Literatur (in) der Krise

Das trunkene Schiff

Über die ästhetische Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, oder: Gegen den Neo-Biedermeier, für den Realismus!

von Sven Gringmuth
März 2015

Intervention

Zu Beginn des letzten Jahres brach im Feuilleton, nicht zum ersten und gewiss nicht zum letzten Mal, eine Debatte um die Verfasstheit deutscher Gegenwartsliteratur aus. Ende Januar hatte Florian Kessler das brav-konformistische Treiben der jungen Arztkinder im deutschen Literaturbetrieb für die „Zeit“ unter die Lupe genommen und nach den Ursachen dieser „Arschkriech- und Winsel-Literatur“ (Rolf Dieter Brinkmann) geforscht.[1] Quintessenz seiner Überlegungen: Es mangelt den schreibenden (meist) Bürger- und Großbürger-Söhnen und -Töchtern an allem, was ihre Literatur vielleicht spannend, aktuell oder gesellschaftlich wirksam machen könnte: Lebenserfahrung, Mut zum Risiko, kritischer Blick auf soziale Praxis, subversive politische Einstellungen. Meilenweit von den drängenden Problemen der Gegenwart entfernt, warten die AbsolventInnen der Schreibschulen von Leipzig, Hildesheim etc. auf honorige Ehren – und ein in Deutschland quasi mumifizierter Kunst- und Kulturbetrieb honoriert die gepflegte Langeweile denn auch turnusmäßig, vergibt brav Preise und Stipendien an die Autoren. Wohin diese Selbsthilfe-Literatur (die im Prinzip immer ähnlich funktioniert: Hilfe, meine Freundin/mein Freund ist weg, mir geht es schlecht // Hilfe, ich werde erwachsen, warum kann ich nicht ewig Kind bleiben // Hilfe, ich habe Angst vor allem und vertreibe sie mit sexualisierten Selbsterforschungen // Hilfe, früher war alles besser und einfacher, wann wird es wieder so?) noch führen mag, fragt sich Kessler.

Eine Woche später antwortete Christoph Schröder, wiederum in der „Zeit“, auf den Beitrag und warf Kessler Unkenntnis und Selbstinszenierung vor.[2] Aus dem routinierten Feuilleton-Schlaf gerissen, reagierte der Rest des deutschen Medienbetriebs hektisch – von „taz“ bis „FAZ“ zogen Kommentatoren nach. Lesenswert ist da eigentlich nicht viel, die prominentesten Beiträge stammen wohl aus den Federn von Maxim Biller, der die These aufstellt, der Literaturbetrieb in Deutschland leide vor allem darunter, dass Autoren mit Migrationshintergrund nicht wahrgenommen oder abgedrängt werden[3] und von Dietmar Dath, der ihm so energisch wie polemisch widerspricht und den moralischen Zeigefinger abbrechen mag.[4]

Man kann sich die Auseinandersetzung größtenteils sparen – das (!) Schlüsselwerk zur gegenwärtigen Auseinandersetzung heißt „Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft“, stammt von Enno Stahl und ist ungemein lesens- und empfehlenswert, wenn man sich über den Zusammenhang von Finanzmarktkrise, veränderten Arbeitsbedingungen und Gegenwartsliteratur schlau machen mag.[5] Auch Stahls Beiträge zur Debatte für die „taz“[6] verweisen auf den, in „Diskurspogo“ ausgiebig behandelten, wichtigen Zusammenhang von neuen Arbeitsorganisationsformen und der expliziten Nicht-Wahrnehmung und -Thematisierung dieser Verschiebungen in der Gegenwartsliteratur. Stahl in der „taz“: „(…) die Stromlinienförmigkeit der jungen deutschen Gegenwartsliteratur liegt nicht allein in der Erfolgsorientiertheit ihrer Verfasserinnen und Verfasser begründet. Sie ist Ergebnis ihres schichtenspezifischen Horizonts (…) Literatur wird hierzulande von Menschen produziert, vermarktet und rezipiert, die aus gut situierten Verhältnissen stammen.“[7]

Dem ist nichts hinzuzufügen. Dass die Debatte um das, was Literatur/Kunst kann oder soll, freilich schon sehr viel älter ist, ist kaum der Rede wert. Dennoch – an dieser Stelle eine, stellenweise polemische, Erinnerung an zwei Texte, die die derzeitige Auseinandersetzung gewiss bereichern könnten, würde man sich ihrer erinnern.

