Kapitalismus in Osteuropa

Ukraine: Die Politische Ökonomie der Oligarchen

von Christina Plank
September 2014

Die politische und sozioökonomische Krise in der Ukraine hält seit November 2013 an. Ausgelöst wurden die Proteste am Majdan durch die Nicht-Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union durch Janukowytsch. Aufgrund des gewaltsamen Vorgehens gegen die Demonstrant_innen richteten sich diese jedoch rasch in erster Linie gegen den zu dieser Zeit amtierenden Präsidenten und sein Regime. Mit dessen Absetzung folgten in den letzten Monaten die Abspaltung der Krim, kriegerische Auseinandersetzungen im Osten und Süden des Landes, die Ströme von Flüchtlingen verursachten, wie auch die „Annäherung an den Westen“ mittels Unterzeichnung neuer IWF-Kredite sowie des Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union. Die derzeitige Krise instrumentalisiert, wie es für das Land typisch ist, die Frage der West- bzw. Ostausrichtung und lässt dabei sozio-ökonomische Faktoren in den Hintergrund treten. Nationalistische Rhetorik hat im Konflikt längst überhand gewonnen und Fragen von Faschismus werden kontrovers bzw. unzureichend behandelt (Shenfield 2014).

Die Position der Ukraine als Semi-Peripherie zwischen der Europäischen Union und Russland prägt daher neben internen Kämpfen die Entwicklung des noch relativ jungen Staates bzw. können die internen Prozesse nicht ohne die Einbettung der Ukraine in das Weltwirtschaftssystem verstanden werden. Um zu einem Verständnis der momentanen Entwicklungen beizutragen, gehe ich im Folgenden der Frage nach, wie sich die kapitalistische Produktionsweise in der Ukraine durchsetzte und welche Konsequenzen dies für die ukrainische Bevölkerung mit sich brachte. Meine These lautet im Einklang mit Bojcun (2014) und Yurchenko (2012), dass sich mit den so genannten Oligarchen seit den 1990er Jahren eine nationale Kapitalistenklasse herausgebildet hat. Der Ausschluss der Bevölkerung von deren ökonomischem Erfolg wie auch das erschwerte Mitbestimmen in politischen Prozessen führte immer wieder zu Protesten im Lande. Diese trugen jedoch nicht zu einer Schwächung der Oligarchen bei, sondern hatten eine intensivierte Kapitalakkumulation zum Resultat. Um dies zu erläutern, beleuchte ich im Weiteren die Entwicklungen der letzten knapp 25 Jahre in der Ukraine.

Die Ukraine unter Kutschma

Die Ukraine wurde nach einem Referendum über ihre Unabhängigkeit im Dezember 1991 – klammert man Staatsgründungsversuche nach dem Ersten Weltkrieg aus – erstmals in der Geschichte als eigenständiger Staat gegründet (Jobst 2010: 7). Dies ging einher mit dem Zerfall der Sowjetunion, welche den Zusammenbruch wichtiger Industriesektoren – v.a. der Hochtechnologien wie Luft- und Raumfahrt, Rüstung oder Teile der Maschinenbauindustrie (Bojcun 2014, Ishchenko 2014a: 8f.) – wie auch der Landwirtschaft mit sich brachte (Danyluk 2010: 181).

Unter Leonid Kutschma, der 1994 Leonid Krawtschuk im Amt des Präsidenten folgte, stabilisierte sich die Lage im Lande. Gleichzeitig gewann ein System aus Oligarchen, das sich seit Ende der 1980er Jahren aus einer Kombination von Nomenklatur und kriminellen Vereinigungen herausbildete, enormen Einfluss in den politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Gegliedert in so genannte regionale Clans um Donezk, Dnipropetrowsk und Kiew erlangten diese in den ersten Jahren der Unabhängigkeit v.a. durch Privatisierungen der lukrativsten Sektoren, der Metall-, Öl- und Gas- wie auch von Teilen der Maschinenbau- und Nahrungsmittelindustrie (Pleines 2010: 125) immensen Reichtum (Matuszak 2012: 13-17). Zugleich fanden diese Privatisierungsprozesse eingebettet in globale neoliberale Politiken statt, die mittels Unterstützung internationaler Organisationen im postsowjetischen Raum propagiert wurden (zur Rolle von westlichen neoliberalen Think Tanks in der Kohleindustrie und deren Durchsetzungsproblemen siehe Swain 2006). So war der Internationale Währungsfond ab 1994 mit Krediten in der Ukraine präsent (Yurchenko 2012: 128, 131).

