Berichte

Arbeitszeitdebatte bei ver.di

Arbeitszeitpolitischer Workshop von ver.di Südhessen, Darmstadt, 4. November 2014

von Falk Prahl
März 2015

Auf dem letzten ver.di Bundeskongress wurden eine Reihe von Anträgen behandelt, die sich mit dem Thema Arbeitszeitverkürzung befasst haben. Darunter auch Anträge, die eine weitere Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 bzw. 30 Stunden gefordert haben. In der auf dem Kongress angenommenen Arbeitszeitpolitischen Entschließung „Arbeitszeitverlängerung stoppen und die Tür für Arbeitszeitverkürzungen öffnen“ wurde formuliert: „Die Verkürzung der Arbeitszeit und deren humane Gestaltung sind zentrale tarif- und gesellschaftspolitische Handlungsfelder der ver.di. Ver.di hält daran fest, Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnausgleich und Personalausgleich durchzusetzen. Sie sind ein wichtiger Beitrag, um Arbeit menschlicher zu machen und Arbeit gerecht zu verteilen, sie sind erforderlich, um Beschäftigung zu sichern und Arbeitslosigkeit abzubauen…. Ver.di lehnt die arbeitszeitpolitische Rollback-Strategie der Arbeitgeber, die auf eine Verlängerung der Arbeitszeit, angefangen bei der Wochenarbeitszeit bis hin zur Lebensarbeitszeit, abzielt, entschieden ab. Ver.di wird sich diesen Angriffen der Arbeitgeberseite betriebs- und tarifpolitisch entschieden entgegenstellen.“

Am 4.11.2014 trafen sich im DGB Haus in Darmstadt 25 Kolleginnen und Kollegen aus den unterschiedlichen Organisationsbereichen von ver.di Südhessen zu einem Vertrauensleute-Workshop mit dem Titel „Mehr Zeit zum Leben – Debatte um Arbeitszeitverkürzung neu beleben!“. Als Referentin konnte Sylvia Skrabs von der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung der ver.di Bundesverwaltung gewonnen werden. Zum Einstieg in die Debatte ging Sylvia Skrabs auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ein, in denen sich die Arbeitszeitdebatte bewegt. Dabei veranschlagte sie die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen in Deutschland mit ca. 4,5 Millionen. In diesem Zusammenhang zeigte sie weiterhin auf, wie sich die Struktur der Erwerbstätigkeit von 2000 bis 2013 verändert hat. Demnach gibt es 1,3 Mio. Vollzeitbeschäftige weniger, dafür über aber 2,5 Mio. Teilzeitbeschäftigte mehr. Weiterhin erläuterte sie die Wachstums- und Produktivitätsentwicklung in Deutschland und stellte fest, dass durch die herrschende Wachstumsfixierung der Unternehmen und der Bundesregierung die Arbeitslosigkeit nicht zu reduzieren, geschweige denn zu beseitigen sei; dies könne nur durch eine weitere Arbeitszeitverkürzung erreicht werden.

Bzgl. der Produktivitätszuwächse unterschied sie „gutes“ Produktivitätswachstum (bessere/effizientere Technik, bessere Organisation, Vermeidung von Arbeitsunfällen etc.) und „schlechtes“ Produktivitätswachstum (Lohndumping, Zunahme unbezahlter Arbeitszeiten, höherer Leistungsdruck, weniger Pausen etc.). Vieles deutet nach Skrabs darauf hin, dass der „schlechte“ Produktivitätszuwachs weiter an Bedeutung gewinnt.

Was die Entwicklung der Lohnquote betrifft, sei in der Vergangenheit der „verteilungsneutrale Spielraum“ durch die Gewerkschaften nicht ausgenutzt worden. Wenn die Verteilung zwischen Gewinnen und Arbeitseinkommen in Deutschland seit dem Jahre 2000 konstant geblieben und entsprechend die Lohnquote seit 2000 bei 72 Prozent geblieben wäre, hätte es rein rechnerisch ca. 1,2 Billionen Euro mehr für die Beschäftigten im Zeitraum 2000 bis 2013 gegeben; allein für das Jahr 2013 hätte jeder Beschäftigte im Schnitt rund 2.800 Euro mehr verdient. Auf Tage umgerechnet würde dies gut 12 Tage mehr Urlaub bedeuten. Diese Zahlen verdeutlichen, dass es bzgl. der Arbeitszeitverkürzung ein erhebliches Umverteilungspotential gibt; die Gewerkschaften müssen sich die Kritik einer eher zurückhaltenden Tarifpolitik gefallen lassen.

