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Der Tod steht ihr gut

Warum das Ende der Musikindustrie, wie wir sie kennen, auch die Chance für eine Wiederbelebung linker Gegenkultur bietet

Dezember 2010

Wer in der Glotze die Casting-Shows, in U-Bahn oder Mensa die vielen iPods oder von den Litaßsäulen die ewig gleichen Popstarmasken grinsen sieht, käme wohl kaum als erstes auf die Idee, dass es die Musikindustrie nun endlich erwischt haben müsse. Business as usual vielmehr, nimmt man die letzten 10, 20 Jahre als Vergleichszeitraum. Popmusic’s all around. Trotzdem; tatsächlich hat sich in der letzten Dekade in dieser Branche derartig viel verändert, dass man, das alte Frank-Zappa-Bonmot darauf anwendend, durchaus diagnostizieren kann: Popmusik ist vielleicht nicht tot, aber sie riecht schon etwas komisch.

Das liegt zunächst einmal daran, dass ihr schlicht und einfach die Umsätze und damit die Profite weggebrochen sind. Rund 40 Milliarden US-Dollar setzte die Musikindustrie weltweit noch im Jahr 1999 um, bei einem Absatz von ca. 4 Milliarden Tonträgern. 2009 betrug der Umsatz nur noch rund 25 Milliarden Dollar. Das ist eine Einbuße von ca. 40%. Und die allgemeine Wirtschafts- und Finanzkrise hat damit noch nicht einmal was zu tun. Für Deutschland sehen die Zahlen ähnlich aus. Hier sind die Gesamteinnahmen aus dem Verkauf von Tonträgern von ca. 2,2 Milliarden im Jahr 2002 auf 1,53 Milliarden Euro im Jahr 2009 zurückgegangen. Das sind 30% in nur 7 Jahren. Die CD bleibt mit 80% dabei größter Umsatzträger, hat aber gegenüber den legalen Downloads, die seit 2004 rasant anstiegen und 2009 bereits 8% des Gesamtumsatzes ausmachten, eingebüßt.[1] Diese Zahlen gelten für den gesamten Musikmarkt. Also inklusive Schlager, Klassik, Kinderprodukte, Comedy, Volksmusik usw. Das bedeutet, dass bestimmte jugendspezifische Pop-Segmente wie z.B. Electro oder Alternative beinahe auf ein Zehntel ihres früheren Umfangs zusammengeschrumpft sind. Es lässt sich insgesamt also kaum noch was, jedenfalls deutlich weniger, mit dem Pop-Zeug verdienen als noch vor 10 Jahren.

Außer vielleicht im Kerngeschäft. Also mit den weltweit bekannten und auf den internationalen Popmärkten bereits eingeführten Shakiras, Bonos und Lady-Gagas. Die von den Roten Teppichen, Wetten-Dass-Sofas und Grammy-Verleihungen. Und vielleicht noch den zwei, drei, vier national etablierten Bambi- und Echo-Abräumern. Das finanzielle Risiko für die Firmen der Musikindustrie, eine neue Gruppe oder einen neuen Künstler aufzubauen, ist zudem ziemlich hoch, und wird hierzulande in der Region von 150.000 bis 200.000 Euro veranschlagt.[2] Das überlegt man sich natürlich dreimal. Oder man vermarktet die Rekrutierung und das Auswahlverfahren des bisschen Künstler-Nachwuchses, dessen man heute noch bedarf, gleich mit, bindet den Konsumenten von Anfang an und ohne Risiko ans Produkt und vertickt die Werbeflächen teuer weiter. So funktioniert der weltweit erfolgreiche Menschenselektions-Markt der gängigen TV-Casting-Shows à la American Idol, DSDS oder Popstars.

Die Erosion im Tonträger-Verkauf liegt, so der allgemeine Befund, natürlich am Internet, den illegalen Downloads, Tauschbörsen, youtube, myspace, schwarz gebrannten CDs, USB-Sticks, den vielen iPods oder was auch immer. Die digitale Welt killt den Tonträgerhandel. Dem ist auch nicht zu widersprechen. Trotzdem liegt der Umsatzwegbruch natürlich nicht nur an der illegalen Download- und CD-Brennerei. Der westliche Wohlstands-Normalo-Jugendliche gibt sein Taschengeld heute eben nicht mehr nur einfach für CDs oder Downloads aus. Auch Handys, DVDs, Spielekonsolen, Games, Apps und Markenturnschuhe für mitunter 200 Euro und mehr gehören zu seiner Identitäts-Ausstattung und wollen angeschafft werden. Es ist davon ja auch nicht nur die Musikbranche betroffen. Der Kinomarkt ist darüber ebenfalls weitgehend in sich zusammengebrochen.

Verblendung

Nun gibt es neben der ökonomischen Größe Musikindustrie noch einen anderen, soziologischen Begriff davon: Horkheimer und Adorno haben in ihrer„Dialektik der Aufklärung“ (1947) ein Kapitel der Kulturindustrie gewidmet und damit diesen Begriff eingeführt. Das Kapitel heißt vollständig nicht von ungefähr „Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug“. Seine Kernaussage lautet ganz grob zusammengefasst:

Die spätkapitalistischen Massenmedien sind allein auf den Profit fixierte Unternehmen, die ihre Konsumenten betrügen und zur Stabilisierung des Herrschaftssystems beitragen. Aber nicht weil sie von bösen, elitären, sich gegen die wahren Interessen der Massen verschworen habenden Kulturkapitalisten betrieben werden, sondern weil das eben ganz stinknormale Akteure des Kapitalismus sind, der durch die Struktur seiner selbst alles zur Ware macht – also auch die Kulturgüter. Die grundsätzlichen Anforderungen, die der kapitalistische Markt an eine erfolgreiche Ware stellt, korrespondieren nun einmal nicht mit der Herstellung kritischen oder gar widerständigen Bewussteins: Das schnelle, unkomplizierte Glücksversprechen, die glamourhafte Aura, der Look des immer wieder Neuen, das den Vorzug hat, niemals aktuell zu bleiben – all dies haben emanzipatorische Aufklärung und linke Theorie, wenn sie’s ernst meinen, nicht zu bieten.