Durch die Umbrüche verringerte sich das Bruttoinlandsprodukt in den 1990er Jahren um knapp 60 Prozent und erst 1999 setzte – nach der Finanzkrise von 1998 – erstmalig Wachstum ein, das bis zur nächsten Krise 2009 andauern sollte (Myhknenko/Swain 2010: 147). Dies beruhte auf der Abwertung der Hrywnja (die nationale Währung wurde erst 1996 als letzte im post-sowjetischen Raum eingeführt), der erhöhten Nachfrage nach Rohstoffen sowie einer institutionellen Stabilisierung. Von Regierungsberatern wurde die Importsubstitution als Wachstumsstrategie angestrebt (Halchynskyi/Heiets 2004, zit. nach Bojcun 2014). Mykhnenko und Swain (2010: 155-157) bezeichnen den Zeitraum von 1999 bis 2004 als „Kuchmanomics“ (ebd.: 155, kursiv im Original). In dieser Periode ist die ukrainische Entwicklung auf einen exportgestützten, nationalen Kapitalismus ausgerichtet; sie stützte sich auf einen schwachen Entwicklungsstaat. Dieser Entwicklungstrend entfaltet sich bis Mitte der 2000er zu einer koordinierten Marktwirtschaft. Dabei waren die ökonomischen und politischen Strategien explizit auf die Errichtung einer nationalen Kapitalistenklasse, möglichst unter Ausschluss ausländischer Beteiligungen, gerichtet. Fokussiert auf die Industrie im Osten und Süden des Landes wurden v.a. Eisen, Stahl und Metallerzeugnisse exportiert. Der Anteil der Börsenmarktkapitalisierung und ausländischen Direktinvestitionen blieb relativ gering (Myhknenko/Swain 2010: 156f.), wenngleich zunehmend russische Investoren sich an Raffinerien und verarbeitender Industrie beteiligten und beabsichtigten, den Gastransit durch die Ukraine zu kontrollieren (Bojcun 2014).

Außenpolitisch war Kutschma für den sogenannten „multivektoralen“ Kurs bekannt, der zwar das Ziel einer EU-Annäherung propagierte, jedoch prinzipiell für einen Ausgleich zwischen EU und Russland sorgte (Stewart 2011: 5, 9). Ebenso fungierte Kutschma in dem präsidentiellen System als eine Art Manager der Oligarchen, der die Interessen der verschiedenen oligarchischen Gruppen ausbalancierte (Matzuszak 2012: 13f). Denn die miteinander konkurrierenden Clans, die als unterschiedliche Kapitalfraktionen verstanden werden können, bestimmten maßgeblich die sozio-ökonomische und politische Entwicklung in der Ukraine. „Darüber hinaus strebt das oligarchische Kapital der Ukraine an, die Grenzen des in jedem Kreislauf angelegten Möglichen zu überwinden, indem Kapital in FIGs (Anm.: Finanz-Industrie-Gruppen) konzentriert wird, welche gleichzeitig in der Mehrwertproduktion in den Kreisläufen des Waren-, Produktiven- und Geldkapitals in Kombination mit einer direkten Beteiligung an Gesetzgebung und Politikgestaltung aktiv sind. (Yurchenko 2012: 128). Politisch beteiligen sie sich entweder durch Lobbyisten und Strohmänner oder direkt selbst z.B. als Abgeordnete oder Minister (Matuzsak 2012). So waren am Ende von Kutschmas Amtszeit der Industrieverband Donbass (ISD; Witalij Hajduk und Serhij Taruta, Donezk), System Capital Management (SCM; Rinat Achmetow, Donezk), Interpipe (Wiktor Pintschuk, Dnipropetrowsk) und Privat Group (Ihor Kolomojsky und Hennadij Boholjubow, Dnipropetrowsk) die vier wichtigsten Gruppierungen. Ihre Konkurrenz verursachte die politische Krise nach der „Orangenen Revolution“ und verhalf so der „Partei der Regionen“ zum Sieg bei den Parlamentswahlen 2007 (Pleines 2010: 127-130, Yurchenko 2012: 126f.).

