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Taktik der Revolution (1906)

Mit einem Kommentar von Holger Politt

von Rosa Luxemburg
Dezember 2014

*

Die Frage, wie sich die Sozialdemokratie gegenüber der Wahlaktion unserer Bourgeoisie zu verhalten hat, stellt überhaupt das Problem der Taktik des Proletariats in der gegenwärtigen Phase heraus. Verlauf und Ergebnis des revolutionären Kampfes hängen im hohen Maße davon ab, wieweit die Arbeiterklasse ihn bewusst führt, wieweit sie Wesen, Bedingungen und Ziele ihrer Taktik genau begreift. Besonders wichtig ist, dass die führenden Kampfreihen mit ganzem Bewusstsein den Unterschied erkennen, den es zwischen der Taktik des Proletariats in friedfertigen Zeiten und in revolutionären Zeiten gibt. Nur die Unwissenheit über diesen Unterschied kann bestimmte Ansichten erklären, wie sie in einigen Kreisen der Sozialdemokratie, zum Beispiel in Teilen unserer russischen Bruderpartei, vertreten werden, Ansichten wie die, dass es „nichtsozialdemokratische“ Taktik sei, wenn die bürgerlichen Parteien bei Vorbereitung und Durchführung der Wahlen zur Zarenduma gestört werden, dass das „Terror“ sei, den die Arbeitermassen nicht begriffen. Falls sich das wirklich so verhielte, wäre das lediglich der Nachweis, dass die Arbeitermassen noch nicht genügend verstehen würden, was Revolution bedeutet und welche Pflichten sie dem kämpfenden Proletariat auferlegt.[1]

Die Taktik der Sozialdemokratie ist ihrem Wesen und ihrem Inhalt nach immer revolutionär. Das folgt aus dem Endziel, aus dem Programm der Sozialdemokratie selbst, das ihren Kampf auf jeder Stufe erleuchtet. Dieses Ziel aber ist die vollständige gesellschaftliche Umwälzung, die völlige Beseitigung des heutigen kapitalistischen Systems und die Einführung einer völlig neuen, der sozialistischen Ordnung auf dem Weg der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, also auf dem Weg der Diktatur des Proletariats. So gesehen ist die gewöhnliche Volksversammlung in Deutschland, auf der die Arbeiter beim Glas Bier ruhig dem neuen Referenten folgen und sich die Ziele und das Programm der Sozialdemokratie bewusst machen, eine um kein Haarbreit geringere revolutionäre Tat als der letzte bewaffnete Arbeiteraufstand in Moskau.[2] Die Taktik, also die alltägliche Kampfweise der Sozialdemokratie, ist ihrem Wesen nach immer revolutionär, soweit sie bewusst auf die Verwirklichung des Programms drängt und wenn das Programm der Sozialdemokratie selbst revolutionär ist.

Freilich sind ihre Formen, die Methoden des proletarischen Kampfes andere in friedfertigen Zeiten, andere in Zeiten der Revolution und müssen auch andere sein. Dieser natürliche Unterschied besteht nicht darin, dass – wie Bourgeoisie und Polizei meinen – während der Revolution „auf den Straßen geprügelt wird und Blut fließt“, während in friedfertigen Zeiten der Arbeiterkampf „zivilisierte Formen“ habe. Der Unterschied liegt viel tiefer.

In ruhigeren Zeiten und während des revolutionären Sturms ist der Klassenkampf des Proletariats das Wesen der sozialdemokratischen Taktik. Doch in ruhigen Zeiten findet dieser Kampf im Rahmen der politischen Herrschaft der Bourgeoisie statt. Das in jedem Land bestehende Recht bestimmt im gegebenen Augenblick die Grenzen und die Formen des Arbeiterkampfes. So muss sich zum Beispiel die Arbeiterklasse in Deutschland bei ihrer Agitation und beim politischen Kampf an die Vorschriften des bestehenden Wahlrechts, des bestehenden Versammlungs- und Presserechts halten, bei ihrem ökonomischen Kampf an das bestehende Koalitions-, also Vereinsrecht usw. Alle diese Rechte, Vorschriften, Beschränkungen zwingen dem Arbeiterkampf von vornherein bestimmte Formen auf; die Fesseln und Schranken sind das Werk der bürgerlichen Parlamente, sind Ergebnis der Gesetzgebung, in der die Bourgeoisie die Mehrheit besitzt, alle diese Rechte sind angepasst an die politische Herrschaft der Bourgeoisie. Und so nutzt die Sozialdemokratie in Deutschland nicht nur die bereits bestehenden politischen Rechte, sondern sie kämpft unermüdlich für die Ausweitung des Wahlrechts, des Vereinsrechts usw. zum Vorteil für das Proletariat, doch führt sie diesen Kampf gegen die politische Herrschaft der Bourgeoisie in den friedfertigen Zeiten nicht anders als auf der Grundlage und im Rahmen des bereits bestehenden Rechts.