Auch wenn dies für zwei bis drei Jahrzehnte im letzten Jahrhundert mal anders gewesen zu sein schien. Da erblickte die Linke ja noch in der Pop- und Rockmusik einen grundsätzlichen, auf gesellschaftliche Emanzipation gerichteten Befreiungsgestus. Spätestens die sich ab Mitte der 1980er abzeichnende und wenig später eintretende, weltweite politische Niederlage der Linken von 1989 ff. bewirkte aber schließlich das völlige Verschwinden linker Positionen sowohl in der Politik als auch in der Ästhetik. Auch wenn die sich selbst Pop-Linke oder Independent nennenden Szenen der 1990er Jahre das nicht wahrhaben wollten: Brennende Asylbewerberheime, Golfkrieg 2, Belgrad-Bomben, marktradikale Schocktherapien und neoliberales Tabula Rasa in Polen, Russland, Asien, Lateinamerika. Die Love Parade marschierte in Berlin als Triumphzug für Helmut Kohl. Aber man selbst leistete kulturellen Widerstand gegen die konformistische Macht im Innern des Kapitalismus, indem man sich Madonna-Videos anschaute und College Radio hörte. Bloß schade, dass niemand sich auch nur zu einer einzigen, gedanklich klaren politischen Position dabei aufraffen konnte.

Die Popmusik begann von da an, gepushed von der Musikindustrie und ohne relevante politische Bezugnahme durch eine linke Bewegung, sich ausschließlich als das und zu dem weiterzuentwickeln, was sie heute ist: Nicht mehr und nicht weniger als eine ganz normale Ware im Kapitalismus, die dazu da ist, wozu sie nun einmal da ist: Massenhaft gekauft zu werden, bequem konsumierbar zu sein und möglichst schnell zu veralten. Musikindustrie in diesem Sinne kann spätestens seitdem auch als massenideologische Speerspitze des Kapitalismus begriffen werden: Soundtrack zur New World Order und zum allgemeinen Pursuit of Happiness, als Gleitmittel im postmodernen Konsumentenleben und manifestierter allgemeiner Zustimmungswille zum Hier und Jetzt und den damit verbundenen Produktions- und Eigentumsverhältnissen. Rebellentum und Widerstand richtet sich darin nicht mal mehr gegen das Establishment, sondern nur noch gegen die Waren, die das Establishment letztes Jahr zum Kauf empfahl[3] – Konsumentendissidenz.

Analog zur politischen Entwicklung verorten sich hierzulande demnach auch die popmusikalischen Vertreter heute wieder vermehrt und auch ganz explizit politisch rechts. Campino von den Toten Hosen etwa sagte im taz-Interview, dass die Kanzlerin Merkel „einen guten Job“ mache.[4] Wolfgang Niedecken an gleicher Stelle (noch in Bezug auf Horst Köhler): „Wir haben einen guten Bundespräsidenten“[5], und Sven Regener, Sänger der Band Element of Crime und Autor des Bestsellers „Herr Lehmann“ outete sich im Spiegel ohne jede Not und Nachfrage einfach mal als Peer-Steinbrück-Fan.[6] Ziemlich ungelenk stellte sich der Sänger Bernd Begemann an, der als Mitbegründer der früher immer schwer antinational sich gerierenden „Hamburger Schule“ gilt. Er bekannte, dass er sich beim Hören der Nationalhymne immer so beruhigt und aufgehoben fühle, weil er wisse, dass er „bei etwas mitmachen darf. Weil ich gewählt habe, weil ich Steuern bezahle, weil ich die Institutionen in Anspruch nehme.“[7] Gerade in der Krise gilt für viele wieder: Hop, zurück ins Körbchen – aber schnell!

Wenn aber die Musikindustrie, wie eingangs skizziert, ökonomisch tatsächlich an ihr Ende gekommen sein sollte, dann würde ja auch die allgemeine ökonomische Basis für den musikindustriellen Verblendungszusammenhang im soziologischen Adorno/Horkheimer-Sinne – die einzig und allein am Profit sich orientierende Warenproduktion – demnächst wegfallen, und wir bräuchten dabei nur noch zuzuschauen. Ob das so kommt? Dem kann man sich nähern, wenn man sich die Entwicklungsgeschichte der Branche mal von ihren Anfängen her anschaut.

Geschichte

Als Gründungsmythos der Musikindustrie gilt die Erfindung der Schallplatte durch Emile Berliner im Jahr 1887.[8] Zuerst hatte zwar Thomas Alva Edison schon den Phonographen erfunden. Eine mit Silberpapier bezogene Walze zur Schallaufzeichnung; als Diktiergerät fürs moderne Büro gedacht, vertrieben von der Firma Columbia. Das Ding setzte sich aber am Markt nicht durch. Als Ausweg wurden zu Werbezwecken ein paar Phonographen mit Münzmechanismus und Abhörschläuchen an ausgewählten Orten aufgestellt, wo dann gegen Kleingeld Blaskapellen-Musik darauf abgespielt wurde. Kurioser Weise wurde dies zu einem wirtschaftlichen Erfolg und gilt als Geburtsstunde der Music Box. Die Firma Columbia schwenkte vom Büromaschinensektor danach auf den Unterhaltungsmarkt um und begann in öffentlichen Räumen wie Kneipen, Eisbars und Restaurants ihre Geräte aufzustellen. Dadurch entstand eine schnell wachsende Nachfrage nach vorproduzierten Walzen. Eine neue Industrie war geboren, und Columbia schloss den ersten Künstler-Exklusivvertrag der Geschichte mit der United States Marine Band; einer Militärblaskapelle.