Zwar konnten sich die Oligarchen als nationale herrschende Klasse etablieren; alle anderen Klassen und Schichten wurde jedoch nicht an ihrem Erfolg beteiligt. Yurchenko (2012: 128) identifiziert hierbei vier Mechanismen: Privatisierungen, Regulierungen ausländischer Direktinvestitionen, die v.a. Kapital aus Steueroasen anziehen, die Etablierung von Sonderwirtschaftszonen sowie die Gestaltung von Rechtsreformen und -abläufen zugunsten der Oligarchen. Laut Yurchenko kreieren diese Mechanismen „Schwarze Löcher“ in der Wirtschaft, auf denen die Kapitalakkumulation der Oligarchen beruht und aufgrund derer die Neoliberalisierung der Ukraine, in dem Profit per Offshore abgezogen wird, durch die Oligarchen vorangetrieben wird. Als Folge entstand zunehmender Unmut in der ukrainischen Gesellschaft in Form von Protesten. Ein breites Bündnis „Ukraine ohne Kutschma“ ging Ende 2000 auf die Straße, um gegen die Ermordung des Journalisten Georgij Gongadze, der geheim aufgezeichnete Gespräche über die Machenschaften Kutschmas veröffentlicht hatte, und gegen die Korruption zu demonstrieren (Danyluk 2010: 188). Diese Proteste waren neben den Streiks der Bergarbeiter im Süden und Osten des Landes, in den 1990er Jahren die stärksten in der Zeit Kutschmas (ebd.: 183-185).

Die „Orangene Revolution“ und deren Folgen

Im November 2004 sollte Wiktor Janukowytsch als auserwählter Nachfolger Kutschmas als Präsident folgen. Unterstützt von der „Partei der Regionen“ und damit der finanzstarken Oligarchen wie Achmetow musste er jedoch seinem Gegenspieler Wiktor Juschtschenko aus dem orangenen Lager nach einer Wahlwiederholung, die von Demonstrant_innen am Majdan eingefordert worden war, das Amt überlassen (Danyluk 2010: 189-191, Matuszak 2012: 20-22). Juschtschenko und seine Partei „Unsere Ukraine“ wurden v.a. von kleinen und mittelständischen Unternehmen unterstützt (Matuszak 2012: 23). Forderungen der Demonstrant_innen waren in erster Linie, der Kampf gegen Korruption, gegen Gewalt und für bessere Lebensbedingungen (Bojcun 2014).

Um sich die oligarchische Zustimmung zu sichern, hatte Kutschma vor den Präsidentschaftswahlen 2004 weitere Privatisierungen durchgeführt. Das führte zu einer starken Konzentration in der Wirtschaft zugunsten der bereits oben genannten Gruppen (Yurchenko 2012: 138f.). Julija Tymoschenko, die gemeinsam mit Juschtschenko die Orangenen anführte, wollte als Ministerpräsidentin entsprechend den vorherigen Forderungen der „Orangenen Revolution“ 3.000 Unternehmen rückverstaatlichen. Dies gelang nicht, u.a. aufgrund der fehlenden Zustimmung Juschtschenkos, der nicht mit den gegnerischen Oligarchen brechen wollte (Matuszak 2012: 24f., Pleines 2010: 132). Jedoch wurde im Oktober 2005 das größte ukrainische Stahlunternehmen (Kryworischstal in Krywyj Rih) reprivatisiert und an den weltweit größten Stahlproduzenten AcelorMittal verkauft. Dadurch wurde nicht nur die Forderung nach Aufhebung der korrupten Privatisierung befriedigt; Tymoschenko konnte damit auch gegen die gegnerische Donezker Klassenfraktion vorgehen und die ukrainische Wirtschaft, wie von der orangenen Fraktion angestrebt, für westliches Kapital öffnen (Bojcun 2014). Die ausländischen Direktinvestitionen stiegen durch diesen Verkauf von 1,7 Milliarden US-Dollar 2004 auf 7,8 Milliarden 2005 erheblich an (Mykhnenko/Swain 2010: 157).

