Aktuelle Gewerkschaftsprobleme

Der Arbeit wieder ein gesundes Maß geben

Für eine arbeitspolitische Erweiterung der Arbeitszeitdebatte

von Richard Detje/Klaus Pickshaus/Sybille Stamm
September 2013

1.

Auch in Deutschland – nicht nur in den so genannten „Krisenstaaten“ der Europäischen Union – ist Arbeitslosigkeit eine Geißel und schwere Hypothek der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklung. Nicht nur, was die erzwungene Ausgrenzung aus arbeitsgesellschaftlichen Bezügen anbelangt. Der Haupttrend heißt Prekarisierung. Ein Drittel der Erwerbsbevölkerung sind mittlerweile davon erfasst: 6,2 Millionen im Niedriglohnsektor, 4,9 Millionen in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Sektoren, die eine bereits weit vorangeschrittene Zersetzung der „Lohnarbeitsgesellschaft“ dokumentieren – weit über das hinausgehend, was Marx als verschiedene Existenzformen der industriellen Reservearmee gefasst hatte.

Umso wichtiger ist die Vergegenwärtigung von Alternativen, die diesem Zersetzungsprozess Einhalt gebieten können. Zumal, wenn es sich dabei um realitätstüchtige und praktisch bewehrte Maßnahmen handelt. So hat sich zu Beginn der Großen Krise 2008/2009 gezeigt, dass Arbeitszeitverkürzung ein wichtiges und wirksames Mittel ist, mit dem einem Anstieg der Arbeitslosigkeit gegengesteuert und erheblicher „Angstrohstoff“ aus dem betrieblichen und gesellschaftlichen Leben genommen werden kann. Das „deutsche Beschäftigungswunder“ war zunächst arbeitszeitpolitisch fundiert: Durch Kurzarbeit, Abbau von Überstunden und das Herunterfahren von Guthaben auf Arbeitszeitkonten konnte die Beschäftigung auf hohem Niveau gehalten werden. In der Metall- und Elektroindustrie wurde die Wochenarbeitszeit bis zum Frühjahr 2009 um über drei Stunden heruntergefahren und erreichte erst im 1. Quartal 2011 wieder das Vorkrisenniveau. Die Sicherung der Beschäftigung stabilisierte wiederum – neben öffentlichen konjunkturpolitischen Impulsen – die Nachfrage und damit den Binnenmarkt, was eine wechselseitig kontraktive Entwicklung von Industrie und Dienstleistungen verhinderte. Doch diese positiven Erfahrungen, mit denen ein Absturz in eine neue Große Depression verhindert werden konnte, waren nur von kurzer Dauer. Parallel zu der beschäftigungspolitischen Entspannung war zugleich ein massiver Anstieg der Arbeitsintensität festzustellen.[1] Und erneute Arbeitszeitverlängerung bei gleichzeitig schnellem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf historische Höchststände bedingt durch das Umschalten auf rigide Austeritätspolitik haben zahlreiche Staaten der Europäischen Währungsunion erneut in den Krisenmodus zurückfallen lassen.

Ist Umfairteilung von Arbeitszeit also das Gebot der Stunde? Gehört die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich nun umgehend auf die gewerkschaftliche und zivilgesellschaftliche Tagesordnung, um die politische Ignoranz gegenüber millionenfacher Arbeitslosigkeit und Armut aufzubrechen?

2.

Vor, in und nach der Krise ist die Produktivität der Arbeit enorm gesteigert worden, noch vorhandene Poren im Arbeitstag wurden geschlossen. Doch statt die Arbeitszeit wie in einem System kommunizierender Röhren der Produktivität anzupassen, ging die Intensivierung der Arbeit mit einem widersprüchlichen Prozess der Verlängerung und Kappung der Arbeitszeiten einher: Verlängerung von Vollzeitarbeit auf über 40 Wochenstunden auf der einen, Teilzeitarbeit bis in untere Bereiche geringfügiger Beschäftigung auf der anderen Seite.[2]

Um dieser Polarisierung entgegen zu wirken, fordert die Initiative Arbeitfairteilen die Einführung einer 30-Stunden-Woche als neue Normarbeitszeit, die den Wünschen der Teilzeitbeschäftigten nach längerer Arbeitszeit ebenso wie denen der Vollzeitbeschäftigten nach kürzerer Arbeitszeit entgegen kommen soll.[3] Die Krisenerfahrung, dass Arbeitszeitverkürzung Beschäftigung sichert, steht dabei im Zentrum der Argumentation. Doch was äußerst plausibel zu sein scheint, stößt auf wenig Rückhalt in den Belegschaften. Auf die Frage, wofür sich Gewerkschaften einsetzen sollten, antworteten 2011 – also noch unter unmittelbarerem Kriseneindruck – in einer repräsentativen Umfrage[4] 61 Prozent mit „höhere Löhne“, gefolgt von Maßnahmen, die die Sicherung der Beschäftigung – „besserer Kündigungsschutz“ (47 Prozent), „Besserstellung von Leiharbeitern“ (42 Prozent) – und arbeitspolitischen Progress („Verbesserung der Bedingungen am Arbeitsplatz“: 40 Prozent) zum Ziel haben. Mit der Verhinderung der Rente erst mit 67 folgt zwar eine arbeitszeitpolitische Forderung. Aber erst an zehnter Stelle der gewerkschaftspolitischen Schwerpunkte aus Beschäftigtensicht folgt die Forderung nach genereller Arbeitszeitverkürzung. Nur 9 Prozent der Befragten setzen dieses Thema auf die gewerkschaftliche Tagesordnung – weniger noch als gut zehn Jahre zuvor, als immerhin noch 17 Prozent für einen neuen arbeitszeitpolitischen Anlauf in diese Richtung votierten.