In einem kurzen historischen Rückblick zeichnet Skrabs auch die Entwicklung der Wochenarbeitszeit von 1825 (85 Std.) bis 1995 (35 Std. zumindest in einigen Branchen) nach und ging hier auch auf die aktuellen Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten ein, wonach 54 Prozent der Beschäftigten eine Verkürzung der Arbeitszeit wünschen. Dabei liegt die von Vollzeit- bzw. Teilzeitkräften gewünschte Arbeitszeit bei 34,6 bzw. 34,2 Std. die Woche (beides Berechnungen der Hans Böckler Stiftung von 2008). Schließlich verwies die Referentin noch auf die Bedeutung der Exportüberschüsse in Deutschland und die damit verbundene „Sicherung“ von inländischen Arbeitsplätzen. Eine (wünschenswerte) ausgeglichene Handelsbilanz würde demnach rein rechnerisch den Verzicht auf 2,4 Millionen Erwerbstätige bedeuten, ein Sachverhalt, der in der Debatte um eine weitere Arbeitszeitverkürzung sicherlich besonders zu beachten und zu behandeln ist.

In den Arbeitsgruppen wurden die unterschiedlichen ökonomischen Rahmenbedingungen in den einzelnen ver.di Fachbereichen bzw. der beim Workshop vertretenen Betriebe (bspw. Deutsche Post AG, Telekom AG, Gemeinde- oder Gesundheitswesen) diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass es neben einer allgemeinen gesellschaftspolitischen und gesamtökonomischen Begründung für weitere Arbeitszeitverkürzung (bspw. die Forderung nach flächendeckender Einführung der 35/30 Stundenwoche) einer branchen- bzw. betriebsspezifischen Begründung bedarf und dass hier ggf. dann auch entsprechende Strategien zu entwickeln seien. Dies wurde auch deshalb als Notwendigkeit angesehen, weil in Auswertung der Arbeitsgruppenergebnisse sehr deutlich wurde, dass es innerhalb von ver.di (und dies ist sicherlich nicht auf den Organisationsbereich von ver.di begrenzt) sehr unterschiedliche Arbeitszeitrealitäten gibt.[1][1]

Im Anschluss hieran standen die bisherigen Arbeitszeitinitiativen von ver.di (bspw. die arbeitszeitpolitische Initiative aus den Jahren 2002 bis 2005 – auf Vieles von dem, was damals konzeptionell erarbeitet und umgesetzt wurde, kann m.E. noch heute produktiv zurückgegriffen werden) und die arbeitszeitpolitische Rollback-Strategie der Kapitalseite seit 2005 zur Debatte. Skrabs erläuterte die Arbeitsergebnisse einer zentralen Arbeitsgruppe[2][2], die sich 2013/2014 mehrmals in Berlin auf Initiative des Bereiches Tarifpolitik beim ver.di Bundesvorstand beraten hatte. Teilnehmer dieser Arbeitsgruppe waren zum einen Antragsteller zum Thema Arbeitszeitpolitik (zum ver.di Bundeskongresses von 2011) sowie haupt- und ehrenamtliche Vertreter aus unterschiedlichen ver.di Bezirken und Fachbereichen. Während der Workshops wurde eine arbeitszeitpolitische Konzeptidee entwickelt („Anstöße für eine zukünftige Arbeitszeitpolitik von ver.di“).

Wesentliches Element dieser Konzeption ist die Durchsetzung einer zusätzlichen Verfügungszeit von mehreren Tagen im Jahr, um damit mehr flexible Zeit für Gesundheit, Familie, Weiterbildung, Sicherung von Arbeitsplätzen etc. zu ermöglichen. Die Beschäftigten sollen selbstbestimmt über diese Zeit verfügen können, die u.a. der Entzerrung arbeitsverdichteter Zeit im Erwerbsverlauf dienen soll. Ein solches arbeitszeitpolitisches Einstiegsmodell soll die Vereinbarkeit von Zeiten der Erwerbsarbeit mit anderen gesellschaftlich und privat notwendigen Zeiten fördern. In Kombination mit einem Personalausgleichskonzept soll es neue Arbeitsplätze schaffen.