Emile Berliner hatte inzwischen mit seiner Schallplatten- und Plattenspieler-Erfindung in Hannover 1892 die Deutsche Grammophon Gesellschaft gegründet. Mit seiner Technologie war er in der Lage, von den Tonaufzeichnungen ein Negativ herzustellen, das sich als Pressmatzritze für eine faktisch unbegrenzte Zahl von Kopien eignete. Das Klangniveau der ersten Schallplatten war aber sehr niedrig und das Image der Hardware litt darunter. Um das zu ändern, stellte Berliner den ersten künstlerischen Leiter ein, den Urvater aller A&R-Manager: Fred Gaisberg (A&R = Artist & Repertoire). Der zog bald quer über den europäischen Kontinent und nahm vor Ort authentische Musiken auf, um sie auf Platte zu pressen: Heurigenlieder in Wien, Fandangos in Madrid, Chansons in Paris, Balalaika-Musik in Russland und Opernarien in Berlin. 1902 entdeckte er in der Mailänder Scala den bis dahin unbekannten Tenor Enrico Caruso. Gaisberg nahm ihn unter Vertrag, und die Platten wurden der Renner schlechthin. Caruso bekam Engagements weltweit, und die Schallplatte erlebte ihren ersten Quantensprung. Es hagelte Firmengründungen, die an den Erfolg Berliners andocken wollten, und auch in Amerika zog der Markt bald an. Die Columbia stellte 1912 ihre Music Boxes auf Platten um.

Die Grammophone waren dagegen für die zahlungskräftigen Schichten des Bürgertums bestimmt und hatten auch vom Design her eher den Charakter eines anmutigen Schreins. Das Repertoire bestand dem entsprechend vorwiegend aus Opernarien. Das aufgenommene Material war in dieser frühen Phase der Branche in allererster Linie als Verkaufshilfe für die Hardware gedacht und konzentrierte sich demgemäß auf solche Musiken, welche die Vorzüge des jeweiligen Systems am besten zur Geltung bringen konnte und gleichzeitig dem Geschmack des Zielpublikums – hier E-, da U-Musik – am nahesten kam. Das entwickelte allmählich eine Eigendynamik, und in den frühen 1920er Jahren stellte die Schallplattenindustrie kurzzeitig mal die größte Sparte der amerikanischen Unterhaltungsindustrie, noch vor dem Stummfilm, dar.

Die Freude darüber währte aber nicht lange, denn plötzlich kam eine Technik auf dem Markt, die es dem Musikliebhaber ermöglichte, Musik in viel besserer Qualität zu Hause zu konsumieren, ohne dafür zu bezahlen. Die Höllenmaschine hieß Radio. Und sie war, genau wie viele Jahre später das Internet, ursprünglich für militärische Zwecke entwickelt worden. Ab 1922 konnte man es in den USA quasi in jedem Haushalt empfangen. Die Phonoindustrie war auch noch blöd genug, aus reinen Werbezwecken den Radiostationen zu gestatten, kostenlos ihre Tonträger im Programm zu spielen. Die Weltwirtschaftskrise tat das ihrige, und so ging die Branche in den frühen 1930er Jahren arg in die Knie. Man reagierte mit Preissenkungen für Schallplatten um mehr als die Hälfte. Es kam zu Pleiten, Übernahmen, Fusionen usw. Nur wenige, hochgradig integrierte Firmenkonglomerate blieben übrig.

Es heißt, durch einen Zufall – die afroamerikanische Blues-Sängerin Mamie Smith sprang bei Okeh Records für die erkrankte Sophie Tucker ein und verkaufte aus dem Stand eine Million Platten – wurden „die Schwarzen“ als potentielle Plattenkäufer entdeckt. Das führte dazu, dass die Musikfirmen nun kalkuliert zielgruppenorientiert vorgingen. „Race-Music“-Sparten wurden gegründet (später: Blues, Soul, R&B usw. genannt) und daneben Hillbilly (später: Country & Western) für die weiße Everyday-People-Landbevölkerung als Genre eingeführt. Klassik blieb fürs Bildungsbürgertum und ein zunächst „Popular Music“ genanntes Segment für alles weitere Gedudel, das sich verkaufen ließ. Die avisierten Konsumenten, auch weil sie sich’s nun leisten konnten, belohnten das, und die Branche erholte sich wieder. Der Musikmarkt fächerte sich weiter auf mit der Folge, dass nun auch spezielle unternehmerische Instrumente dafür entwickelt wurden. So z.B. die seit 1940 von der Branchen-Zeitschrift Billboard veröffentlichten Charts, also Verkaufszahlen in diversen Kategorien, zur Marktbeobachtung und Rationalisierung der Musikindustrie, zu zielgruppenorientiertem Marketing usw.

Der Zweite Weltkrieg bedeutete in Europa dann zwar weitgehend Stillstand für die Musikindustrie. In den USA aber verfünffachte sich der Umsatz zwischen 1938 und 1947. Es entstanden neue, sich auf einzelne Musikrichtungen spezialisierende Labels, und der Musikmarkt stand bald wieder stabil neben Film, Radio und dem noch neuen Fernsehen. Sodann hielten technische Neuerungen Einzug: Das Magnetophonband, später in den Fünfzigern sogar das Mehrspurverfahren und schließlich natürlich der Kunststoff Vinyl, das eine engere Rillenführung erlaubte bei geringerer Abspielgeschwindigkeit. Die LP war geboren. Die neue Technik machte das Musikgeschäft auch für die Hardwarehersteller wieder attraktiver. Sie expandierten und kauften, wie beim Monopoly, die inzwischen teilweise ausgegliederten Plattenlabels wieder ein: z.B. Siemens die Deutsche Grammophon, Philips die Phonogram, und bei CBS hatte man bald sogar noch viel mehr unter einem Dach: Neben Fernsehen, Radio und Schallplatten gab es Musikinstrumente – die Marken Fender und Steinway gehörten zum Konzern – und natürlich Hifi-Geräte.

Die Musikindustrie lieferte bis in die 1950er Jahre hinein also im Grunde immer nur die Inhalte fürs Kerngeschäft der Abspielgeräte. Sie konnte in ihren Boomzeiten zwar dank hoher Renditen eine gewisse ökonomische Eigenständigkeit und Ausdifferenzierung erlangen, wurde schließlich aber jedes Mal wieder eingeholt und eingefangen von den Geräteherstellern, wenn der technische Fortschritt an ihren Produkten vorbeizog oder die regelmäßigen ökonomischen Krisen des Kapitalismus ihre Umsätze einbrechen ließen.