Know your enemy

Martin Walser schrieb, als er sich noch als Marxist (wenn auch in einem durchaus eingeschränkten Sinne) verstand und in DKP-Kreisen herumtrieb, hier und da für Hans Magnus Enzensbergers „Kursbuch“. Dort erschien auch der Essay „Über die Neueste Stimmung im Westen“ im Jahre 1970.[8] Volker Braun hielt am 4. Mai 1984 in Mainz, vor der ‘Akademie der Wissenschaften und der Literatur’, einen Vortrag mit dem Titel „Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität“. Der Vortrag erschien 1985 im Verlag eben jener Akademie, kurz darauf auch in „Sinn und Form“ und wurde als „Rimbaud-Essay“ in Ost und West bekannt.[9]

Worin besteht die Gemeinsamkeit dieser Schriften? – könnte man nun fragen. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie Kampfschriften sind, Manifest-Charakter haben und sich gegen ein und denselben Feind richten: Den romantischen Antikapitalismus und seine ästhetischen Ausprägungen. Zu jener Zeit im Westen: Leslie A. Fiedler, Peter Handke, Rolf-Dieter Brinkmann und die Hippies. Im Osten: Sascha Anderson, Durs Grünbein und die Existentialisten der Prenzlauer-Berg-Szene.

Draußen ist feindlich

Beiden Texten gemein ist zudem, dass sie (verfolgt man die immer wieder aufbrandende Debatte um den Zustand der deutschen Gegenwartsliteratur) aktueller denn je sind und sich ganz hervorragend als scharfe Waffe gegen ausschließlich selbstreferentielle Heulsusen-Literatur (Musikstücke bzw. Songtexte eingeschlossen) in Stellung bringen lassen, die sich als subkulturelle Bescheidwisser-Attitüde tarnt und in Wirklichkeit doch nur der letzte Schrei kleinbürgerlicher Fluchtbewegungen ist.

Flucht wovor? Flucht doch nur vor den sich stetig verschlechternden gesellschaftlichen Bedingungen im immer später werdenden Spätkapitalismus, die einem jeden noch mehr Flexibilität, Leistungssteigerung, Mobilität und Unterwerfung abverlangen und antrainieren. Nach dem weltweiten Sieg des Imperialismus gibt es keinen Rückzugsort außerhalb mehr. Der Kapitalismus ist allumfassende Totalität, auch und gerade im geographischen Sinne, geworden. Nowhere to run. Entfremdung und Verdinglichung von Kapstadt bis Reykjavik, von Wladiwostok bis Haight Ashbury. Der Weg nach innen ist der letzte verbliebene, den die Flüchtenden sehen: Ein romantischer Antikapitalismus, der die Generation Neon durch die Nacht bringen soll. Also noch mehr Träume ohne Boden, vollkommen unkonkrete Utopien, Drogen in Mengen, Kryptisches zur Verschleierung der eigenen Unfähigkeit. Ideologie ist im gleichen Maße verfemt, in dem die Postmoderne lehrte, dass es keine Wahrheit gibt. Alles Intrigen, alles Lüge, wohin man sich wendet. Kein Wunder, dass die Verschwörungstheorienindustrie boomt…

„Das System erzeugt zwar Unwissenheit über sich selbst“ schrieb Walser, „aber es produziert gerade durch die Fülle der in ihm konkurrierenden Meinungen bei den meisten auch ein Gefühl der Unwissenheit, der Inkompetenz, der Unsicherheit und Angst. Davon leben dann wieder andere, privilegierte Meinungsmacher: sogenannte Experten. (19)

Und denen wird das Feld komplett überlassen. Jedem seine Sache: Den ‘Expertenregierungen’ die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie in Europa, den Starköchen im TV die Rezepte, den Hochglanz-Magazinen die Ideen für die Innenausstattung der gemeinsamen Pärchen-Wohnung, den professionellen Beziehungsberatern das Fixieren des gemeinsamen Glücks, dem „Stern“ oder „Spiegel“ die eigene Meinung. Das Ergebnis: Ich übergebe mich (im umfassenden Sinne).