In Folge der „Orangenen Revolution“ entwickelte sich ein neues Entwicklungsmodell („Orangeism“, 2005-2008), das unter dem Vorzeichen der Finanzialisierung sowie eines schwachen Wettbewerbsstaats stand. Die Kapitalimporte stiegen durch erhöhte ausländische Direktinvestitionen, aber auch durch wachsende Aktivitäten europäischer Banken an. In weniger als fünf Jahren konnten ausländische Banken mehr als 50 Prozent des ukrainischen Banksektors erobern. Als neue Finanzzentren bildeten sich die Regionen Kiew und Charkow heraus. Darüber hinaus wurden die Tourismusregionen durch importiertes Kapital gestärkt (Mykhnenko/Swain 2010: 157-161). Außerdem trat die Ukraine im Mai 2008 trotz sonst herrschender politischer Kontroversen der WTO bei (Åslund 2010: 196).

Die ausländischen Direktinvestitionen trugen jedoch ebenso wenig wie die weiter bestehenden und weiter bestimmenden oligarchischen Strukturen zur Prosperität des Landes bei (Bojcun 2014). Die Oligarchen unterstützten entweder das blaue oder das orangene oder auch beide Lager (zur selben Zeit oder nacheinander). Sie erwirkten im Zuge der „Organgenen Revolution“ eine Einschränkung der Rechte des Präsidenten, um dessen Rolle zu schwächen und die Ukraine in ein parlamentarisches System zu transformieren. Dadurch war der Spielraum Juschtschenkos eingeschränkt. Schließlich führten die Kämpfe innerhalb der orangenen Fraktion sowie zwischen den Finanz-Industrie-Gruppen insgesamt zum Erfolg Janukowytschs (Leshchenko 2014, Yurchenko 2012).

Die Wirtschafts- und Finanzkrise und der Machtausbau
Janukowytschs

Die Ukraine wurde – nicht zuletzt aufgrund des globalen Nachfragerückgangs an Metallprodukten – besonders hart von der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007ff getroffen. Die Einbußen im Export führten zu einer Bankenkrise, da die Auslandsschulden nicht mehr bedient werden konnten. Smith und Swain (2010: 2f.) sehen die Krise allerdings nicht nur als von außen (kontrahierende Exportmärkte), sondern auch intern bedingt durch die Abhängigkeit vom jeweiligen Entwicklungsmodell eines Transformationsstaats. Aufgrund der Hrywnja-Abwertung Ende 2008 erhöhten sich die Kosten der Fremdwährungskredite – ca. 50 Prozent der ukrainischen Kredite – auf beinahe das Zweifache. Gleichzeitig wurde die Krise von drei großen russischen Staatsbanken (Sberbank Rossii, Wneschekonombank, VTB) und der privaten Alfa Bank als Möglichkeit genutzt, sich im Finanzsektor der Ukraine einzukaufen und damit die EU- und die privaten ukrainischen Anteile zu reduzieren (Åslund 2010: 202-205). Russisches Kapital kaufte sich ebenso in den Industrieverband Donbass (ISD) mittels der Wnescheconombank ein; damit wurden erstmals russische Investoren in der ukrainischen Metallurgie tätig (Martuszak 2012: 29). Voraussetzung für dieses Eindringen russischen Kapitals waren die großen Einbußen der Exportindustrien (Zweige der Metallverarbeitung, der Chemie- und Maschinenbauindustrie, der Zement-Herstellung sowie Bau und Bergbau). Allein der landwirtschaftliche Sektor konnte positive Zahlen schreiben (Åslund 2009: 199). Die Landwirtschaft spielt seitdem eine zunehmend wichtige Rolle für die ukrainische Ökonomie und erweckt steigendes Interesse bei den Oligarchen, die zunehmend Agrarland in der Ukraine pachten. Die Privatisierung von Land – Agrarland darf momentan nicht verkauft werden – ist allerdings weiterhin umstritten. Zugleich erhält die Finanzialisierung von Land über so genannte Agroholdings, die durch Zusammenschlüsse von ehemaligen Kolchosbetrieben je Hunderttausende von Hektar Land kontrollieren, auch in der Ukraine Eingang (Plank/Plank 2014). UkrLandFarming (2014) ist nicht nur die größte Agroholding der Ukraine, sondern mit ca. 650.000 Hektar auch die achtgrößte weltweit.