Pop

A propos Umsätze. Was darauf folgte, war die rund 30jährige, goldene Nachkriegs-Boomzeit und das damit eng verbundene Phänomen, ohne das man sich die Musikindustrie, wie wir sie noch kennen gelernt haben, gar nicht vorstellen kann; eine kulturelle Revolution mit der Jugendkultur als Blaupause, also das, was man heute noch Popkultur nennt. Die kapitalistische Produktion hatte in den westlichen Industrienationen und Japan während der boomenden Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem einfachen Lohnarbeiter, der sein bitter verdientes Geld vollständig in die Reproduktion seiner Arbeitskraft und die Versorgung seiner Familie zu investieren hatte, die Figur des modernen Konsumenten gezaubert. Die westliche Welt erlebte unter Anwendung des Massenproduktionsmodells Henry Fords bis in die 1970er Jahre hinein eine einzigartige Phase ihrer Geschichte. Eine gigantische Massenkaufkraft war entstanden. Arbeiter und Angestellte waren auf einmal in der Lage, Produkte zu kaufen, die noch wenige Jahre vorher als verschwenderischster Luxus gegolten hatten. Im Zuge dieser Entwicklung betrat auch ein neuer Konsumenten-Typ den Markt, ohne den die Popmusik nicht wäre, was sie ist bzw. war: der Teenager mit Taschengeld. Die Mode- sowie die Musikindustrie begriffen ihre darin liegende Chance sehr schnell und erschufen eigene, speziell auf diese Zielgruppe zugeschnittene Formate.

Die kulturelle Praxis funktionierte dabei so: Die weißen Mittelstands-Milieus, vor allem in den USA und in Großbritannien, ausgestattet mit dem Post-New-Deal-Nachkriegswohlstand, eigneten sich nach und nach die Musik, die Kleidung und sogar die Sprache der armen, vorwiegend schwarzen Schicht an. Die Bedeutungsebene der Originale verlagerte die Pop-Industrie dabei auf den Kampf fünfzehnjähriger Schulabgänger um die eigenen Freizeitmöglichkeiten in der stabilen Mittelschicht dieses Goldenen Zeitalters. Schon bald war jeder junge Erwachsene auch schon als Mitglied einer dieser selbstbewussten Jugendkulturen sozialisiert worden und hatte die Merkmale dieser frühen, prägenden Konsumerfahrung als Gewohnheit verinnerlicht und ein grundsätzliches Bedürfnis nach Aufladung der eigenen Persönlichkeit durch Güter der Popkultur herausgebildet. „Ist dieses Schema erst einmal erlernt und verinnerlicht, funktioniert es auch noch Jahre nach der Pubertät und schafft gleichzeitig wieder und wieder neue Generationen junger Popfans.“ Mit diesen Worten verriet der frühere Branchen-Primus Tim Renner einmal, ganz unironisch, die Geschäftsgrundlage des Pop-Prinzips.[9]

1979 war’s dann aber mal wieder soweit: 11% Umsatzeinbruch in einem Jahr. Was war da los? Zum einen die „Zweite Ölkrise“ genannte allgemeine Rezession in den westlichen Industrienationen. Zum anderen aber kam eine strukturelle Krise dazu: Die Interessen der Rundfunkindustrie und die der Tonträgerhersteller liefen auseinander. Es gab einen Zielgruppenkonflikt. Die Baby-Boomer-Generation, geboren nach dem Zweiten Weltkrieg bis Mitte der Fünfziger, trat in das Alter ein, wo sie nicht mehr im Fokus der Musikindustrie stand. Die Hauptabnehmer ihrer Produkte waren die 12-24jährigen. Die mittleren Altersjahrgänge dagegen waren und sind für andere Sektoren der Konsumgüterindustrie besonders interessant, lassen sich aber nicht mehr ansprechen von den Musikgewohnheiten der gerade Pubertierenden. Kurzum, das Werbeumfeld in Rundfunk und Fernsehen deckte sich nicht mehr mit der Zielgruppe der Musikindustrie, mit der Folge, dass diese eines ihrer wichtigsten Popularisierungsinstrumente verlor. Hinzu kam noch 1980 die Markteinführung des Walkman, was dazu führte, dass immer mehr Musik auf Cassetten kopiert wurde, anstatt gekauft zu werden.

Einen Ausweg aus der Krise fand die Musikindustrie aber schon 1981 mit der Einführung der eigenen Marketingmaschine MTV – einem Kanal im gesellschaftlichen Leitmedium Fernsehen, der ausschließlich aus Werbung für Tonträger und Klamotten bestand – und, 1982, der CD. Letztere war eine gemeinschaftliche Entwicklung von Sony und Philips, die dafür eine strategische Partnerschaft eingingen, und läutete die digitale Phase der Branche ein. Die Silberlinge gingen weg wie warme Semmeln, und 1985 befeuerte Bob Geldof mit Live Aid, dem größten Rock-Konzert der Geschichte, das Ganze noch einmal. Das brachte nämlich nicht nur ein paar Millionen Dollar für die Hilfsprojekte in Äthiopien ein. Es bescherte auch der nach der Branchenkrise Anfang der 80er Jahre schwer angeschlagenen Musikindustrie, die sich von der Einführung des CD-Formats ihre Rettung versprach, einen Milliarden-Schub. Die Hungergala fungierte dabei gewissermaßen als Katalysator. Die Leute fingen an, sich das Repertoire ihrer Vinylsammlungen noch mal neu auf CD zuzulegen, und noch heute wird Geldof, der musikalisch im Grunde nie etwas Nennenswertes auf die Beine gestellt hat, von altgedienten Business-Tycoons wie eine Art Erlöser gefeiert und verehrt. Nach 1989 fielen dann auch noch die sozialistischen Staaten, und damit wurde ein weiterer, riesiger Markt aufgetan, wo man CDs verkaufen konnte. Das ging so bis ca. 1997 gut.

