Produktivkraftsprung: Digitale Vernetzung

von Thomas Hagenhofer
September 2015

Seit einigen Jahren stellen Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Bereichen eine beschleunigte technologische Entwicklung fest, sprechen von revolutionären Veränderungen, zumindest von rasanten Entwicklungen. Und auch im Alltagsleben spürt man die Dynamik, mit der sich z. B. unsere mediale Kommunikation in den vergangenen Jahren verändert hat. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären? Warum erleben wir gerade in der jüngsten Zeit diese Veränderungen?

Viele Wissenschaftler (z. B. [Brynjolfsson 2014]) erklären dies mit der Langzeitwirkung einer empirischen Beobachtung der Leistungssteigerung von IT-Systemen. Gordon Moore, Mitbegründer des Chip-Herstellers INTEL, beobachtete bereits 1965, dass sich die Anzahl der Transistoren auf einem integrierten Schaltkreis periodisch verdoppelt, anfangs alle 12 Monate, später wurde dies auf 18 Monate korrigiert. Bereits 1970 wurde hierfür der Begriff „Moorsches Gesetz“ geprägt. Seit dieser Zeit wurde immer wieder spekuliert, wann denn diese Regelmäßigkeit aus physikalischen Gründen ein Ende nehmen müsse. Es kam nicht dazu, weil immer neue Produktionsmethoden und -techniken dies verhinderten. Bis heute, also nahezu 40 Jahre später, gilt dieses Gesetz noch immer.

Was dies in Zahlen bedeutet, hat der Mitbegründer des Informatikzweigs der Künstlichen Intelligenz und Transhumanist[1] Ray Kurzweil, mit der Metapher von der „zweiten Hälfte des Schachbretts“ [Ray Kurzweil1999] deutlich gemacht: Legt man auf das erste Feld eines Schachbrettes ein Korn Weizen, auf das zweite zwei, das dritte vier und verdoppelt jeweils die Anzahl pro Feld, steigen diese zunächst relativ langsam an. Erreicht man aber die zweite Hälfte des Schachbretts werden diese exorbitant groß und enden mit einer Zahl größer 9 x 1018.

Sieht man sich nun die Leistungskurven von Computerprozessoren an, wird deutlich, dass Mitte/Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts dieser Übergang einer quantitativen in eine qualitative Entwicklung stattfindet. Es ist also kein Zufall, dass wir heute in die dritte Phase des Einsatzes von Informationstechnologie übergegangen sind: von der zentralen Nutzung (Mainframe-Computer) über die dezentrale Nutzung (Personal Computer) zum heutigen mobilen, ubiquitären Einsatz.

Neben der Hardware spielen noch zwei weitere Elemente für die aktuelle Technologieentwicklung eine entscheidende Rolle: Künstliche Intelligenz bzw. Schwarmintelligenz und natürlich das Internet. Letzeres bestimmt mittlerweile in einem Ausmaß unser Leben, dass Wissenschaftler vom „Gesellschaftsbetriebssystem“ sprechen. Internet ist nicht mehr nur Datenautobahn, über das TCP/IP-Protokoll gibt es einen weltweit einheitlichen technischen Kommunikationsstandard. Das Internet ersetzt über die Cloudtechnologien sowohl Softwarepakete als auch Rechenzentren. Spätestens mit dem Ende des Brockhaus 2014 ist die Frage entschieden, dass das Internet als Wissensspeicher jede Konkurrenz aus dem Feld geschlagen hat. Um mit diesen riesigen Wissensbeständen sinnvoll arbeiten zu können, bedarf es den letzten Hauptfaktor der technologischen Entwicklung, der Künstlichen Intelligenz (KI) bzw. Schwarmintelligenz. KI ist kein neuer Zweig der Informatik, er nimmt aber gerade die Hürde von Forschungsgebiet zur gesellschaftlichen Anwendung. Schwarmintelligenz oder kollektive Intelligenz ist ein relativ neuer, aber wichtiger Teilbereich der KI. Ein Beispiel: Jahrzehntelang hat man versucht, automatische Übersetzungssysteme zu entwickeln, also den Maschinen Sprachkompetenz beizubringen. Mit dem Internet war es vor einigen Jahren möglich, den Ansatz der kollektiven Intelligenz einzusetzen. Übersetzungsmaschinen wie die von Google oder Bing (Microsoft) vergleichen den eingegebenen Text mit ähnlichen bereits in beiden Sprachen vorliegenden Texten (z. B. Parlamentsprotokolle). Diese so genannten statistischen Verfahren sind den früheren Ansätzen in Kosten und Geschwindigkeit mittlerweile weit überlegen und ermöglichen neue, früher aufgrund ihrer Komplexität nicht zu bewältigenden Auswertungs- und Analyseverfahren (z. B. BigData)

Miteinander gekoppelt stellen diese drei Faktoren ein riesiges Potenzial für Technologieschübe dar. Und so wird es nicht mehr lange dauern, bis wir per SmartPhone in verschiedenen, in Echtzeit übersetzten Sprachen miteinander telefonieren werden, also der maschinelle Dolmetscher Realität werden wird.