Auf diese Weise schafft die „bürgerliche Legalität“, also das Recht zum Schutze der bürgerlichen Herrschaft, so eine Art eisernen Käfig, in dessen Inneren der Klassenkampf des Proletariats stattfinden muss. Deshalb sind in friedfertigen Zeiten das Sammeln von Erfahrung und die Organisierung des Proletariats vorherrschendes Ergebnis dieses Kampfes, wohingegen es eher weniger positive Resultate in Form neuer Errungenschaften und politischer Rechte geben kann. Der deutschen Sozialdemokratie ist es beispielsweise bereits gelungen, unter ihrer Fahne mehr als drei Millionen aus der erwachsenen männlichen Bevölkerung zu versammeln, doch ist diese ganze Macht nicht imstande, die Schutzgesetzgebung oder das Vereinsrecht auch nur einen Schritt voranzubringen, weil Parlament und Regierung derzeit auch weiterhin ganz in den Händen der Bourgeoisie liegen. Im Zarenreich ist der „legale“ Käfig für den proletarischen Kampf in den Zeiten vor der Revolution die uneingeschränkte Herrschaft des Zaren-„Rechts“, also der Peitsche gewesen.

In den revolutionären Zeiten zerplatzt dieser Käfig der „Rechtmäßigkeit“, der „Legalität“ wie ein Kessel, der unter zu viel Dampf stand, und der Klassenkampf entweicht nach außen, entblößt, durch nichts mehr gehemmt. Ökonomisch und sozial herrscht während der Revolution natürlich die Bourgeoisie, ganz wie zuvor, da in ihrem Besitz die Produktionsmittel liegen und auf die Produktion das gesamte soziale Leben ausgerichtet ist. Doch politisch und rechtlich wurde die Herrschaft der bisherigen Regierungsmacht, des Absolutismus aufgehoben, der Kampf des Proletariats kann sich nun in seiner ganzen Stärke zeigen. Revolution ist scheinbar, wenn gewaltige physische Kräfte der herrschenden Macht mit dem aufständischen Volk zusammenprallen. In Wirklichkeit ist die physische Stärke des revolutionären Proletariats selbst nur Resultat und Ausdruck seines politischen Bewusstseins, doch dieses Bewusstsein und die politische Macht treten in der Revolution unverzerrt, ungebunden auf, sind nicht durch die „Rechte“ der bürgerlichen Gesellschaft unschädlich gemacht. Die Klassenkraft des Proletariats gerät mit der Kraft der Herrschaft und der besitzenden Klassen aneinander, die Interessen des Proletariats mit den Interessen seiner Unterdrücker, sie geraten direkt und unmittelbar zusammen, ohne die hemmenden Sperren und Schranken der „Rechtmäßigkeit“. In der Revolution, in der die Klasseninteressen in der direkten Auseinandersetzung angepasst werden, formiert sich das, was Lassalle das Wesen der Verfassung nannte, also das faktische Verhältnis der Klassenkräfte.[3] Davon, welche Position das Proletariat heute, in der Zeit der Revolution tatsächlich auf allen Feldern erkämpfen kann, wird die künftig niedergeschriebene Konstitution, das künftige Recht abhängen, durch das Lage und Bedingung des Arbeiterkampfes vielleicht für Jahrzehnte bestimmt werden. Je mehr politische Kraft das Proletariat jetzt während des revolutionären Sturms zeigt und erobert, desto größer wird dessen Anteil bei den Rechten und desto günstiger wird die Lage unter der späteren, bereits ruhigen Herrschaft der Bourgeoisie nach der Revolution sein.