Im Oktober 2008 erhielt die Ukraine nach raschen Verhandlungen mit dem IWF einen Kredit von 16,4 Milliarden Dollar für zwei Jahre, der in jeweils vier Tranchen pro Jahr ausbezahlt werden sollte. Im Herbst 2009, kurz vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen, weigerte sich Juschtschenko jedoch, weiteren Auflagen nachzukommen, die für die Auszahlung der Tranchen Voraussetzung waren. Er bezog damit eine Gegenposition zu Tymoschenkos Regierung (Åslund 2010: 199-202). Tymoschenkos Nachfolger Azarow nahm 2010 wieder einen Kredit vom IWF auf, der allerdings 2011 eingefroren wurde, weil sich die Ukraine nicht daran hielt, die Gaspreise für die Bevölkerung zu erhöhen (The Economist 2014). „ So verwandelte die Regierung die Schulden des privaten Sektors, die durch die Krise entstanden sind, in öffentliche Schulden der ukrainischen Arbeiter_innen und Steuerzahler_innen. (Bojcun 2014, kursiv im Original)

Anfang 2010 wurde Janukowytsch zum Präsidenten gewählt. Ende des Jahres trat wieder dasselbe präsidentielle System wie vor der „Orangenen Revolution“ 2004 in Kraft. Der Donezk Clan und die RUE Gruppe – beide zugehörig zur „Partei der Regionen“, wobei letztere sich um den früheren Gas-Zwischenhändler RosUkrEnergo formierte und russischem Kapital nahe steht – sowie „die Familie“ – ein neuer Clan um den Präsidenten – waren nunmehr bestimmend. Der Clan „die Familie“ entstand durch den Machtausbau Janukowytschs, der seine Söhne und Vertrauten mit wichtigen politischen Ämtern ausstattete; deren Reichtum wuchs schnell an. Tymoschenko wurde wegen Amtsmissbrauchs verurteilt und kam im August 2011 ins Gefängnis (Matuszak 2012: 37-46). Weitere Privatisierungen im Energiebereich wie auch der Ukrtelekom folgten, von denen v.a. Achmetow und „die Familie“ profitierten (Leshchenko 2014).

Bereits im Herbst 2010 fanden Proteste von Studierenden gegen Reformen im Bildungsbereich, die erhöhte Gebühren mit sich bringen sollten, statt. Ebenso demonstrierten die Afghanistan-Veteranen und die Menschen, die in Tschernobyl Reinigungsarbeiten durchführten, gegen Pensionskürzungen. Kleinere und mittlere Unternehmer wandten sich gegen ein neues Steuer- und Arbeitsrecht. Unabhängige Gewerkschaften protestierten im Süden und Osten des Landes gegen die Einsparungen und Stilllegungen, die durch die Krise verursacht wurden (Ryabchuk 2014: 4, Varga 2012).