Showdown im Netz

Die ersten CD-Brenner kamen 1998 auf den Markt. Die Konsumenten begriffen schnell und brannten an ihren Rechnern fleißig drauf los, hörten die Musik aber erstmal weiter auf ihren Hifi-Geräten. Die Branche reagierte darauf zunächst mit Kopierschutzmaßnahmen, die aber Abspielprobleme und Kundenbeschwerden nach sich zogen und zudem auch noch leicht zu knacken waren. Gleichzeitig begann auch schon der weltweite Internetboom. Aber erst mit der kostenlosen Verbreitung des Datenkompressionsverfahrens MP3, das einen Song der Datengröße 24 Megabyte auf 2 Megabyte ohne hörbaren Qualitätsverlust herunterrechnet, und den günstigen Internet-Flatrates begann das im Netz-Jargon liebevoll Filesharing genannte Raubkopieren en masse. Die Technik der „Tauschbörsen“ basiert auf einer recht ausgeklügelten, vom damals 19jährigen College-Abbrecher und Napster-Gründer Shawn Fanning entwickelten Software-Technologie, die es jedem Nutzer ermöglicht, auf sämtliche Festplatten der anderen Teilnehmer zuzugreifen und sich die dort vorhandenen Musikstücke direkt herunterzuladen. De Facto steht dadurch das gesamte weltweite Musikrepertoire zur Verfügung, und der Download eines Stücks kostet – nichts. Eine für den ausgebrochenen Kommunismus sicherlich schöne Vorstellung, bis dahin aber eher unpraktikabel. Kein Wunder also, dass dies als ein weiterer Stachel im Fleisch von der durch radikale Umsatzeinbußen schwer gebeutelten Musikindustrie empfunden wurde. Die großen Plattenfirmen machten sich im Jahr 2004 intensiv daran, ausgewählte Tauschbörsen-Nutzer zu verklagen und mit hohen Schadenersatzforderungen zu überziehen, um einen Abschreckungseffekt zu erzielen. Die rechtliche Verfolgung hat nach Angaben der Musikindustrie Wirkung gezeigt: 58 % weniger illegale Downloads seit 2003.[10] Weil gleichzeitig die Zahl der legalen Online-Verkäufe erneut gestiegen ist, verbesserte sich das Verhältnis von gekauften zu illegal heruntergeladenen Songs. Auf einen legal erworbenen kommen aber immer noch rund fünf bis sechs illegale Downloads. In Deutschland kann der Konsument dabei aus über 40 legalen Internetangeboten für Musik wählen.

Der mit Abstand erfolgreichste legale Musikdienst im Internet ist der iTunes-Store der Firma Apple. Und das hat vor allem mit deren Hardware zu tun: Der erste iPod der Firma erschien im Jahr 2001. Das ist, wie jeder weiß, ein tragbarer MP3-Player. In den ersten drei Geschäftsjahren verkaufte Apple davon gut 3 Millionen Stück – Weiß Gott nicht schlecht. Der iPod wurde zu einem Phänomen, zur „lebensverändernden kulturellen Ikone“, wie Nesweek schrieb. In den vergangenen drei Geschäftsjahren aber waren es 160 Millionen Stück[11] – also gut 53 Mal mehr. Was das bedeutet, ist klar. Der iPod ist binnen kürzester Zeit das geworden, was Tesafilm für Klebestreifen, Tempo für Papiertaschentücher war und Google für Online-Suchmaschinen ist. Das, was man einen generischen Markennamen nennt, ein Name, der sich für eine ganze Produktgruppe durchgesetzt hat. Der iPod, wie das iPhone (ca. 50 Mio. mal verkauft) sehen die Verknüpfung mit der Apple-eigenen Software iTunes vor, um die Geräte mit Musik zu bespielen. An iTunes gekoppelt ist die Online-Handels-Plattform iTunes-Store, wo man Musikstücke, aber auch Filme kaufen und downloaden kann.

Alle vier übrig gebliebenen großen Unternehmen der Musikindustrie – Universal, Sony/BMG, Warner und EMI – lassen ihr gesamtes Repertoire bei iTunes verticken, seit 2009 ohne Kopierschutz und für im Schnitt 99 Cent pro Titel. Nirgendwo wird mehr Musik verkauft als in diesem Online-Laden. Mittlerweile, so heißt es, 3 Millionen Songs am Tag, also ein Umsatz von rund 1,3 Milliarden Dollar im Jahr. Aber der weltweite Gesamtumsatz liegt immer noch bei 25 Milliarden. Apple hat daran also einen Anteil von gut 5 Prozent. Nicht schlecht, aber natürlich lange nicht marktbeherrschend. Die Tendenz geht allerdings in diese Richtung. Und der Schlussakkord der traditionellen Tonträgerhersteller scheint auch angeschlagen: Selbst das erste CD-Presswerk in der Emil-Berliner-Straße in Hannover Langenhagen, dem Standort, an dem vor 112 Jahren die weltweite Tonträger-Massenproduktion überhaupt ihren Anfang nahm, wird derzeit abgewickelt.

Zurück in die Zukunft

Die Prognose ist nicht allzu gewagt: Popmusik wird im Verlauf der nächsten paar Jahre mehr und mehr und ausschließlich zu dem werden, was heute schon die sogenannten Apps, die Handy- und MP3-Player-Applikationen, sind. Content für die Hardware zum Verkauf. Beliebiger, billiger Inhalt also, der irgendwie die Hardware füllt und verziert. Reduziert auf reine Funktionalität, nicht weiter zu irritieren oder irgendwas herzumachen, was vom eigentlichen Produkt ablenken könnte. Keine Experimente, keine Neuerungen, kein anderes Bier. Sondern bloß das altbekannte Repertoire-Zeugs in genau den Sounds und Datenmengen, für die die Hard- und Software taugt. Der weiße Mittelschichts-Hipster hat ausgedient. Der, der intensiv und systematisch die vorwiegend schwarzen Undergroundszenen abschnuppert, auf dass sich daraus für seine Schicht noch mal ein neuer Dresscode oder Musikstil entnehmen lasse. Heißt also wieder: Schlagerparaden rauf und runter – von gestern und heute, für jung und alt, vom Stadl bis The Dome, Hardcore bis Bumsfallera. Das bisschen, was in der Unterhaltungsmusik noch an saisonalen Neuerungen nötig ist, lässt sich leicht bei Internetforen wie myspace oder youtube abschöpfen.