Das Leitbild einer solchen Arbeitszeitpolitik fasste Skrabs mit der Begrifflichkeit „Kurze Vollzeit für Alle“ zusammen. Dies bedeutet eine Verkürzungsperspektive für Vollzeitbeschäftigte und eine Verlängerungsperspektive für Teilzeitbeschäftigte. Es handelt sich bei dem Ansatz um eine solidarische Arbeitszeitpolitik, die differenzierte Zeitinteressen aufgreift und individuelle Realisierungsmöglichkeiten zulässt. Die konkrete Umsetzung könnte dann auch entsprechend der Branchensituation unterschiedlich betrieblich gestaltet und geregelt werden, ein Sachverhalt, der die o.g. Arbeitsgruppenergebnisse des VL-Workshops in Darmstadt entsprechend widerspiegelt.

Dass eine solche Konzeption im Detail auch eine Menge von Fragen aufwirft (Lohnausgleich, tarifvertragliche Regelungen, Regelungen für Teilzeitkräfte, Regelungen von Konfliktfällen etc.) versteht sich von selbst. Hierfür muss eine entsprechende Diskussionskultur in den Organisationsbereichen von ver.di implementiert werden. Ziel eines solchen Grundsatzpapieres aus der Tarifpolitischen Abteilung der ver.di Bundesverwaltung wäre dann auch, den Stillstand in der Debatte um eine neue gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik zu durchbrechen und die bislang nur in einigen Aktivenkreisen geführte Debatte in die Organisation zu tragen.

Im September findet der ver.di Bundeskongress in Berlin statt, zu dem es sicher wieder eine Reihe von arbeitszeitpolitischen Anträgen geben wird. Bei der Debatte um diese Anträge sollte m.E. darauf geachtet werden, dass es nicht zu Spiegelfechtereien zwischen Vertretern einer scheinbar „radikaleren“ Forderungen zur sofortigen Arbeitszeitverkürzung (35 bzw. 30-Stundenwoche) und denjenigen Kräften kommt, die stärker die aktuellen betrieblichen Realitäten im Blick haben und deshalb einen Forderungsstrategie wählen, die einen Einstieg in eine neue Arbeitszeitdebatte und deren starke Verankerung in den Betrieben favorisieren. Beide Ansätze haben ihre Berechtigung und sollten deshalb in ein strategisches Gesamtkonzept eingebettet werden.

Theoretische ökonomische Modelle z.B. zur Einführung der 30 Stundenwoche[3][3] mögen noch so richtig und notwendig sein. Die Frage ist aber, wo die arbeitszeitpolitischen Interessen der Beschäftigten liegen und wie es um den subjektiven Faktor zur aktuellen Durchsetzung entsprechender Forderungen bestellt ist. Diese Voraussetzungen sind m.E. nicht sonderlich gut. Um dies zu ändern und die „Herkulesaufgabe“ einer signifikanten Arbeitszeitverkürzung stemmen zu können, müssen sich vor allem die Vertrauensleute in den Betrieben zu aktiven Multiplikatoren und Organisatoren einer neuen Arbeitszeitdebatte entwickeln, denn sie sind die Träger der Tarifpolitik in den Betrieben, sie müssen die Belegschaftsinteressen aufnehmen und den subjektiven Faktor dort organisieren. Gelingt dies nicht, werden alle Forderungen nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung zwar richtige, aber relativ folgenlose theoretische Debatten bleiben. Zugleich gilt, dass es ohne ein geschlossenes Handeln des DGB in der Arbeitszeitfrage unter Einbindung sozialer Bewegungen kein gesellschaftliches Klima für eine signifikante Verkürzung der Wochenarbeitszeit geben wird.

Falk Prahl

[1][4] Siehe hierzu ausführlicher Klaus Pickhaus „Gibt es eine neue Dynamik der Arbeitszeitdebatte“ in: Sozialismus 1-2015; Richard Detje u.a., Der Arbeit wieder ein gesundes Maß geben, in: Z 95 (September 2013), S. 97-104.

[2][5] Zur aktuellen Arbeitszeitpolitikdebatte in ver.di siehe den Beitrag von Jörg Wiedemuth, Perspektiven für eine neu Arbeitszeitinitiative von ver.di, in: Kämpfe um Zeit – Bausteine für eine neue (arbeits-)zeitpolitische Offensive, Rosa Luxemburg Stiftung 2014 (sh. auch die Besprechung in diesem Heft).

[3][6] Heinz-J. Bontrup/Mohssen Massarat „Arbeitszeitverkürzung jetzt! 30-Stunden-Woche fordern, Bergkamen 2013.

Links:

  1. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftn1
  2. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftn2
  3. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftn3
  4. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref1
  5. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref2
  6. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref3

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