Buchbesprechungen

Nietzsche, die DDR und die BRD

von Bernhard H. F. Taureck zu Jürgen Große
Dezember 2010

Jürgen Große, Ernstfall Nietzsche. Debatten vor und nach 1989. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2010, 148 Seiten, 17,80 Euro.

Es geht in dieser Darstellung um vor allem zwei Namen und zwei Kulturen der deutschen Bezugnahme auf Nietzsche, um Wolfgang Harich (1923-1995) und um Karl Heinz Bohrer. Der Name Harich ist in Deutschland außerhalb der marxistischen Linken inzwischen vermutlich verblasst, wenn nicht vergessen. Harich votierte aus Furcht vor einem deutsch-deutschen Krieg 1956 für eine Befreiung der DDR vom Erbe jenes als paranoid geltenden Tyrannen im Kreml, für das Ende jeglicher Zensur, für ihren Austritt aus dem Warschauer Pakt, gegen jeden Versuch einer forcierten Konfrontation der beiden deutschen Staatsgebiete und für ein neutrales Deutschland mit freien, gleichen und geheimen Wahlen nach dem Vorbild Österreichs. Er war der Ansicht, dass ein solches Deutschland von seiner Bevölkerung als ein entwicklungsfähiges sozialistisches und ökologisches Gebilde gewollt und gewählt worden wäre. Im Osten galt Harich als Verräter – die Sowjetunion unter Chruschtschow und beraten von Anastas Mikojan wollten keinesfalls ein österreichisches Modell für das große Land Deutschland – und büßte acht Jahre seines Lebens in einem DDR-Zuchthaus ab. Im Westen sah man ihn bestenfalls als antistalinistischen Dissidenten. Dass R. Augstein sich für ihn einsetzte, dass die Berliner FU dem professionellen Philosophen Harich einen Lehrauftrag verschaffen wollte, blieb vergebliche Liebesmüh. Die Berliner Republik ist in Konstruktion und Vertrieb einer Gleichungsbrille außergewöhnlich erfolgreich gewesen: DDR-Opfer = Verfechter der westlichen Wertegemeinschaft. Wer, wie Harich, so lange gesessen hatte und dennoch Kommunist blieb, sogar noch ökologischer Kommunist wurde, mit dem stimmt etwas nicht. Die Gleichungsbrille erlaubt uns zu sagen: Ein solches Subjekt gibt es gar nicht.

Es ist angesichts dieses aktiven Vergessens ein Verdienst von Jürgen Große, sich mit Wolfgang Harich wieder als einem ernst zu nehmenden Autor beschäftigt zu haben. 1986 hatte der DDR-Philosoph Heinz Pepperle in „Sinn und Form“ einen etwas müden Annäherungsessay an Nietzsche versucht, den Harich 1987 mit brillianter Vehemenz bekämpfte, die Nietzsche „ins Nichts!“ wünscht. Der Verfasser bemängelt, Harich fehle völlig der „Sinn für Kontext-Ambivalenzen.“ Zugleich entgeht ihm nicht: „Harich sieht sich als einen der wenigen, die gleichermaßen das politische und das ökophilosophische Verhängnis Nietzsche begreifen: den Präfaschisten und den Produktionsverherrlicher.“ (50)

Am Ende seiner Ausführungen über Harich und die provinziell und mit weiterem Nietzscheverbot endende Nietzsche-Debatte am Ende der DDR – die übliche Rede von der „ehemaligen“ DDR wirkt wie eine einzig für diesen Staat erfundene Gespensterabwehr, denn niemand spricht vom „ehemaligen“ Bismarckreich, von der „ehemaligen“ Weimarer Republik oder vom „ehemaligen“ Dritten Reich – gelingt dem Autor eine bemerkenswerte Kritik der Forschung gegenüber Nietzsche, wie sie hierzulande betrieben wird: Nehmen Lukács und der Lukács-Anhänger Harich Nietzsche wörtlich, so etablierte sich in jener Erforschung die Beanspruchung eines inexistenten Wissens „über ein Kriterium, an welchen Stellen Nietzsche wörtlich zu nehmen ist und an welchen nicht.“ Zielscheibe dieses Spottes ist H. Ottmann, der Nietzsche als planetarischen Ökologen preist.

