Buchbesprechungen

Gesichter von Henkern und Opfern

von Werner Roehr zu Beilenhoff/Hänsgen
Dezember 2010

Der gewöhnliche Faschismus. Ein Werkbuch zum Film von Michail Romm, hrsg. von Wolfgang Beilenhoff und Sabine Hänsgen unter Mitwirkung von Maja Turowskaja, Drehbuchautorin des Films, vorwerk 8, Berlin 2009, 335 S., 24 Euro

Michail Romms Dokumentarfilm „Der gewöhnliche Faschismus“ ist heute weitgehend vergessen, ganze Generationen Ost- wie Westdeutscher haben ihn nie gesehen. An ihn zu erinnern und seine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte aufzuarbeiten ist außerordentlich verdienstvoll.

Die deutschen Herausgeber wählten für das Werkbuch einen schwarzen Hintergrund für Fotos und Filmtexte, um so dem Buch eine filmische Dimension zu geben. Die Ausgabe enthält außer dem knapp 200 Seiten umfassenden Foto-Text-Buch zum Film rund 130 Seiten Beilagen: ein Vorwort von Maja Turowskaja, der Mitschöpferin des Films, und zwei sehr instruktive Beiträge von Romm, von Turowskaja und Juri Chanjutin über den Produktionsprozess des Films. In ihrer ausführlichen und informativen Einleitung analysieren die Herausgeber den Film kunstästhetisch und politisch und stellen seine Rezeptionsgeschichte dar. Zu dieser Rezeption des Films in der UdSSR, der DDR und der BRD werden außerdem zeitgenössische Pressebeiträge sowie mehrere Artikel abgedruckt. Zwei Beiträge über die Nachkriegsgeschichte des Reichsfilmarchivs beschließen den Band.

Seine Premiere erlebte der Film am 13. November 1965 in Leipzig, auf dem Dokumentarfilmfestival, das in jenem Jahr unter dem Thema „Internationale Dokumentarfilme über den Kampf gegen den Faschismus“ stand. In der Sowjetunion hatte er zu diesem Zeitpunkt das „ok“ für seinen Weg auf die Leinwand noch nicht erhalten. Der Filmregisseur Konrad Wolf, der sein Handwerk bei Michail Romm und Sergej Gerassimow in Moskau erlernt hatte und seit Juni 1965 Präsident der Akademie der Künste der DDR war, hatte es „für eine Gewissenspflicht“ gehalten, sich für den Film einzusetzen und eine Privatvorführung für Walter Ulbricht zu Wege gebracht. Im Vorwort einer DDR-Publikation zu diesem Film schrieb er: „‘Der gewöhnliche Faschismus’ war und bleibt der erste und für mich einzige Film, der eine Antwort auf die gewiß sehr komplizierte Frage gab: Wie decken wir das ‚Geheimnis’ auf, wie der deutsche Faschismus es fertigbrachte, in die Seele und in den Verstand von Millionen und Abermillionen Deutschen Eingang zu finden.“[1][1] Der Erfolg in Leipzig, wo der Film die Goldene Taube errang, erleichterte die Entscheidungsfindung in Moskau und den internationalen Start des Films.

In der Sowjetunion kam er ein Jahr später, im März 1966 in die Kinos. Seine Zulassung in der DDR nach Synchronisation in deutscher Fassung erhielt er am 3. März 1966 für fünf Jahre, aber schon im Mai 1967 wurde er „ins Regal“ gelegt. Die Begründung: „Die mit diesem Film beabsichtigte Wirkung wurde erreicht. Deshalb kann der Film aus dem Einsatz genommen werden.“

In der Sowjetunion wurde der Film ein Riesenerfolg. Diese geistig anspruchsvolle und doch überaus emotionale Auseinandersetzung mit dem Hitlerfaschismus zog Millionen Zuschauer an, erschütterte und entsetzte – und überzeugte sie. In knapp einem Jahr sahen ihn 20 Millionen Sowjetbürger. In der Bundesrepublik wurde der Film als kommunistische Propaganda abgetan. Erst nach langen Auseinandersetzungen strahlte die ARD den Film aus, mit einem Vorwort von Eugen Kogon 1968 und um einige Sequenzen gekürzt, insbesondere jene über neofaschistische Aktivitäten in der Bundesrepublik, Großbritannien und den USA. Traf der Film in der DDR auf große Zustimmung, so löste er in der BRD Kontroversen aus. Der damalige Intendant des WDR, Klaus von Bismarck, stellte Strafanzeige wegen „Beihilfe zur Volksverhetzung“. Seine Kinopremiere fand in der Bundesrepublik erst 1970 statt.

In Romms Film werden sehr unterschiedliche Fotodokumente montiert und jeweils kommentiert. Er und seine Mitarbeiter hatten aus von der Roten Armee erbeuteten Beständen des Reichsfilmarchivs rund zwei Millionen Meter deutschen Filmmaterials gesichtet. Sie stammten aus deutschen Wochenschauen und Kulturfilmen. Romms Montage zeigte Bilder, die die deutschen Faschisten selbst für die Öffentlichkeit bestimmt hatten. Und er zeigt Fotos, die sich z.B. in Brusttaschen gefallener Wehrmachtsoldaten fanden und ihre „Heldentaten“ belegen sollten.