Deshalb sollte jetzt in der Zeit der Revolution dies die Richtlinie unserer Taktik sein: Die völlige faktische Herrschaft des Proletariats anstreben, eine Art politischer „Diktatur“ des Proletariats anstreben, freilich nicht, um den sozialistischen Umsturz herbeizuführen, sondern um erst einmal die Ziele der Revolution zu verwirklichen. Auf dieses Ziel bewegt sich der ganze revolutionäre Kampf zu. In der einleitenden Phase der Revolution war die Einberufung der konstitutionellen Versammlung durch die Regierung die Losung der Arbeiter in Russland, heute glaubt kein bewusster Proletarier mehr an die Möglichkeit der Einberufung der Konstituante durch die verfallende Leiche des Absolutismus, nicht einmal wünschen würde er sich das noch; nur noch das revolutionäre Volk selbst kann durch den endgültigen Sieg und durch die Beseitigung der Überbleibsel des Regierungskadavers die Einberufung der Versammlung von Volksvertretern bewirken, kann für den gesamten Staat die Republik ausrufen mitsamt der Autonomie für Polen[4], kann den achtstündigen Arbeitstag einführen.

Doch diese revolutionäre „Diktatur“, dieser Sieg des Proletariats wird nicht auf einmal, zu einer bestimmten Stunde kommen oder vom Himmel fallen. Er kann nur das letzte Ergebnis eines allmählichen, aber ständigen Vorrückens des Proletariats zur Herrschaft sein. Der erforderliche und alleinige Weg zu diesem Ziel ist die Verwirklichung des Willens und der Interessen des bewussten Proletariats, der auf Schritt und Tritt durchgekämpft werden muss, die Eroberung der Herrschaft des Proletariats auf jedem Feld, um jeden Preis.

Nehmen wir zwei Beispiele, die den Unterschied der Taktik in friedfertigen Zeiten und in revolutionären Zeiten verdeutlichen. Die Arbeiter in Deutschland führen einen ununterbrochenen und unermüdlichen Kampf für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und haben während dieses Kampfes und zu dessen Unterstützung gewaltige Gewerkschaftsorganisationen geschaffen, die heute bereits über eine Million Mitglieder umfassen. Doch in ihrem ökonomischen Kampf werden sie stark eingeschränkt durch das in Deutschland bestehende Koalitionsrecht, welches z. B. den Landarbeitern oder den Beschäftigten bei Eisenbahn und Post das Recht auf Organisation verweigert. Außerdem werden sogar bei den Industriearbeitern Gewerkschaftskampf und Gewerkschaftsorganisation erschwert – in den Staatsbetrieben durch die Regierung, in den Privatfabriken auf Schritt und Tritt durch Polizei und Gerichte, durch die mächtigen Kapitalkönige in anderen großen Unternehmen, am meisten aber durch die „Kartelle“, also die großen Verbände der Industriekapitalisten. Alle diese Kräfte arbeiten gemeinsam daran, dass der Fabrikant im Recht bleibt, wenn er in seiner Fabrik der „Herr im Hause“ ist. Die deutschen Arbeiter verteidigen sich ausschließlich durch das fleißige Ausnutzen des bereits bestehenden Vereinsrechts sowie durch Agitation auf den Versammlungen, durch Wahlen und im Parlament durch Ausweitung des Rechts.

Doch niemals versuchen sie, aus diesem Recht auszubrechen oder es zu übertreten, beispielsweise versuchen sie überhaupt nicht, mit Gewalt die durch das Recht untersagten Verbände für die Landarbeiter oder die Arbeiter in den Staatsbetrieben zu schaffen. Eine solche Taktik wäre heute in Deutschland unmöglich und zwecklos. Unmöglich, weil in friedfertigen Zeiten ausgeschlossen ist, künstlich jene Kampfenergie und Entschiedenheit in der Masse des Proletariats anzufachen, die im Sturm das erobern könnte, was zu erreichen ist, wobei die möglichen Opfer und Gefahren des Kampfes noch gar nicht eingerechnet sind. Zwecklos, weil ohne den Druck der Kampfaktion des ganzen Proletariats, die eben nur die Revolution hervorbringt, die Versuche einzelner Abteilungen des Proletariats, aus den bestehenden Gesetzen des bürgerlichen Staats auszubrechen, höchstens für ganz kurze Zeit Wirkung erzielen können und kurze Zeit später mit Gewalt wieder beseitigt werden würden.

