch in den 1960er und 1970er Jahren wurde der Aufschwung der Arbeitermilitanz durch eine immense Intensivierung der Arbeit ausgelöst. Die jüngste Wirtschaftskrise hat eine bereits zuvor scharfe Intensivierung der Arbeit in den meisten Industrien sogar noch beschleunigt. Ein Beleg dafür sind die unfassbaren Sprünge in der Arbeitsproduktivität, die sich in den Wirtschaftssektoren außerhalb der Finanzsphäre in der Zeit von 2009 bis 2010 feststellen lassen. Manchmal gibt es Produktivitätssteigerungen von 6 oder sogar 8 Prozent in nur einem Quartal. Da es keine nennenswerten Neueinstellungen und weiterhin Entlassungen gibt, dürfte klar sein, dass diese Gewinne nur durch die Intensivierung des Arbeitsprozesses und die härtere Belastung der verbliebenen Gesamtarbeitskraft erreicht werden konnten. Die Löhne bleiben, wie schon seit einiger Zeit, hinter diesen Produktivitätssteigerungen weit zurück. Die wenigen Rebellionen und Streiks, die ich oben erwähnt habe, hatten alle mit verschiedenen Formen der Intensivierung des Arbeitsprozesses zu tun. Insbesondere in Krankenhäusern gilt das, dem Herzstück der US-Gesundheitsindustrie. Hier sind nur 10 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, allerdings sind von denen, die in den letzten Jahren in diesem Bereich zu arbeiten angefangen haben, 27 Prozent in einer Gewerkschaft. Wir haben es hier mit einem boomenden Sektor zu tun, der in Folge der von der Obama-Regierung betriebenen (von den Privatkonzernen aber weitgehend diktierten) Reform im Gesundheitsbereich sogar noch schneller wachsen wird. Gleichzeitig handelt es sich um einen Bereich, in dem in den letzten paar Jahren auch der Widerstand und der Organisationsgrad gewachsen sind.

Wendepunkte und Aufschwünge von Kämpfen vorauszusagen ist normalerweise eine undankbare Aufgabe, aber ich glaube, dass eine Vertiefung von Widerständen auch in anderen Industrien wahrscheinlich ist. Ich habe vorhin die Workers’ Center und Einwanderer erwähnt. Am 1. Mai 2006 haben rund 5 Millionen Arbeiter mit Migrationshintergrund einen „Day without Immigrants“ organisiert. Faktisch war das ein Streik, der mehrere Industrien lahmgelegt hat. Kleinere Demonstrationen gab es seitdem an jedem 1. Mai. Immigranten, die rücksichtslos ausgebeutet werden und sich nun in ihren Communities und in den Gewerkschaften organisieren, sind m.E. ein wichtiger Faktor für das Anwachsen von Widerstand. Und erfreulicherweise gibt es heute eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Einwandererorganisationen. Sowohl innerhalb der Gewerkschaften als auch über diese hinaus entsteht so eine unberechenbare Situation. Denn es gibt die Möglichkeit, dass die Gewerkschaften mit einer sozialen Bewegung von beträchtlicher Größe und – ich denke an Migranten als Arbeitskräfte – großer Bedeutung für die Wirtschaft zusammenkommen.

Wenn man heute die Chancen und Möglichkeiten einer Veränderung bzw. generell der Entwicklung auch der politischen Linken in den Vereinigten Staaten verstehen will, dann sollte man sich die „Bewegungen von unten“ in der Arbeiterklasse anschauen und weniger auf die Ebene der Regierungspolitik starren – auch wenn das momentan sehr anstrengend für die Augen ist.

[1] Kim Moody arbeitet als Lecturer im Bereich der Industrial Relations Forschung an der University of Hertfordshire. Seit den frühen 1960ern ist er in der amerikanischen Linken aktiv und gehörte zu den Mitbegründern des Magazins Labor Notes (www.labornotes.org). Einige seiner wichtigsten Arbeiten sind: „An Injury to All: The Decline of American Unionism“ (1988), „Workers in a Lean World: Unions in the International Economy“ (1997) und „U.S. Labor in Trouble and Transition“ (London, 2007).

[2] Siehe für einer erste kritische Bilanz der „Obama-Ära“ z.B. Tariq Ali, The Obama Syndrome: Surrender at Home, War Abroad, London 2010.

[3] Vgl. auch Dianne Feeley, „Dieser notorische, untreue, betrunkene afrikanische Sozialist...“ Die amerikanische Tea Party Movement und die us-amerikanische Rechte. In: Sozialistische Zeitung, Novemberausgabe 2010.

[4] Einen Überblick über die Entwicklung der US-Gewerkschaften und Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert und den vergangenen Jahren bieten Kim Voss und Rick Fantasia in „Hard Work: Remaking the American Labor Movement“, London, 2004.

[5] Im Frühjahr 2009 verliess der ehemalige Vorsitzende der „Union of Needletrades, Industrial and Textile Employees“ (UNITE) Bruce Raynor die Gewerkschaft. Ihm folgten etliche lokale Gliederungen und zwischen 100 000 und 150 000 Mitglieder. Sie gründeten „Workers United“, schlossen sich der SEIU an und blieben in der CtW Federation. HERE-UNITE hingegen gehört seit September 2009 wieder der AFL-CIO an.

[6] Zum Konflikt in und mit der SEIU siehe Carl Winslow, „Labor's Civil War in California. The NUHW Healthcare Workers Rebellion“, Oakland 2010.

[7] Mike Davis bietet im ersten Teil seines Buchs „Prisoners of the American Dream. Politics and Economy in the History of the U.S. Working Class“, London 1986, einen breiten Überblick über die amerikanischen Klassenbeziehungen und die Beziehung der Arbeiterbewegung zu den dominierenden Großparteien.