„Eine der am besten ernährten Meinungen besagt, dass in diesem System keine einzelne Meinung und nicht die Meinung eines Einzelnen den Ausschlag gebe, sondern daß gehandelt werde nach der Meinung einer Majorität. Diese Meinung wird von denen verbreitet, die die einflußreichsten Apparate zur Verbreitung ihrer Meinung haben“, so Walser weiter (20).

Ich-Maschine

Was also tun? Nichts – so die Antwort der Bürgerkinder auf ihrer abermaligen Wallfahrt zum Big Zeppelin. Sich sehnen – nach sich Selbst und anderen, besseren Zeiten. Der Banksy an der Wand und die „London Calling“ auf dem Plattenteller bescheinigen die Sehnsucht und machen Desengagement „zur letzten noch möglichen Tugend“ (20). Was ist das ästhetische Endergebnis? Wir können es sehen: Ein Literaturmarkt, der Christian Kracht, Sarah Kuttner oder Helene Hegemann für Schriftsteller ausgeben kann, eine Kunstindustrie, die Jonathan Meese für einen Maler achtet und eine alternative Musiklandschaft, die sich in Casper, Kraftklub und Kettcar spiegelt.

„Historische und streng gesellschaftliche Bedingungen werden bei diesen Bloßlegungen nicht enthüllt. Sie gehören nicht zum Arbeitsprogramm. Soziale Notwendigkeit ist überholt. (…) Wenn du leben kannst vom Verkauf deiner abenteuerlichen Selbstbeobachtungen oder persönlichen Sprach-Erlebnisse, hast du keine spürbare gesellschaftliche Funktion mehr. Du wirst immer mehr der Einzige, den es gibt für dich. Die dadurch entstehende Asozialisierung schärft wiederum deine Empfindlichkeit für die Gemeinheiten des Meinungsmarktes, steigert deine Verletzlichkeit und liefert dir immer weiter den Kummer, der wiederum zum Anlaß weiterer Selbsterforschung und Sprachprüfungen wird“, prognostizierte Walser hellsichtig (20 f.).

Also zuschauen. Oder doch was ändern? An sich arbeiten? Offener werden? Es gibt Substanzen, Hilfsmittel. „Wenn man glaubt, es werde jetzt immer komplizierter etwas zu erkennen, dann zieht man sich entweder auf sich selbst zurück oder versucht noch sich Hilfsmittel zu beschaffen, die man selber nicht machen kann. Die Hilfsmittel sind nicht willkürlich wählbar. Man sucht sich das, was mit den eigenen Erfahrungen vermittelt werden kann“ (Walser, 21). Im Klartext: Jedem seine Droge. Man muss selbst wissen, was einen durch den Tag und die Nacht bringt. Und trotzdem: Man bleibt ein Rad im Uhrwerk – niemand steigt aus! Nicht auf dem Biobauernhof, nicht in der Fixerstube, nicht im Studierstübchen und nicht auf dem Backpacker-Selbsterfahrungstrip in/nach Südostasien. „Es gibt keinen theoretischen Standpunkt. Auch das Zuschauen ist gesellschaftlich bedingte Praxis. Die Bedingung einer Bedingung ist wieder eine Bedingung.“ (21) Ein wunderbarer Satz. Ach, wäre Walser doch Marxist geblieben…

YOLO!

Und trotz aller guten Argumente für eine Re-Politisierung der Künste, gerade angesichts der derzeitigen Krise des kapitalistischen Systems: Engagierte Kunst bleibt verdächtig. Engagement riecht nach schlechtem Essen und klingt wie noch schlechterer Sex. Der Weg nach innen ist zudem angenehm gepolstert mit alten Bekannten (Proust und Brecht raus aus dem Regal!) und: „Hier überrascht Hermann Hesse überhaupt nicht. Indischer und schwäbischer Weg nach innen werden EINE Straße der Erleuchtung. Und natürlich klingt das momentan viel besser als der gesellschafskritische Cant, der bei uns selbst den ärgsten Ministern leicht vom Munde geht. Das ist eine Reaktion auf linke und rechte Heuchelei. Nur: diese Heuchelei hat es offenbar geschafft, Identifikation überhaupt verdächtig erscheinen zu lassen. Jeder wird zurückgeworfen auf sich selbst (…) und so wird er sich in einer Reihe von Revolten und Reinigungen erschöpfen, ohne dem, wogegen er revoltiert, überhaupt gefährlich geworden zu sein“ (26).