Romms Kompilation unterscheidet sich von anderen dokumentarischen Verfahren dadurch, dass er den Archivbildern jeweils konkrete historische Bezüge zuschreibt. Angelehnt an Eisensteins „Montage der Attraktionen“ baut Romm seine Dokumentation als „kontrastierende Gegenüberstellung überraschender, schockierender, affektbesetzter Momente“ auf (Beilenhoff/Hänsgen), jeweils aus dem Blickwinkel seiner Gegenwart. Es sollte keine bebilderte Geschichtslektion sein, darum wählte er auch nicht eine chronologisch-historiographische Darstellung, sondern sortierte nach Themen.

Um die verschiedenen Dimensionen des Faschismus zu erfassen, gliederte Romm seinen Dokumentarfilm in 16 Kapitel, mit je einem eigenen thematischen Schwerpunkt. Dabei kontrastiert er im harmloseren Fall Bilder von den Typen der Rassenforscher mit den Naziführern, im nicht mehr harmlosen Kinderzeichnungen und Bilder gemordeter Kinder. Und er kontrastiert den Alltag der Menschen im faschistischen Deutschland, ihre Wünsche nach Glück und Freude im Leben mit Bildern der Auslöschung der Lebensansprüche der gemordeten Opfer. Dem Alltag der faschistischen Machtdarstellung in Massenversammlungen, Paraden oder Aufmärschen, auf Parteitagen oder Festen stellt er Bilder ihrer gewöhnlichen Bestialität gegenüber. Und er zeigt den Umschlag, da beides gewöhnlich sein konnte, die fröhlichen jungen Männer, die ihre Kinder, ihre Frauen, ihr Leben liebten, und denen als Soldaten das Erschießen, Erhängen und Köpfen, das Foltern und Niederbrennen zur Gewohnheit wird. Romms Film agitiert und moralisiert nicht, er flüchtet angesichts der gewöhnlichen Grausamkeit der sympathischen Burschen in die Ironie. Schwerpunkte sind Kriegsgeschehen, Kriegsverbrechen, Völkermord und der politische Widerstand. Besonders oft zeigt Romm Gesichter, der Verführer wie der Verführten, der Schinder und Henker wie der Opfer, der unbekümmert Lebenden wie der unbekümmert Mordenden. Er wollte so die psychologischen Dimensionen des gewöhnlichen Faschismus anschaulich machen. Das ist ihm gelungen. Besondere Aufmerksamkeit richtet er auf den Führerkult um Hitler, die Kultur und die Rassendoktrin des „Dritten Reiches“.

Aufgrund des außerordentlichen Publikumserfolges des Films gab der sowjetische Staatsverlag für Kunst bei Romm und seinen Mitarbeitern ein Buch zum Film in Auftrag. Es sollte in der populären Serie „Meisterwerke des sowjetischen Kinos“ erscheinen. Das Buch fiel der sowjetischen Zensur zum Opfer, obwohl Romm einen Brief an Breshnew schrieb, um es doch noch erscheinen zu lassen. Romm fragte seinen Zensor, welchen Sinn es habe, ein Buch zu verbieten, das höchstens ein paar tausend Leser haben werde, wenn bereits Millionen den Film gesehen haben. Die Antwort lautete: „Den Film sieht und vergißt man. Das Buch hingegen wird man öffnen und nachdenken.“ (20) Zweifellos hängt das Verbot mit jener partiellen Restauration des Stalinismus in der UdSSR zusammen, die nach der Absetzung Chruschtschows von der Breshnew-Führung auch im öffentlichen Leben vollzogen wurde. Der erfolgreiche Dokumentarfilm wurde im sowjetischen Fernsehen nicht mehr gezeigt. Erst 2006 erschien das Foto-Text-Buch in russischer Sprache in Leningrad.

Auch wenn die Herausgeber versuchen, dem Film eine beabsichtigte oder unbeabsichtigte antistalinistische Analogie als entscheidende Wirkungskomponente zu unterstellen, aus deren Befürchtung auch das Buch verboten wurde, so ist gegen sie festzuhalten: Romm hat keinen Film über den „gewöhnlichen Stalinismus“ gemacht. Und veraltet, wie Turowskaja meint, ist der Film nicht, er kann auch heute seine Wirkung entfalten. Jedem Zuschauer, der in den 1960er Jahren Romms „Der gewöhnliche Faschismus“ gesehen hat, sei dieses spät nachgereichte Buch empfohlen und den russischen Autoren wie den deutschen Herausgebern dafür gedankt.

Werner Röhr

[1][2] Konrad Wolf: Sag Dein Wort! In: Michail Romm, Juri Chanjutin, Maja Turowskaja: Der gewöhnliche Faschismus. Szenarium und Arbeitsberichte. Mit einer Einleitung von Konrad Wolf. Filmwissenschaftliche Beiträge, 22. Jg .(1981, Heft 3), S. 11.

Links:

  1. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftn1
  2. https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de#_ftnref1