Die Situation erinnert wirklich stark an die Anfänge der Musikindustrie. Ökonomisch kehrt die Branche zu dem zurück, was sie vor Beginn des „Goldenen Zeitalters“, also vor 1945, war: ein reines Anhängsel der Hardwareproduzenten. Die sind nun nicht mehr im traditionellen Hifi-Bereich zu Hause, sondern in der IT-Branche. Das ist natürlich nicht ihr Tod. Die musikindustrielle Warenproduktion und die daran gekoppelte Verblendung gehen munter weiter, auch wenn die Geschäfte schlechter laufen. Die Musikindustrie wird künftig kommerziell aber ganz sicher eine deutlich geringere Rolle spielen als man es über die letzten 50 Jahre von ihr gewohnt war. Ein vollkommen normaler Vorgang im Kapitalismus. Allerdings womöglich mit erheblichen kulturellen Auswirkungen. Schon heute ist spürbar: Das pubertäre Bedürfnis nach Aufladen der eigenen Persönlichkeit mit Produkten und Idolen der Popmusikindustrie wird bei Jugendlichen und Erwachsenen nach und nach geringer. Es hat sich verlagert auf andere Konsumgüter mit anderen Möglichkeiten der identitären Ausstaffierung: Schüler/StudiVZ-, Myspace- oder Facebook-Profile, verschiedene Rollen in Fantasy-Spielen oder das Erschaffen virtueller Charaktere in Online-Games wie „World of Warcraft“ etc. Und auch das andere Ding, worum es in Rock- und Popmusik immer ging – das Entdecken, Beschreiben, Propagieren und Verhandeln von Sexualität – ist natürlich längst anderswo prickeliger, expliziter und anschaulicher zu haben. Im Internet nur einen Mausclick weiter, bei youporn um die Ecke. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass die Geschäfte mit dem gleichen Trick – der systematischen Verarschung und Verramschung jugendlicher und erwachsener Pubertätsbedürfnisse – inzwischen ganz ähnlich, aber eben woanders gemacht werden.

Und noch was geht mit den Umsatzeinbrüchen in der Musikbranche flöten: Die in den 1950er/1960er Jahren entstandene Jugendkultur war ja seinerzeit nicht nur Ausdrucksmittel und Projektionsfläche für rebellierende bzw. einfach nach Individualität suchende Jugendliche oder sich politisch oppositionell verstehende Linke. Sie brachte daneben auch noch das Phänomen des stylishen Pop-Snobs hervor. (Nick Hornby setzte diesem Exemplar in seinem Roman „High Fidelity“ von 1995 ein sehr amüsantes, literarisches Denkmal.) Es entstand ein eigenständiges kulturelles Feld der Popmusik, das sich zwar formal von der bürgerlichen Hochkultur abgrenzte, die aber daneben fortbestand. Das brachte es mit sich, dass sich auch auf dem Pop-Feld ganz ähnliche kulturelle Spielregeln entwickelten wie auf dem der Hochkultur; nämlich das dicketuerische Differenzgebaren. Der 2002 verstorbene, französische Soziologe Pierre Bourdieu nannte diese allgemeine kulturelle Praxis, wie sein Hauptwerk aus dem Jahre 1987: Distinktion! Mit anderen Worten: Sozialdarwinistisches Rattenrennen mit popkulturellen Mitteln: Geschmack zeigen, gegen die Konkurrenz in Stellung bringen und dabei stets verschweigen, wie man diesen erwerben konnte und wie er gesellschaftlich legitimiert wird.[12] Man erbringt damit den Nachweis über die Menge und die Zusammensetzung des persönlich zur Verfügung stehenden kulturellen Kapitals und gibt Auskunft über die Position im Feld sozialer Klassen, die man innehat – und die, auf die man zustrebt. Die Arbeiterklasse und die Unterschicht spielen dabei keine andere Rolle, als für die permanenten popkulturellen Abgrenzungsrituale eine Art Kontrastfolie zu liefern; einen negativen Bezugspunkt, von den sich die anderen Ästhetiken in fortschreitender Negation absetzen. So wird das darin enthaltene Herrschaftsmoment, das sich ausdrückt in der Anerkennung und beständigen Fortschreibung der sozialen Unterschiede, auf denen die Spielregeln beruhen, nachgebetet und zum Maß aller Dinge erklärt. Die vorgefundenen Verhältnisse werden so nicht nur anerkannt, sondern permanent bestätigt und durch fortwährende popkulturelle Praxis verstärkt und damit in die Hirne und Herzen der Akteure auf dem Popfeld, sprich: der Konsumenten, eingebrannt.

Tod des Pop-Schnösels

Heute wirft das Geschäft mit Popmusik aber nicht mehr genug ab, als dass die Musikindustrie überhaupt ausreichend Waren zur Verfügung stellen könnte, die die vielen kleinen Popsnobs zu ihrer distinktiven Ausstattung bräuchten. Und, viel gravierender: Die materiellen Voraussetzungen des aufstiegswilligen Kleinbürgertums selbst, dessen unbedingter Wille zur kulturellen Abgrenzung von den Unterschichten für diese kulturelle Praxis eine ganz entscheidende Rolle spielt, gehen den Bach runter. „Die historischen Vorteile, die dazu führten, dass die meisten Bewohner Nordamerikas und die begünstigten Teile Europas, Japans und des australisch-ozeanischen Raums zu Beginn des neuen Jahrhunderts in den Genuss eines fünfmal höheren BIP pro Kopf als im Weltdurchschnitt und eines an den Maßstäben von 1900 gemessenen fürstlichen Lebensstandards kommen, schwinden allmählich.“ So brachte es der linke Historiker Eric Hobsbawm auf den Punkt.[13] Doch unlängst stellte sogar schon das stramm neoliberale Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer Studie fest, dass die klassische Mittelsschicht, deren Gewicht in der langen Periode seit dem Zweiten Weltkrieg so enorm gestiegen war, „Verlierer in den Umschichtungen in der Einkommensverteilung im letzten Jahrzehnt“ ist.[14] So entstehe eine „Statuspanik“ derjenigen, die fürchten, aus der Mittel- in die Unterschicht abzusteigen. Kurzum: Die staatstragende Mitte, die den systemischen Traum vom sozialen Aufstieg träumt, lebt und in ihren Lifestyle-Übungen an die unteren Schichten weitervermittelt – sie erodiert. Und hat womöglich bald ganz andere Sorgen als die, durch geschmackliche Ab- und Ausgrenzungsrituale stilistisch den Anschluss zu halten. Da wird der Kampf um die soziale Position im Zweifel mit ganz anderen Bandagen geführt werden. Den Luxus des Kleinbürger-Pop-Snobismus wird sich da kaum einer mehr leisten.