Vor Jahren warb Charlotte Roche für den Fernsehsender „Viva“ mit dem Slogan „Radikalisiert das Leben“. Ich denke, besser kann man die vollkommene Sinn-Entleerung nicht anschaulich machen. Die Fragen „Wofür/Wogegen?“ sind von vorneherein hinfällig und werden einem fatalistischen „Jetzt erst recht!“ geopfert, dass für eine Radikalisierung des Lebens vermutlich gar in Second-Hand-Klamotten über bunte Blumenwiesen tollen würde. Einmal was riskieren, wild und gefährlich leben: Abends Aronal, morgens Elmex. Yolo!

„Also produziert das System eine Erträglichmachung des Unerträglichen durch eine neue Stufe der Verinnerlichung: Jeder fange bei sich selber an, dann wird die Welt sich schon ändern; nicht mehr scheinheilig Gesellschaftskritik üben, sondern sich selber ändern…“ (28).

Die Alternativen, die uns deshalb seit geraumer Zeit gepriesen werden sind: Gesundes Essen, fair-gehandelte Klamotten, religiöse/ethnische/sexuelle Offenheit und Toleranz in urban-mildem Klima und Almosen für die Armen der Welt – das, was eben vom Teller runter fällt.

Walser kongenial: „Aber man fragt sich auch, wie jemand nach der täglich zu machenden Erfahrung sich noch in solche Vorschläge flüchten kann. Warum diese Verteiler- und Weihnachtsphilanthropie? Warum macht man nicht den Vorschlag, dass die Arbeitenden sich ihre Produktionsmittel aneignen“? (26 f.)

Ja, warum eigentlich nicht?

Publikumsbeschimpfung. Es gibt keine Software!

Alternativlos ist das alles doch, so heißt es: T.i.n.a (There is no alternative!). So predigt nicht nur die Kanzlerin – das ist die (!) neue Form der Ideologie, der Vermittlung, die eben keiner Begründung mehr bedarf. Und wird kritisiert, so folgt sogleich der Reflex: Nur konstruktive Kritik, bitte! Der Sound dazu: „Dann sag doch mal, was du willst“ und „Was ist denn dein Vorschlag“? Walser zitiert Handke mit den Worten: „Ein engagierter Schriftsteller kann ich nicht sein, weil ich keine politische Alternative weiß zu dem was ist, hier und woanders (…)“[10] (31f.) und entgegnet:

„Was heißt das ‘zu dem was ist’? Ist denn was ein für alle Mal? Das verändert sich doch andauernd und nimmt eine Richtung an und man selbst hat gar keine Chance, sich etwa bewegungslos und nicht-wissend zu stellen. Selbst wenn ich keine Rechtfertigung finde und schon gar keine anzubieten habe, selbst wenn meine Arbeit wieder und wieder die erwünschte Identifikation nicht liefert, kann ich dann wie ein Import-Buddha sitzen ohne Rechtfertigung und etwa davon absehen, daß ich auf jeden Fall identifiziert werde mit etwas, zum Beispiel mit einem gesellschaftlichen Zustand und einem System? Genügt es, sich aus methodischer Keuschheit nicht einzulassen mit dem Prozeß, der auf jeden Fall im Gange ist? Jeder Autor ist sein Gegenstand, das ist klar. Und er kann nur noch mit sich selber was anfangen. Und Mitteilungen machen nur noch von sich selbst. Aber er ist ja keine Puppe auf einer Nadelspitze, sondern Kreuzungspunkt und Produkt alles Gesellschaftlichen.“ (Ebd.)