Die Proteste am Majdan und aktuelle Entwicklungen

Wie bereits eingangs erwähnt, zeigte sich Janukowytsch im November 2013 nicht bereit, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, da er weder an Macht verlieren noch auf die konkrete Unterstützung Russlands verzichten wollte. Nach den Februar-Ereignissen am Majdan, die den Sturz Janukowytschs verursachten und über hundert Tote und über Tausend Verletzte mit sich brachten, unterzeichnete die Interimsregierung den politischen Teil des Assoziierungsabkommens im März und den Wirtschaftsteil nach der Präsidentschaftswahl Ende Juni 2014. Das Freihandelsabkommen wird neben einer Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen auch in die ukrainische Gesetzgebung eingreifen, z.B. in die Industrie- oder Energiepolitik. Es wird aufgrund der ungleichen wirtschaftlichen Voraussetzungen ukrainische Industrien gefährden und durch Subventionsabbau zur Erhöhung von Energiepreisen beitragen. Überdies gilt es zu berücksichtigen, dass neben der EU auch Russland ein überaus wichtiger Außenhandels-Partner für die Ukraine ist: 2012 gingen je ca. 25 Prozent der Exporte an beide Nachbarn; die Importe stammen zu ca. 40 Prozent aus der EU (v.a. Industriegüter) und zu ca. 20 Prozent aus Russland (v.a. Energie) (Becker 2014).

Durch die Form der „Europäischen Nachbarschaftspolitik“ wird die Ukraine kein „insider“, sondern sie bleibt ein „partial outsider“ ohne direkte politische Mitbestimmung (Smith/Swain 2010: 26). Kalb (et al. 2014) sah es in einem noch vor den Ereignissen am Majdan gegebenen Interview als Vorteil an, dass Russland und die Ukraine im Vergleich zu anderen osteuropäischen Ländern nicht „Vasallen der EU“ seien, sondern eine stärkere eigenständige Entwicklung verfolgen könnten. Der Wunsch, sich der EU anzunähern und damit in Richtung Demokratie zu gehen, war jedoch eines der Hauptmotive der Demonstrant_innen auf dem Majdan. „Für viele wird das utopische Bild Europas noch durch die Anti-Utopie Russlands als Warnsignal vor dem ‘schlechten Bösen’ des Autoritarismus verstärkt.“ (Ryabchuk 2014: 3) Die Mehrheit der Demonstrant_innen war nicht politisch organisiert. Jedoch gelang es den rechten Kräften, dem Prawyj Sektor sowie der Swoboda Partei, ihr Anhänger_innen zu mobilisieren und die Proteste ideologisch und politisch zu vereinnahmen (Ishchenko 2014a: 15).

In Kiew haben mittlerweile nationalistische und rechte – Ishchenko (2014a: 22) charakterisiert sie als hauptsächlich neoliberale – Kräfte das Sagen übernommen. Die Aufhebung des Sprachengesetzes durch die Interimsregierung, das 2012 verabschiedet wurde und regionale Sprachen – damit auch Russisch zuließ – , war ein erster Schritt, der nicht darauf abzielte, den Osten des Landes mit einzubeziehen (Ishchenko 2014a: 26f.). Die sprachlichen, geschichtlichen und kulturellen Unterschiede des Landes werden so nicht zum ersten Mal instrumentalisiert (sh. Guttke/Rank 2012 zur Sprachgesetzgebung). Aufgrund der geographischen Nähe und der damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Kontakte (z.B. durch Arbeitsmigration oder Verwandtschaftsbeziehungen) ist der Westen der Ukraine stärker der EU, der Osten stärker Russland zugewandt. Beide Seiten – Westen wie Osten – kämpfen jedoch für bessere Lebensverhältnisse (Ishchenko 2014a: 19, 24f.).