Eine völlig andere Taktik zwingt die revolutionäre Situation gegenwärtig den Arbeitern in Russland und Polen auf. Hier hängen die Macht der Gewerkschaftsorganisation des Proletariats und dessen Errungenschaften im Kampf mit dem Kapital nicht von formalen „Rechten“ ab, sondern alleine von den tatsächlichen Kräften und vom Bewusstsein der Arbeiterklasse. In seinem Kampf um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen kennt das Proletariat im Zarenreich in der jetzigen Phase keine anderen Grenzen als die des tatsächlichen Leistungsvermögens, und sollte sie auch nicht kennen. Die Arbeiter sollten in ihrem Gewerkschaftskampf möglichst danach streben, die Allgewalt des Kapitalisten in der Fabrik zu brechen und sich eine Position zu erobern, in der die Arbeiter die „Herren im Hause“ sind, zwar nicht in Hinsicht der ökonomischen Macht, da Kapitaleigentum und die Möglichkeit zur Ausbeutung in den Händen des Kapitalisten verbleiben, aber zumindest in Hinsicht der Festsetzung der Arbeitsbedingungen und der inneren Ordnung in der Fabrik. Die Erringung höchster Freiheit, die sich für die Lohnopfer der kapitalistischen Ausbeutung erreichen lässt, und der Einfluss der Arbeiterorganisation muss das richtungsgebende Ziel im gegenwärtigen Gewerkschaftskampf sein, doch dafür ist ein möglichst starker Druck des Proletariats unter Einsatz aller Mittel notwendig, die Ausdruck des Bewusstseins und des Willen der proletarischen Masse sind.

So ist es auch auf dem Feld des politischen Kampfes. In friedfertigen Zeiten, so wie bislang etwa in Deutschland, ist das bewusste Proletariat, wenn es seinen Willen zum Ausdruck bringt und wenn es seine Interessen verteidigt, durch die bestehenden politischen und Rechtsverhältnisse eingeschränkt. Obwohl die Sozialdemokratie in Deutschland die stärkste Partei ist, haben die zusammengeschlossenen bürgerlichen Parteien im Parlament die Mehrheit und setzen ständig ein Recht durch, das darauf zielt, der Arbeiterklasse das Fell über die Ohren zu ziehen und sie zu unterwerfen. Die deutsche Sozialdemokratie kämpft bisher ausschließlich auf dem Wege der friedfertigen Agitation und der Organisation sowie der Wahlkämpfe, wobei sie dahin drängt, die Mehrheit der ganzen arbeitenden Bevölkerung für ihre Ziele zu gewinnen – sie kann in der gegenwärtigen Situation auch nichts anderes machen. Im Zarenreich muss nunmehr das Ziel der Agitation nicht nur und ausschließlich die Aufklärung der breiten Massen des Proletariats sein, sondern überdies die Eroberung des tatsächlichen Einflusses auf die Verhältnisse, die Eroberung der faktischen Herrschaft des Proletariats in der Gesellschaft durch die Stärke des Drucks. Während in friedfertigen Zeiten das Proletariat zum Beispiel die Großtuerei aller bürgerlicher Parteien gelassen ertragen und sich seinerseits auf öffentliche Kritik dieser Politik beschränken muss, kann und muss es in Zeiten der Revolution bedingungslos danach streben, die bürgerliche Reaktion mit eiserner Ferse zu erdrücken, die Aktion ihm feindlicher bürgerlicher Gruppen zu vereiteln. Zu diesen Pflichten gehört nun bei uns im Land, die Nationaldemokratie und deren Wahlaktion zur Duma durch den bedingungslosen Druck der bewussten Arbeitermasse zu erdrosseln.[5]