Alle diese Entwicklungen und viele mehr werden derzeit unter dem Oberbegriff der Digitalisierung zusammengefasst. Digitalisierung ist dabei eine sehr unscharfe Bezeichnung, weil dieser Prozess ja seit der Einführung der ersten Computersysteme in der Mitte des letzten Jahrhunderts vonstatten geht. Es geht im Kern nicht um irgendeinen Einsatz digitaler Technik, es geht um die digitale Vernetzung aller Arbeits- und Lebensbereichen über das Internet mit den vorher beschriebenen neuen Möglichkeiten mobil einsetzbarer Hardware und angetrieben durch Konzepte der Künstlichen Intelligenz und statistischer Verfahren.

Was sind die wichtigsten Teilbereiche dieser neuen Digitalisierung? Was die Arbeitswelt betrifft, werden auf nationaler Ebene zwei Großprojekte vorangetrieben, die Konzepte Industrie 4.0 und Office 2.0

Unter Industrie 4.0 (ein Kürzel für die sog. vierte industrielle Revolution) wird die integrierte und vollständige Digitalisierung aller vertikalen und horizontalen Wertschöpfungsketten in Industrie und Logistik verstanden. Das Unternehmen entsteht quasi neu als digitales Abbild der Wirklichkeit und nutzt dabei ein für die Industrie völlig neues Fabrikationsparadigma. Nicht mehr die zentrale Steuerung steht im Zentrum der Architektur, sondern dezentrale, untereinander vernetzte und flexibel einsetzbare Fertigungseinheiten, sogenannte cyber-physische Systeme (CPS). Das zu bearbeitende Werkstück erhält durch digitale Informationsspeicher, z. B. RFID-Chips, die Information, wie es in der jeweiligen Fertigungsstufe bearbeitet werden soll. Das jeweilige CPS liest die Daten aus und bearbeitet das Werkstück nach dieser Vorgabe. Es entsteht ein individualisierte Massenfertigung. In einer Produktionslinie können tausende verschiedene Güter produziert werden. Gekoppelt mit den Bestelleingängen soll nicht mehr auf Lager produziert werden, sondern erst dann, wenn die Ware genau in dieser Spezifikation bestellt wurde. Dies ist heute bereits in der Möbelherstellung Realität, allerdings wird die bestellte Wandschrank erst drei bis vier Wochen später geliefert. Diese Vorgänge sollen zukünftig in Echtzeit ablaufen.

Office 2.0 wird die neue Stufe der Digitalisierung im Dienstleistungssektor genannt. Auch hier spielen die oben genannten Konzepte eine wichtige Rolle. Noch stärker als in der Industrie werden neue intelligente Systeme (Übersetzung, Sachbearbeitung, Recherche, Programmierung) menschliche Arbeitskraft ersetzen. Zudem findet gerade bei diesen Tätigkeiten eine teils inhumane Ausweitung des Arbeitstages statt. Die Realisierung von Dienstleistungen ist immer weniger ortsgebunden. Ständige Erreichbarkeit und Heim- oder Urlaubsarbeit sind die Folge, in manchen Unternehmen wird bereits die Aufgabe jeglicher Arbeitszeitregelung zugunsten reiner Ziel-/Terminvorgaben (Funktionszeitmodell) erprobt. Über diesen neuen Rationalisierungsschub hinaus werden Dienstleistungen über das Internet handelbar wie an der Börse. Crowd-Working-Plattformen, auf denen Projekte dem günstigsten Anbieter, oft Solo-Selbständige, vergeben werden, gibt es nicht mehr nur für den IT-Bereich. Alle einigermaßen vergleichbaren Leistungen, ob im Mediensektor oder im Handwerk, sind davon betroffen.

Welche wesentlichen Auswirkungen wird die neue Digitalisierungswelle auf Arbeit und Gesellschaft haben?

Alle Konzepte haben umfangreiche Produktivitätssteigerungen und Rationalisierungen zum Ziel. Viele der heutigen Berufsbilder werden in 20 Jahren vermutlich nicht mehr existieren oder sich komplett verändert haben. Einfache Tätigkeiten – ob in der Industrie oder im Büro – sollen komplett automatisiert werden. Gering Qualifizierte werden noch weniger Chancen erhalten, ihre Arbeitskraft verkaufen zu können. Ohne eine weitgehende Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich dürfte es zu Arbeitsplatzvernichtung im großen Stil kommen, der auf Dauer nicht durch neu entstehende Arbeitsplätze z. B. im IT-Sektor kompensiert wird. Die bereits angeschossenen Sozialversicherungssysteme würden kollabieren, wenn die Rationalisierungsdividende komplett privatisiert statt sozialisiert wird. Die Qualifizierung von Beschäftigten wird zu einem zentralen Feld von Klassenauseinandersetzungen.