Ein Lieblingssatz des (viel zu früh verstorbenen…) Medienphilosophen Friedrich Kittler lautete: Es gibt keine Software. Keine Umprogrammierung möglich. Es kann höchstens etwas an der Hardware ausgetauscht werden, ergo: Für eine wirkliche Veränderung der Verhältnisse müssen die Rahmenbedingungen sich in revolutionärer Weise ändern. Ein elementarer Punkt in einer (wieder) zu fassenden ästhetischen Realismus-Konzeption als Antwort auf die Krise: Die Realisierung der Tatsache, selbst nicht außerhalb zu stehen oder zu einem vermeintlich ‘natürlichen’ Zustand übergehen/zurückgehen zu können. Menschen sind Produkte des Gesellschaftlichen und ihr Schaffen ebenso. Schlimm genug, dass materialistische Basisbanalitäten heute wieder Offenbarungscharakter bekommen. Und was sollte Literatur/Kunst also wieder werden? Walser, übernehmen Sie! „Ein Mittel zur Ausbildung eines kritischen und zur Veränderung drängenden Bewußtseins von gesellschaftlichem Zustand“ oder eben auch „Ausdruckspraxis, die die Welt mit Hilfe kritischer Abbilder korrigieren“ (22) will. Amen.

damaged goods

An Ähnlichem arbeitete Volker Braun in und mit seinem Mainzer Vortrag, auch wenn er als Ausgangspunkt eine Person, Artur Rimbaud, wählte. Rimbaud, der französische Lyriker, der mit 19 Lebensjahren sein Werk vollendete und spät die Anerkennung erfuhr, die ihm zu Lebzeiten versagt blieb. Er hob die französische Gossensprache (lange vor Louis-Ferdinand Céline und anderen) auf höchste Höhen und wird heute oft, allerdings zu Unrecht, mit dem Dichter frecher Spottverse, Francois Villon oder (wesentlich ärger) dem Meister der dunkel-codierten Selbstgeißelungen, Charles Baudelaire, in einem Atemzug genannt. Der Vergleich hinkt, denn seine Sache war „nicht Flauberts ‘ennui’ oder Baudelaires ‘spleen’, jener unbestimmte Überdruß des Kleinbürgers, dem am Tische unwohl wird, an dem er morgen wieder fressen möchte. Rimbaud hatte nicht Lust, Platz zu nehmen. Der ganze Stall schien ihm lächerlich und hinfällig“, so Braun (981).

Rimbauds Bezugspunkt war und blieb das Gesellschaftliche. Er fieberte mit der Pariser Commune und litt an ihrer Niederschlagung 1871 so sehr, dass er wünschte, den Besatzern „meine Zähne noch im Verrecken tief in die Kolben ihrer Gewehre zu schlagen“ (987). Er schuf eine Poesie der Materialität, eine Ästhetik der Nützlichkeit und des Forcierten. Ich lasse an dieser Stelle Volker Braun das Wort, er schreibt ein so herrliches Deutsch, wie es nicht vielen zu Gebote steht: „Das Unsichtbare sehen, und es in seiner Form oder Formlosigkeit wiedergeben: jedes Wort ein Gedanke. Das heißt alles gewohnte Material wegkippen, womit die subjektive Poesie spielte, das sie breittrat, allen Zierrat und die metrische Haltung kappen. Sprache, ganz aktuell und sinnlich: der Duft, der Ton, die Farbe und der Gedanke, der dem Gedanken folgt. Äußerste Entzauberung und vollkommene Funktionalität – materialistisch, wie die Zukunft um die es ausgesprochen geht. (…) Poesie sieht durch in die Schrecken/Freuden der Verwandlung. Sie ist nicht zu brauchen, wo man die vortrefflichen Verhältnisse nicht ändern will. Nicht die Einsamkeit des Rasierspiegels: das Brennglas der sozialen Erfahrungen.“ (986)

„Wir lernen“ sagt die Lehrerin in Brechts „Tage der Commune“. In der Tat! „Ich spreche nicht von dir und mir, ich sage ‘wir’. Wir, das sind mehr als du und ich…“ (Braun, 988). Darum sollte es gehen: Die gemeinsamen Erfahrungen betonen, die Prozesse schildern. Bloß keine bruchlosen Utopien liefern, keine stumpfen Messer, keine Bilder ohne Text! „Ernüchterung ist die Arbeit unserer Literatur“, attestierte Volker Braun. „Arbeit gegen die Deckgebirge der Verheißungen. Der Kommunismus, als Erbteil des Klassenkampfs, mit der Menschheit und der Natur beladen, bleibt (…) subversiv. Wir wissen, worauf wir uns eingelassen haben“ (ebd.).