Das kämpfende Proletariat darf sich natürlich keine Illusionen über die Dauer seiner Herrschaft in der Gesellschaft machen. Nach dem Ende der jetzigen Revolution, nach der Rückkehr der Gesellschaft zu „normalen“ Verhältnissen, wird die Herrschaft der Bourgeoisie sowohl innerhalb der Fabrik als auch im Staat in der ersten Phase ganz sicher einen Großteil des im jetzigen revolutionären Kampf Erreichten beiseiteschieben und beseitigen. Umso wichtiger ist es, dass das Proletariat in die jetzigen Verhältnisse die stärksten Breschen schlägt, dass es die Verhältnisse innerhalb der Fabrik und in der Gesellschaft weitmöglich revolutioniert. Je weiter die Sozialdemokratie die revolutionäre Welle zur politischen Diktatur des Proletariats vorantreiben kann, desto weniger wird die Bourgeoisie gleich nach der Revolution in der Lage sein, das Erreichte zurückzudrängen. Denn mit diesem Streben des Proletariats zur kämpferischen Durchsetzung seines Willens, um „ihn der Gesellschaft aufzuzwingen“, wie die Nationaldemokratie sich beschwert, wird die Arbeitermasse auf kürzeste Weise Klassenbewusstsein und -reife erreichen – der kostbarste und beständige Ertrag der Revolution, der Gewähr gibt für die weiteren Fortschritte des Sozialismus in friedfertigen Zeiten. Unser Proletariat hat bereits glänzendes Zeugnis abgelegt für das Verständnis dieser besonderen Taktik in revolutionären Zeiten, als nämlich die Sozialdemokratie im Sinne der Interessen des Proletariats Ende Oktober und Anfang November letzten Jahres im Dąbrowabecken für bestimmte Zeit die herrschende und über die Verhältnisse bestimmende Macht gewesen war.[6]

Das sollte unablässig das Leitziel der proletarischen Aktion im ganzen Land und im gesamten Staat sein. Denn nicht nur jene Augenblicke, in denen auf den Straßen blutige Kämpfe mit dem Militär ausgefochten werden, sind revolutionäre Zeiten, sondern jeder Augenblick, jeder scheinbar noch so ruhige Tag in der jetzigen revolutionären Phase. Deshalb sollte sich die Sozialdemokratie mit eiserner Konsequenz an die revolutionäre Taktik halten und bei jedem Schritt daran denken, dass Revolution keine Zeit ist, um mit der Reaktion zu diskutieren, sondern eine Zeit, um sie zu erdrücken und durch die Aktion der bewussten Masse des Proletariats niederzuwerfen, eine Zeit, um den Willen des Proletariats kämpferisch durchzusetzen.

Rosa Luxemburgs Revolutionspartei

Nachbemerkung von Holger Politt

Nie wurde Rosa Luxemburg zu Lebzeiten politisch so bestätigt wie am 22. Januar 1905, als im Zarenreich die Revolution ausbrach. Sie saß zu diesem Zeitpunkt zwar in Berlin, hatte sich bereits einen Namen und festen Boden in der SPD erkämpft, aber ihre andere Partei, die sie 1893 in Zürich mitbegründet hatte, war von nun an eine treibende Kraft im Arbeiterkampf gegen die Zarenherrschaft. Die Partei hatte den eigentümlichen Namen „Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens“ (SDKPiL), der zugleich kurzgefasstes Programm war. Eine sozialdemokratische Partei im zu Russland gehörenden Teil Polens, ohne den politischen Kampf auf die in Preußen und Österreich liegenden Teile auszudehnen. Umso wichtiger wurde deshalb der Kampfbund mit der russischen Arbeiterbewegung, der für die Partei strategische Bedeutung bekam.

Eigentlich hätte die Partei auch einfach „Partei der Revolution“ heißen können, denn der Sturz der Zarenherrschaft war den jungen polnischen Sozialdemokraten ohne revolutionäre Erhebung der Arbeiterklasse nicht mehr vorstellbar. Erst der Sturz des Zaren und die Herstellung voller politischer Freiheiten in einer demokratischen Republik für ganz Russland, dann der weitere Weg zur Abschaffung der auf kapitalistischen Verhältnissen beruhenden Gesellschaftsordnung und hin zum Sozialismus, schließlich die Lösung auch der polnischen Frage – so die prinzipielle Reihenfolge in der SDKPiL. Einer anderen Logik folgten die polnischen Sozialisten, die 1892 bei Paris ihre Partei, die PPS, gegründet hatten. Für diese Partei war entscheidend zunächst die Beseitigung der Zarenherrschaft über den polnischen Teil, ein Fanal auch an alle anderen Teile, um schließlich Polen wiederherzustellen. Ein wiederhergestelltes Polen galt hier als beste Voraussetzung für den weiteren Weg zum Sozialismus. Deshalb ordnete sich zunächst alles einem durch die Arbeiter geführten Aufstand unter, der in der Tradition der polnischen Nationalaufstände im 19. Jahrhundert gedacht wurde. Ein Schulterschluss mit der russischen Arbeiterbewegung wurde zwar nicht ausgeschlossen, doch zwingend war er nicht.