Mit der Wahl Poroschenkos zum Präsidenten im Mai hofften die sich an der Wahl beteiligenden Ukrainer_innen – es waren nur ca. 60 Prozent – auf die Wiederherstellung der Einheit des Landes sowie auf Frieden. „Wie üblich ging es bei diesen Wahlen nicht um politische Programme, denn wer auch immer gewonnen hätte, wäre auf die finanzielle Unterstützung des IWF angewiesen gewesen und hätte daher die neoliberale Austeritätspolitik weitergeführt.“ (Ishchenko 2014b: 1) Poroschenko – genannt der „Schokoladenkönig“, da er nicht nur Eigentümer des Fernsehsenders Kanal 5, sondern auch zahlreicher Süßwarenfabriken ist – war bereits unter Juschtschenko wie auch unter Janukowytsch erst Außen- und dann Finanzminister (Leshchenko 2014). Seit seiner Wahl führt er den Kampf gegen die „Terroristen“ und „Separatisten“ im Südosten des Landes. Wer genau in welcher Form und aus welchen Gründen – ob für die Unabhängigkeit, für die Angliederung an Russland oder für einen föderalen Status innerhalb der Ukraine – an den Kämpfen beteiligt ist, und von wem diese finanziert werden – ob z.B. von Russland oder Achmetow und Kolomjsoky – ist nach wie vor schwer zu entschlüsseln (Brangsch 2014, Kowalewski 2014).

Schlussfolgerungen

Ich habe in meinem Beitrag gezeigt, wie sich die Oligarchen seit den 1990er Jahren im Laufe der auch von internationaler Seite angestrebten Transformation von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft erfolgreich als Kapitalistenklasse entwickelten. Nach einer Phase des nationalen Kapitalismus unter Kutschma öffnete sich das Land im Zuge der „Orangenen Revolution“ unter Juschtschenko für westliches Kapital. Dies ging nach Kutschmas „multivektoralem“ Kurs einher mit einer stärkeren Ausrichtung der Ukraine auf die EU, die jedoch von Seiten der EU nur in eine Nachbarschaftspolitik ohne Beitrittsmöglichkeit mündete. Nach der Absetzung Janukowytschs und mit der Wahl Poroschenkos sollen nun die Beziehungen durch das Assoziierungs- und Freihandelsabkommen vertieft werden.

Unter Ausschluss der ukrainischen Bevölkerung akkumulieren die Oligarchen trotz Protesten gegen die herrschenden Präsidenten und deren Regime und nicht zuletzt gegen die Oligarchen weiterhin erfolgreich Kapital. „Um ihre Herrschaft zu legitimieren, brauchen sie den Nationalismus – denn aus dem Zustand der ukrainischen Wirtschaft und des Sozialsystems ist dies kaum möglich.“ (Brangsch 2014) Nationalismus treibt demnach den Krieg in der Ukraine voran. Für linke Bewegungen ist es indessen schwer, zu agieren. Der Begriff der Linken ist aufgrund wenigstens zweier Umstände – Eingliederung der Westukraine in die Sowjetunion 1939 gegen den Willen der Bevölkerung; Rolle der „korrupten“ Kommunistischen Partei der Ukraine, die 2012 bei den Parlamentswahlen 13 Prozent der Wahlstimmen erreichte und Janukowytsch unterstützte – weitgehend negativ besetzt. Zudem ist die neue Linke gespalten, wird zunehmend bedroht und steht z.T. wie die KPU unter Verbotsdrohung (Brangsch 2014, Vakhovska 2014).

Die Forderung nach Verhandlungen und Frieden blieben bisher unerhört und der weitere Konfliktverlauf ist schwer einschätzbar. Allerdings wird sich in absehbarer Zeit die soziale Situation zusätzlich aufgrund der IWF-Kredite und der damit verbundenen Austeritätsmaßnahmen verschärfen. Im Alltagsleben wird die Integration in den Westen über Gaspreiserhöhungen, Kürzungen von Pensionen oder sozialen Ausgaben spürbar werden (Luhn 2014).

Literatur

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Links:

  1. http://www.rosalux.de/news/40599/ukrainische-linke-gibts-da-was.html