Letzte Warnung

Doch ist es nicht eher „das Eigentliche… wo die Träume sich abspielen“? Ist es nicht das auch, von dem Kunst handeln soll – mithin das ganze romantische Programm? „Unsere vermeintlichen Neutöner (…) in den romantischen Quartieren (wo sie sich ordentlich führen) sind wohl gute Anschaffer, die fleißig auf den Putz hauen. Hucker, nicht Maurer. (…) Tatsächlich die Wiederholung des geistlosen Handbetriebs der Avantgarde, niedrige Verarbeitungsstufe. Und wenn der Gebrauchswert gegen Null strebt, wird Dichten Beschäftigungstherapie“ (990). Harte Worte gegen die Existenzialisten und Neu-Romantiker der damaligen Prenzlauer-Berg-Szene, doch immer noch aktuell, immer noch einsetzbar: Gegen die neuen Träumer, Nach-Innen-Wanderer (ins Nichts). In der „törichten Kinderstube der Moderne“ (ebd.) weilt auch heute nichts, als das Gähnen von vorgestern. Was im Hier und Jetzt ist, das verlangt „radikalere Sätzlein“ (996).

Und wenn Literatur doch nur Selbstbetrachtung und -bespiegelung bleibt? „Wenn der Dichter nicht länger für die Gesellschaft, sondern nur für sich selbst sprechen kann, befinden wir uns im letzten Schützengraben“ (993). Auch dieser Braun’schen Feststellung ist nichts hinzuzufügen. Wo dereinst schon die „Tristesse Royale“-Besatzung koksbeschleunigt von einem neuen 1914 träumte (das im Jahre 2014, die Gegenwart der Vergangenheit, ja auch allenthalben beschworen wurde…), sollte es gar nicht wundern, wenn aus dem metaphorischen Schützengraben noch einmal der reale wird und die Franz Marcs und August Stramms tatsächlich wieder fallen. Der Rückzug ins Innere war häufiger schon ein bloß kurzer Zwischenstopp im Viehwagen – auf dem Weg zur Front. „Eine solche Gesellschaft ist nicht schwer zu haben. In ihr stirbt mit jedem Anflug ins Innere eine demokratische Möglichkeit ab und die Möglichkeit zum Gegenteil – und das heißt Faschismus – nimmt zu. Jeder lutscht dann an seinem Mythos und hält sich seine Freizeit lang im Inneren auf…“ (Walser, 36).

high definition

Was aber ist dann das Programm? Um welchen Preis und wie konkret wäre ein Gegenentwurf zu dem was ist zu haben? Nun, zunächst hieße es dahin zu gehen, wo es wehtut. Wo man sich nicht so masochistisch gerne aufhält wie im eigenen Inneren: Ins Innere des Landes, dieses Landes. Zu denen, die fast keine Hoffnung mehr haben. Zu den Ausgeschlossenen, den Verlierern, den Geschlagenen und Ausgebeuteten, den proletarischen und sub-proletarischen Familien, den Menschen die schon seit vielen Jahren von den Brosamen des Sozialstaats leben müssen, den Obdachlosen, den Alkoholikern, den Zwangsprostituierten, den misshandelten Ehefrauen, in die Vorstadtghettos und „Problembezirke“ der Städte, zu denen, die den Tag mit einer Flasche Korn auf dem ´Netto´-Parkplatz verbringen, zu jenen, die morgens um 9 Uhr zum Termin in die Jobcenter ziehen müssen. Und ja, auch zu jenen, die hundertzwanzig unbezahlte Praktika machen und keinen Job kriegen, zu jenen, die für einen Hungerlohn und ohne festen Vertrag an der Stanze stehen, natürlich auch zu den rumänischen Arbeitern auf die Großbaustellen, die um ihre Löhne geprellt werden sollen. Der großartige Jörg Fauser hat es auf den Punkt gebracht, als er einmal sagte: „Wenn Literatur nicht bei denen bleibt, die unten sind, kann sie gleich als Partyservice anheuern...“.Wir müssen, so wieder Braun, „den Unterdrückten“ helfen, „ihre Namen zu buchstabieren“ (994) und „jeden Groschen unseres Verstandes dreimal umdrehen und fragen, ob wir ihn ausgeben können und wofür, wir müssen die Ideen einsparen und uns nicht an Experimente verschwenden, und vor allem kommt es jetzt darauf an, die eigene Ungereimtheit einmal beiseite zu lassen und uns auf den Hauptfeind zu konzentrieren, die unbeschreibliche Hochrüstung, mit der wir vollauf zu tun haben…“ (998).