Es sieht also alles danach aus, als gehe die Epoche der Popmusik, wie wir sie in den letzten gut 50 Jahren kennen gelernt haben, musikhistorisch auf ihr Ende zu. Was das für die Musikindustrie und die von ihr noch gefeatureten Popstars bedeutet, ist schon heute erkennbar. Sie dienen sich wieder vermehrt und unumwunden dem Imperialismus als Maskottchen und seinen Imperativen und Maßregeln als direkte Lautsprecher an. Keine symbolischen Spielchen mehr. Stattdessen direkte agitatorische Propaganda bzw. im (negativ) Benjaminschen Sinne: Ästhetisierung der Politik. So stellte die Champions-League der Popbranche bereits 2005 ihren unbedingten Willen zur Kollaboration mit dem neoliberalen Establishment beim Live 8/G8-Benefiz in Glenneagles zur Schau. Unsere nationalen Lieblinge ließen 2006 mit Bertelsmann und „Du bist Deutschland“ einen Ruck durchs Land gehen und Xavier Naidoo und Sarah Connor spielten unlängst zur Erbauung der „Enduring-Freedom“-Soldaten in Afghanistan auf – ganz direkte Frontschweinkultur. Peter Maffay ließ es sich nicht einmal nehmen, auf dem Sommerfest des Bundespräsidenten mit Joachim Gauck im Duett „Über sieben Brücken musst du gehen“ zu singen – brrrrrrr.

Soll man sich da vorm eigentlichen Rechtsrock noch fürchten? Die Nazis haben zwar über die letzten 20 Jahre hinweg strukturell eine in ihrem Sinne gut funktionierende musikalische Subkultur installiert: Indie-Labels, -Vertriebssysteme, Live-Veranstaltungen mit Parteirekrutierungen usw. Sie stellen ästhetisch dabei aber ja nur die offen autoritäre, explizit sozialdarwinistische Variante der grundsätzlichen Bejahung bürgerlicher Herrschaft und ihrer Ausbeutungs- und Eigentumsverhältnisse dar. Die Form ist dabei längst schulhoffähig. Vom faschistoiden Mainstream-Rechtsrock wie Rammstein über nationalchauvinistischen Aggro-Kasper-HipHop von Bushido oder Fler bis zu den offenen Nazi-Muckern wie z.B. Oidoxie, 12 Golden Years oder Kommando Freisler. Sie alle bedienen dabei das, worum es Pop ja auch immer ging: ein kollektives Abgrenzungs-Erlebnis gegen Eltern, Lehrer, Polizei und Sittenwächter, mal sagen: das anständige Milieu. Und das viel besser als die traditionellen, lang- oder bunthaarigen Rebellen-Darsteller des Rock’n’Roll- bzw. Punk-Zeitalters. Natürlich ist es richtig und wichtig, dagegen von Links zu mobilisieren und von antifaschistischer Seite aus gratis Schulhof-CDs zu kompilieren und zu verteilen. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, aus welch grundsätzlich kultureller und politischer Defensive heraus das geschieht.

Spielregeln ändern

Mit der Popmusik verschwindet nun ein kulturindustrielles Funktionsteilchen der bürgerlichen (Zivil-)Gesellschaft. Und es hinterlässt ein – zugegeben, vergleichsweise kleines – Vakuum in Sachen Konsensherstellung. Hinzu kommt, dass die oben beschriebene Abkoppelung der objektiven Chancenlage auch weiter Teile des Kleinbürgertums von den eigenen, früher entwickelten Zukunftserwartungen dazu führen könnte, dass immer mehr Menschen sich bald vom Rennen ausgeschlossen sehen und die bislang stillschweigend akzeptierten Imperative der herrschenden Ideologie dabei tiefgreifend unterminiert werden. Ein solcher Prozess stellt in der Geschichte gewissermaßen die Wurzel aller gegenkulturellen Verweigerungsphänomene und Fluchtbewegungen dar.[15] Die Linke bzw. das, was von ihr übrig geblieben ist, könnte deshalb meiner Ansicht nach kulturpolitisch Dümmeres tun, als wenigstens den Versuch zu unternehmen, da reinzugrätschen. An sowas wie „Hegemonie“ auch nur zu denken, verbietet sich dabei in Anbetracht der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Wenn aber nur ein kleines Stückchen Boden im ideologischen Kampf um soziale Emanzipation auch auf dem Feld der Popularmusik gutgemacht werden könnte, wäre das schon was. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Entwicklung von Ansätzen einer musikalischen, linken Gegenkultur. Die sollte allerdings diesen Namen dann auch verdienen. Ein bissel mehr als Nicht-Mainstream, Independent oder Alternative (das Zeug das immer bei Grey’s Anatomy läuft) müsste es schon sein, soll nicht zum hundertsten Mal eine Saison später die böse Vereinnahmung durch die Industrie bejammert werden. Die sich selbst immer noch gerne Underground nennenden, klein- wie bildungsbürgerlichen, städtischen, kreativen Szenen sind dabei eher Teil des Problems; solange sie nur versuchen, aus dem „Off“ heraus die Deko, Posen und Styles zu kreieren, die in der nächsten Saison fürs Neo-Bürgertum bzw. das Goethe-Institut verbindlich sein sollen – nach dem bekannten, von den Goldenen Zitronen besungenen Muster: „Der Bürgermeister auf dem Tocotronic-Konzert.“