Der Wettlauf zwischen SDKPiL und PPS schien mit dem Ausbruch der Revolution entschieden, denn tatsächlich zerbrach die PPS an der Revolutionsfrage. Der größere Teil schob sich weg von der Aufstandstradition hinüber zur Revolutionsseite, ohne allerdings sozialdemokratisch zu werden. Dass schließlich die Aufstands-PPS doch noch die Nase vorn haben wird, lag am Ersten Weltkrieg bzw. dessen Ausgang, der aber zu Revolutionszeiten noch in weiter Ferne lag. Nie war die SDKPiL stärker als in den Revolutionstagen, nie Rosa Luxemburg engagierter in der polnischen Bewegung.

Das Königreich Polen hatte ab den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts eine sprunghafte und gewaltige industrielle Entwicklung vollzogen, die es zum führenden Industriegebiet im Zarenreich machte. Rosa Luxemburgs Dissertation über diese Entwicklung war in der Überzeugung geschrieben worden, dass das alte Polen nunmehr vollkommen untergegangen sei. Nur noch die beiden Hauptklassen der modernen Gesellschaft – das Proletariat und die Bourgeoisie – würden die gesellschaftliche Entwicklung bestimmen. Der bisherige Nutznießer dieser Entwicklung, die zu beschämendem Reichtum gekommene Bourgeoisie in Polen, wusste zu genau, wem das zu verdanken war: Dem unersättlichen russischen Markt und der Ausbeutung des Industrieproletariats, das zudem am meisten litt unter der Knechtschaft der Selbstherrschaft, die aller für den Arbeiterkampf notwendigen politischen Freiheit den Weg versperrte.

Nach Ausbruch der Revolution wurden die Industriezentren im Königreich Polen schnell zu den gefährlichsten Revolutionsherden – unter roten Fahnen! Allein im Industriegebiet von Warschau und Umgebung erreichte die Zahl der streikenden Arbeiter während der Revolution von 1905/06 eine Größenordnung, die zwei Drittel aller Streikenden entsprach, die für ganz Deutschland von 1894 bis 1908 registriert wurden!

Bis Ende 1905 spitzte sich die politische Situation im Zarenreich dramatisch zu, an allen Ecken stand das Riesenland in Flammen. Rosa Luxemburg reiste jetzt nach Warschau, sie stürzte sich mit Haut und Haaren in die Redaktionsarbeit. Da sie illegal ins Revolutionsland gelangt war, blieb sie im Verborgenen, die Feder ihre alleinige Waffe. Sie war überzeugt, in den nächsten Wochen und Monaten den Durchbruch, den Sieg der Revolution zu erleben. Einer dieser Texte ist „Taktik der Revolution“, bei dessen Erscheinen Rosa Luxemburg bereits im Zarengefängnis einsaß. Als sie dieses Mitte Juni 1906 verlassen konnte, schrieb sie die berühmte Zeile: „Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark!“1

Im Februar und März 1906 schrieb Rosa Luxemburg mehrere Texte, in denen sie die Frage stellte, was nach dem Sturz der Zarenherrschaft geschehen müsse. In den zurückliegenden Kämpfen hatte sich das politische Bündnis der SDKPiL mit der Bolschewiki gestärkt, die Kritik an Vorstellungen der Menschewiki nahm zu. Auch wenn die polnischen Sozialdemokraten entschieden für den organisatorischen Zusammenhalt der russischen sozialdemokratischen Partei (SDAPR) eintraten – der Revolutionstakt hatte einiges durcheinander gebracht. Und doch kennzeichnet dieser kurze Text vom März 1906 wie kaum ein anderer den wichtigen Unterschied, durch den sich Rosa Luxemburgs Vorstellungen abheben von dem, was innerhalb der Bolschewiki sich durchsetzen wird. Sie war überzeugt, dass die einmal errungene politische Freiheit, dass die einmal im blutigen Kampf durchgesetzten unteilbaren Freiheitsrechte, an erster Stelle die Meinungs-, die Organisations- und die Versammlungsfreiheit, von der Arbeiterbewegung wie ein Augapfel gehütet werden müssten.