Also: Keine Flucht(en) mehr in den Formalismus, sondern Realismus: „In den Schmutz der Strukturen, in den Dreck der Ungleichheit“ (986) müsste es gehen, aber dies hieße einen radikalen Bruch herbeiführen und „keine Gesten mehr. Wenden wir uns um in unser Unglück. Gehen wir wieder in das alte Land hinein. Keine Ausflüchte; wir müssen ins Innere gehen. Das ist ein schrecklicher Gang: in das Ende der Schrecken. Kommunismus oder Barbarei. Wir werden den Kontinent nicht verlassen. (…) Die Paradiese nicht noch die Hölle: der Aufenthalt auf Erden. Realismus. Er wird uns ins innerste Afrika führen.“ (994)

Appendix. Der Traum

„Aber“, klingt die bange Frage der besorgten Kunst-Freunde nicht erst seit Lukács eiserner Realismus-Doktrin, „bei aller steten Rückbindung an gesellschaftliche Bedingungen, Produktionsverhältnisse und die Entwicklung der Produktivkräfte, muss die Kunst nicht auch den Traum zulassen, muss der Mensch nicht auch träumen dürfen“? Wer würde da widersprechen wollen und so möchte ich mit Ernst Bloch schließen, der in seinem „Prinzip Hoffnung“ Lenin folgendermaßen zitiert: „Der Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit ist nicht schädlich, wenn nur der Träumende ernstlich an seinen Traum glaubt, wenn er das Leben aufmerksam beobachtet, seine Beobachtungen mit seinen Luftschlössern vergleicht und überhaupt gewissenhaft an der Realisierung seines Traumgebildes arbeitet. Gibt es nur irgendeinen Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, dann ist alles in bester Ordnung. Träume solcher Art gibt es leider in unserer Bewegung allzu wenig…“.[11]

Freunde, wir haben Arbeit bekommen.

[1] Florian Kessler, Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! In: Die Zeit (04/2014).

[2] Christoph Schröder, Klingt gut, sagt nix. Macht nix; Unter: Zeit-Online Literatur auf www.zeit.de. Dortselbst veröffentlicht am 23.02.2014.

[3] Maxim Biller, Letzte Ausfahrt Uckermark, in: Die Zeit (09/2014).

[4] Dietmar Dath, Wenn Weißbrote wie wir erzählen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.02.2014.

[5] Enno Stahl, Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft, Berlin [Verbrecher-Verlag] 2013.

[6] Hier findet sich auch die hervorragende Polemik Stahls gegen die Autorin Juli Zeh und ihre Selbstvermarktung als vermeintliche Kämpferin für demokratische Freiheitsrechte und gegen staatliche Überwachung. Enno Stahl, Die Bewahrerin, in: tageszeitung, 10.02.2014.

[7] Enno Stahl, Wer schreibt, der bleibt, in: tageszeitung, 23.01.2014.

[8] Martin Walser, Über die neueste Stimmung im Westen, in: Hans Magnus Enzensberger, (Hrsg.), Kursbuch 20. Über ästhetische Fragen, Frankfurt am Main 1970, S. 19-42.

[9] Hier zitiert nach: Volker Braun, Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität, in: Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.): Sinn und Form. Beiträge zur Literatur (5/85), Berlin 1985, S. 978-998.

[10] Um Handke (und seinem Werk) die historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die sie verdienen, sei an dieser Stelle angemerkt, dass es Peter Handke mit seinen – durchaus politisch-engagierten – Einlassungen zur Jugoslawien-Politik der EU und dem Kosovo-Krieg 1999 tatsächlich in einigen Momenten gelungen ist, lautstark eine kritische Gegenöffentlichkeit zur NATO-Propagandaberichterstattung einzufordern und zu formulieren.

[11] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Vorwort, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 5. Frankfurt/M. 1977, S. 9.

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