Man muss eben sowohl formal als auch inhaltlich die Spielregeln brechen wollen. Gegen den herrschenden Pop-Lifestyle in allen seinen Spielarten und seine reaktionären Implikationen. Kein „Bürgerlich-humanistisches Erbe“, das es dabei zu verteidigen gäbe. Und auch keine „Brücke zu den Massen“, jedenfalls keine begehbare, die, aus traditionell-marxistischer Sicht, gehalten werden müsste. Es ist aber die Unterscheidung zwischen Popmusik als a) systematischer Zusammenhang und b) musikalisches Material, das durch dieses System hervorgebracht wurde, bedeutend. Letzteres ist mitunter „State of the Art“ und sollte schon analog zur letzten von Brechts „Fünf Schwierigkeit beim Schreiben der Wahrheit“, also der List, diese zu verbreiten, nicht außer Acht gelassen werden. Es wird aber niemand den Musikern dabei helfen können, Songs zu schreiben, die in ihrer Ästhetik die Gesellschaft spiegeln, die in ihr wirkenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse zeichnen, offenlegen und sich damit auseinandersetzen. Die müssen sie schon selbst komponieren und texten. Also das tun, was seit vielen Jahren fast nirgendwo in der Popmusik mehr versucht wird, deren höchste Maßgabe ja vielmehr darin besteht, genau dies zu unterlassen. Anders gesagt: Eine Gegenkultur lässt sich nicht aus gutem politischen Willen heraus installieren

Linke Kulturpolitik könnte aber immerhin Räume dafür schaffen und organisieren: In den eigenen Publikationen und auf den vorhandenen Kanälen Position dafür beziehen, Auftrittmöglichkeiten vor Ort zur Verfügung stellen, wo, gegen angemessene Gagen, solche Künstler spielen könnten, nach denen natürlich erstmal Ausschau zu halten ist. Aber irgendwo müssen die ja sein, heute, wo tausende von Knalltüten an jeder Ecke sich zu Beats von der Stange in herbeiphantasierte Zuhälter- und Drogendealer-Posen schmeißen, sich dabei filmen lassen und anschließend bei youtube einstellen. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn diesem massenhaften Rumgeseppel nicht der eine oder die andere da draußen mal ein Stück Realismus aus den wirklichen, trostlosen, normalo-jugendlichen Lebensverhältnissen entgegensetzte – zwischen Schulhof und McDonald’s, Doppelstunde Mathe und Online-Chat, Kinderzimmer und Jugendknast. Eine neue Neue Sachlichkeit in der Gebrauchsmusik, und ich bin sicher, dass es die auch schon gibt, irgendwo.

Klar würde ein Featuren solcher MusikerInnen durch linke Politik auch Geld kosten. Bevor kein relevantes, außerparlamentarisches politisches Gegenfeuer entfacht ist, wird sich das ganz sicher nicht rechnen Doch ohne die Entwicklung wenigstens von Ansätzen einer linken Gegenkultur wird außerparlamentarisches Opponieren sich ohnehin kaum entfalten können. Das eine bedingt das andere. Und die der Partei Die Linke nahe stehende Rosa-Luxemburg-Stiftung verfügt ja, so hört man, über mehr als 20 Millionen Euro aus Bundesmitteln.[16] Wenn linke Politik, „treibende Kritik, öffentlichen Druck und außerparlamentarische Mobilisierung“ braucht, wie es in den „Eckpunkten“ der Partei heißt, dann sollte sich diese linke Politik auch nicht zu schade dafür sein, auf kultureller Ebene etwas dafür zu tun und auszugeben. Die Popularmusik betreffend, scheint die Zeit dafür eben ganz günstig.

[1] Die Zahlen basieren auf den Angaben des Bundesverbands Musikindustrie, online: http://www.musikindustrie.de/presse_grafiken0/ (Stand: 15.06.10, 16:00).

[2] P. Cadera, „Wieso sind Konzerte so teuer?“, Zeit-Online 7.02.06: http://www.zeit.de/online/2006/06/cadera?page=2 (Stand: 20.06.10, 10:12).

[3] T. Frank, zitiert nach: T. Holert/M. Terkessidis (Hg.), Mainstream der Minderheiten, Berlin 1996, S. 6.

[4] Campino, „Ich bin wohl eher konservativ“, in: taz vom 13.11.08, online: http://www.taz.de/1/leben/musik/artikel/1/ich-bin-wohl-eher-konservativ/ (Stand: 16.06.10, 10:30).

[5] W. Niedecken, „Niedecken zufrieden mit Köhler“, in: taz vom 26.10.2008, online: http://www.taz.de/1/leben/musik/artikel/1/niedecken-zufrieden-mit-koehler/ (Stand: 16.06.10, 10:32).

[6] S. Regener, „Hat euch Rudi Dutschke nicht gereicht?“, in: Spiegel-Online 25.09.09: http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,650409-2,00.html (Stand: 16.06.10, 10:41).

[7] B. Begemann, „Ich bin der Anti-Tocotronic-Typ“, in: taz vom 15.05.2008, online: http://www.taz.de/1/leben/koepfe/artikel/1/ich-bin-der-anti-tocotronic-typ/ (Stand: 16.06.10; 10:36).

[8] Die Informationen zur Geschichte der Musikindustrie sind größtenteils entnommen aus: T. Renner, Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!, Frankfurt/M 2004, S. 24 ff. und P. Wicke, Musikindustrie im Überblick, 1997, online: http://www.crossover-agm.de/txtwick2.htm (Stand: 20.06.10, 14:13).

[9] T. Renner, a.a.O., S. 11.

[10] http://www.musikindustrie.de/jwb_musikkopien09/ : Statistik des Bundesverbands Musikindustrie (Stand: 8.07.10. 16:09).

[11] Spiegel vom 26.04.10, online: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-70228777.html (Stand: 8.07.10, 16:45).

[12] G. Jacob, Der Kampf um die „gute Platte“, in: W. M. Stroh/G. Mayer (Hg.), Musikwissenschaftlicher Paradigmenwechsel?, Oldenburg 2000, S. 237.

[13] E. Hobsbawm, Globalisierung, Demokratien und Terrorismus, München 2009, S. 72.

[14] http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.357505.de/10-24-1.pdf : Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 24/2010 (Stand: 21.06.10, 22:11).

[15] P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt/Main 1982, S. 242, 276.

[16] G. Fülberth, Schwindende Konkursmasse, in: Konkret 4/2010.