* Czerwony Sztandar, Nr. 56, 23. März 1906, S. 1–3. Übersetzung aus dem Polnischen von Holger Politt. Fußnoten vom Übersetzer. Vorabdruck aus: Rosa Luxemburg, Arbeiterrevolution 1905/06. Polnische Texte. Herausgegeben und übersetzt von Holger Politt, Karl Dietz Verlag, Berlin 2015. Der Band enthält in einer Auswahl Texte, die von 1904 bis 1908 geschrieben wurden. Die meisten der Texte werden zum ersten Mal in Deutsch gedruckt, sehr viele Texte erscheinen überhaupt das erste Mal seit jenen Revolutionstagen. Da die Texte unmittelbar für die kämpfende Bewegung geschrieben wurden, sind sie zugleich eine beeindruckende Chronik der Revolution. Zugleich lässt sich anhand dieses Materials Rosa Luxemburgs Revolutionsverständnis detailliert rekonstruieren, insofern ist dieser Band eine unersetzliche Ergänzung zu den bisher im Deutschen erschienenen Arbeiten Rosa Luxemburgs aus dieser Zeit (siehe insbesondere Gesammelte Werke, Bd. 1/2, Bd. 2 und Bd. 6). Von besonderem Reiz ist, dass die hier veröffentlichten Texte durch das Thema und die inhaltlich-theoretische Substanz in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem deutsch geschriebenen Gefängnismanuskript zur russischen Revolution von 1918 stehen.

[1] Im Herbst 1905 versprach der Zar angesichts einer neu aufbrechenden und gewaltigen revolutionären Welle im ganzen Reich konstitutionelle Reformen, deren Kern die Wahlen zur Reichsduma waren, die schließlich im Frühjahr 1906 stattfanden. Die Arbeiterparteien boykottierten diese Wahlen entschieden, weil das Prinzip des allgemeinen Wahlrechts für jeden erwachsenen Staatsbürger gröblichst verletzt wurde. Zu Diskussionen kam es innerhalb der in zwei Flügel gespaltenen russischen sozialdemokratischen Partei SDAPR. Während die Menschewiki eine Teilnahme an den Wahlen unter Umständen für möglich erachteten, lehnten die Bolschewiki das entschieden ab. Auch die polnische sozialdemokratische Partei SDKPiL, in der Rosa Luxemburg eine herausragende Position innehatte, stand entschieden auf dem Standpunkt, dass die vollen politischen Freiheiten im revolutionären Kampf für den Sturz der Zarenherrschaft durchgesetzt werden müssten. Die Dumawahlen wurden folglich als hintertriebener Versuch abgelehnt, die revolutionäre Welle zu durchbrechen.

[2] Am 7. (20.) Dezember 1906 brach in Moskau ein bewaffneter Straßenaufstand aus, der nach neun Tagen durch herangezogene Truppen blutig niedergeschlagen wurde.

[3] Siehe Ferdinand Lassalle, Über Verfassungswesen. Ein Vortrag, gehalten in einem Berliner Bürger-Bezirksverein 16. April 1862, in: Ders., Ausgewählte Reden und Schriften, hrsg. v. Hans Jürgen Friederici, Berlin 1991, S. 82–105.

[4] Zum Verständnis der polnischen Frage nach der Revolution siehe: Rosa Luxemburg, Nationalitätenfrage und Autonomie, hrsg. und übersetzt von Holger Politt, Berlin 2012.

[5] Die Nationaldemokratie war die wichtigste bürgerliche Partei im zu Russland gehörenden Königreich Polen, die sich bereits frühzeitig und offen gegen die Arbeiterrevolution stellte. Sie beteiligte sich an den Dumawahlen und gewann im April 1906 fast alle Abgeordnetenplätze, die für Polen vorgesehen waren. Während der Wahlkampagne kam es zu scharfen, teils bewaffneten Auseinandersetzungen mit den Arbeiterparteien. Rosa Luxemburg verurteilte das Auftreten der Nationaldemokratie in mehreren Artikeln scharf.

[6] Ende Oktober/Anfang November 1905 versammelten sich mehrere Zehntausend Arbeiter auf Kundgebungen in den größeren Städten des Kohlereviers, so in Sosnowiec, Dąbrowa Górnicza und Będzin. Zugleich wurden Selbstverwaltungsstrukturen durch Arbeiterkomitees gebildet. Die Behörden meldeten alarmiert, die faktische Macht im Revier gehöre bereits der Sozialdemokratie. Industrielle wandten sich an Witte und Skalon, um dem Treiben entschieden Einhalt zu gebieten. Im November 1905 verhängte der Zar über das Königreich Polen das Kriegsrecht.

1 Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 2, Berlin 1984, S. 259.

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