In allen Planungen spielt die Entgrenzung, die weitgehende Flexibilisierung der Arbeit eine wichtige Rolle, mit den bereits heute spürbaren Begleiterscheinungen (Zunahme psychischer Belastungen und Krankheiten; vgl. Pickshaus 2014). Dabei könnte es sich als besonders fatal erweisen, dass flexible Regelungen – wenn auch vielleicht nicht diese – von den meisten Arbeitenden durchaus als Vorteil angesehen werden und oftmals verlangt und in bestehender Form freiwillig angenommen werden. Die Langzeitfolgen sind oft nicht absehbar. Arbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung muss also in viel stärkerem Maße zu einem umkämpften Feld gemacht werden. Gleiches gilt für die Wiederentdeckung des Prinzips von fabriknahen Arbeitersiedlungen: Arbeitende und ihre Familien werden bis zur Energieversorgung an das Unternehmen gebunden – mit allen negativen Folgen, die aus der Geschichte der Arbeiterbewegung bekannt sind.

Eine weitere große Herausforderung findet sich im Bereich des Datenschutzes. Komplette Digitalisierung heißt potenziell lückenlose Überwachung und Leistungsmessung. BigData, die Auswertung von riesigen Datenmengen in allen Lebensbereichen, bleibt nicht mehr nur den Geheimdiensten vorbehalten. Der Kampf um die Anonymisierung der erhobenen Daten in BigData-Anwendungen wird einen großen Stellenwert erhalten. Auch hier spielt die scheinbare Freiwilligkeit eine entscheidende Rolle. Erste Autoversicherungen bieten günstigere Tarife bei Zustimmung zur Komplettüberwachung der Fahrweise ihrer Kunden. Die Krankenversicherungen werden sicher nachziehen.

Eine abschließende Bewertung der neuen Digitalisierung aus marxistischer Sicht ist heute noch schwer vorzunehmen. Gesichert scheint, dass wir es mit einer neuen Qualität in der Produktivkraftentwicklung zu tun haben, deren Wirksamkeit sowohl durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse generell als auch durch die anhaltende „große Krise“ gehemmt wird. Ob in dieser Situation die Wirkmächtigkeit einer neuen Kondratjew-Welle wie in der Vergangenheit erreicht werden kann, scheint fraglich.

Linke müssen heute schnell lernen, die „große Krise“, die ja eigentlich eine Verschränkung verschiedener Krisen darstellt, und die Digitalisierung zusammen zu denken. Hierzu sind eine intensivere wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema und der gemeinsame Diskurs dringend notwendig.

In ihrer Gesamtwirkung richtet sich die Digitalisierung unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen gegen die Interessen der arbeitenden Menschen, was nicht gegen Fortschritte in einigen Bereichen wie der Medizin spricht. Die Widersprüche zwischen einer digital revolutionierten gesellschaftlichen Produktion auf der einen und der privaten Aneignung der geschaffenen Werte sowie der profitgetriebenen Steuerung der Produktivkraftentwicklung auf der anderen Seite werden immer deutlicher. Der Kapitalismus wird mehr und mehr zum Gefängnis des Fortschritts im humanen Sinn. Es wird höchste Zeit, dass sich Marxisten den Begriff der Freiheit als Kampfbegriff zurückerobern. Freiheit im menschlichen Sinn ist nicht die marktkonforme Unterwerfung der Arbeitenden unter die digitale technologische Entwicklung, sondern die demokratisch bestimmte Entwicklung der Produktivkräfte und deren Einsatz zur Bedürfnisbefriedigung aller. Hier gilt: „Das einzige, was den Umschlag von Produktivkraftfortschritten in beschleunigte Zerstörung und Entrechtung verhindern kann, ist Freiheit.“ (Dath 2008, S. 50)

Literatur

Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee, The Second Machine Age: Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird, Kulmbach 2014.

Dietmar Dath, Maschinenwinter: Wissen, Technik, Sozialismus, Frankfurt/M. 2008.

Ray Kurzweil, The Age of Spiritual Machines: When Computers Exceed Human Intelligence, London 1999.

Klaus Pickshaus, Rücksichtlos gegen Gesundheit und Leben. Gute Arbeit und Kapitalismuskritik – ein politisches Projekt auf dem Prüfstand, Hamburg 2014.

[1] Idealistisch-inhumane Weltanschauung mit der Vision der Verschmelzung von Mensch und Maschine.