Der Teil über Bohrer nimmt in Ton und Kritik gegenüber dem Harich- Teil erheblich an Fahrt auf. Bohrer arbeite mit einem unklaren Moderne-Begriff, weil er bei der „Moderne“ nicht zwischen Strukturprinzip und Epoche unterscheide. Wenn er – 2009 – die Westdeutschen zu einer Rückkehr zum Willen zu Macht ermahnt, der jedoch nicht „rassistisch-biologisch“ (der Verfasser bemerkt den Schnitzer und vermutet eine Verwechslung von „biologistisch“ mit „biologisch“, 94) zu verstehen sei, was laut Bohrer ja bereits Nietzsche geschehe, dann holt Große zu folgender Korrektur aus, die einmal mehr zeigen möchte, wie man im Namen Nietzsches Nietzsche deformiert: „Bohrers politisch hyperkorrekt anmutender Entnazifizierungsversuch kehrt die tatsächliche Entwicklung um: Nietzsche gierte förmlich danach, seine Machtwillenslehre durch naturwissenschaftliche Belege zu stützen – biologische, physiologische, physikalische; der Nachlass der 1880er Jahre wimmelt von einschlägigen Metaphern. Wie so viele Nietzscheaner ist Bohrer alles andere als ein redlicher Nietzscheaner.“ (94)

Bohrer mahnt auch Kriegsfähigkeit der Deutschen an, allerdings ohne Nietzsches Selbstrelativierungen. Eher denkt er „in vornuklearen und vorterroristischen Kategorien eines Krieges zu Lande, dessen Operationsbasis wie letzte Bastion die territoriale Integrität sein muss.“ Daher laufe sein Nietzscheanismus hinaus auf „Provinz, die sich von Welt umzingelt sieht.“ (102)

Die weiteren Ausführungen zu Bohrers „Fiat-Bellum-Journalismus“ bieten eine Kritik des (west-)deutschen Heroismusbedarfs, wie sie sonst weder überhaupt noch in dieser Genauigkeit geliefert wird. Dabei entgeht dem Verfasser zum Glück auch nicht eine der vermutlich wirksamsten und unredlichen Klitterungen, die auf das Konto der sublimierten (west-)deutschen Nietzscheapologie geht und über deren Ideologiebedarf längst Scham und Kopfschütteln fällig wären: Nietzsches Herrschafts- und Vernichtungsfantasien werden gern als Symptom seiner krankheitsbedingten Schuldunfähigkeit gelesen, während sie lange vor seiner Psychiatrisierung in seinen Texten erscheinen. Um es im Irrealis zu sagen: Nietzsche hätte sich mit Recht – ähnlich wie es Rousseau im 18. Jahrhundert gelang – gegen die Hoffnung seiner Gegner gewehrt, er sei wahnsinnig. Da war der Italofaschismus ehrlich-naiver, als er in Turin vor Nietzsches Pension in unmittelbarer Nähe zum Sitz des ersten italienischen Parlamentes am 15. Oktober 1944 und „im XXII. Jahr der EF“ (Eta Fascista) eine Inschrift anbringen ließ, die sich noch heute unverändert dort findet und deren Anfang lautet: „In diesem Haus fand Friedrich Nietzsche die Fülle seines Geistes, die das Unbekannte versucht, den Herrschaftswillen, der den Helden fordert“ („In questa casa Federigo Nietzsche conobbe la pienezza dello spirito che tenta l’ignoto, la volontà di dominio che suscita l’eroe“).

Jürgen Großes Buch ist ein Muss für alle diejenigen, die ahnen, dass der Kurs der Nietzsche-Aktie seit etwa 30 Jahren überbewertet wurde und dass sie vielleicht in absehbarer Zeit nirgendwo mehr gehandelt werden wird.

Bernhard H. F. Taureck