Trotz arbeitszeitpolitischer Beschäftigungssicherung in der Krise: Wie ist zu verstehen, dass das Thema so wenig prioritär ist? Gewerkschaftsführungen dafür verantwortlich zu machen und von ihnen mehr Themensetting einzufordern, läuft auf eine voluntaristische Kritik hinaus.

Unseres Erachtens eröffnet der einfache Rückgriff auf die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche keinen adäquaten Zugang zur Arbeitszeitpolitik. Denn die arbeitsmarktpolitische Zuspitzung droht angesichts veränderter Rationalisierungs- und Steuerungsprozesse ins Leere zu laufen. Dass Arbeitszeitverkürzung Beschäftigung sichert, gilt dort, wo die vorhandene Beschäftigung das Auftrags-/Arbeitsvolumen überschreitet – Arbeitszeiten reduzieren, statt Leute zu entlassen, ist in diesen Fällen die richtige Forderung. Doch das ist nicht generelle betriebliche Realität. Aufgrund einer Personalpolitik der untersten Linie, aufgrund von permanentem cost cutting herrscht das Gegenteil: Beschäftigungs- bzw. Zeitnotstand. Das abgeforderte Arbeitsvolumen kann von den Beschäftigten ohne noch weitergehende Intensivierung und Verlängerung der Arbeitszeiten nicht erbracht werden. Dies gilt vor allem bei stärker selbstorganisierten Arbeitszeiten: In ISO-Beschäftigtenbefragungen geben mehr als vier Fünftel der unter diesen Bedingungen Beschäftigten als Grund für Mehrarbeit an, dass die Arbeit sonst „nicht zu schaffen ist“ oder dass „Probleme anders nicht zu lösen“ sind (62 Prozent). Und selbst unter derart restriktiven Bedingungen stecken in Mehrarbeit auch Kerne selbstbestimmter Arbeit: weil man sonst „mit dem Arbeitsergebnis nicht zufrieden“ ist (36 Prozent), oder weil man „Spaß an der Arbeit“ hat (25 Prozent).[5]

Was an Projektarbeit und anderen Formen mehr oder weniger selbstorganisierter Arbeitszeiten besonders deutlich wird, ist das, was als „Finalisierung der Leistungspolitik“ bezeichnet wird: Nicht die Arbeitsleistung pro Stunde, sondern das Arbeitsergebnis entsprechend Budgetvorgaben in einer festgelegten Gesamtzeit ist die entscheidende Kennziffer.[6] Um das geforderte Arbeitspensum trotz geringer Personaldecke schaffen zu können, wird länger gearbeitet. Auf diese Problemlage gibt die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung auf 30 Wochenstunden keine wirksame Antwort.

Anders formuliert: Der gesellschaftliche Widerspruch zwischen erzwungener Null-Arbeit auf der einen und pathologischer Überarbeit auf der anderen Seite ist unter diesen Bedingungen nicht durch die Konzentration der „Kämpfe um Zeit“ auf die Forderung nach umgehender Wochenarbeitszeitverkürzung aufzubrechen.

3.

Mit „Vermarktlichung“, „indirekter Steuerung“ und „Flexibilisierung“ werden Steuerungsprozesse in Unternehmen und Betrieben gefasst, mit denen der Zusammenhang von Arbeit und Leistung verflüssigt wird. Mit weit reichenden Folgen: Vor die Regulierung der Arbeitszeit schieben sich die Leistungsbedingungen. Nicht die Verkürzung der Wochenarbeitszeit, sondern die Regulierung der Leistungsbedingungen wird zum Kern von Konflikten und Auseinandersetzungen. Das war auch vor drei Jahrzehnten bereits der Fall, als Gewerkschaften die 35-Stunden-Woche forderten. Leistungsverdichtung ist ein permanenter Druck kapitalistischer Arbeitspolitik, nicht Reaktion auf verkürzte Arbeitszeiten. Aber heute spricht mehr noch als in den 1980er Jahren alles dafür, die Arbeitszeitfrage von der Regulierung der Leistungsbedingungen her anzugehen.

Die von der IG Metall seit einigen Jahren betriebene Anti-Stress-Initiative unter dem Motto „Gute Arbeit braucht klare Regeln“ hat das Thema der permanenten Leistungsverdichtung und des zunehmenden gesundheitlichen Verschleißes auch medienwirksam in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen gerückt. In der Forderung nach einer Anti-Stress-Verordnung bündeln sich die gewerkschaftlichen Bestrebungen, durch erweiterte und konkretisierte Arbeitsschutzbestimmungen regulatorische Ansatzpunkte bei der Prävention von Gefährdungen aus psychischen Belastungen und Leistungsüberforderung zu stärken.[7] Im Frühsommer 2013 vom Bundestag beschlossene Ergänzungen im Arbeitsschutzgesetz belegen erste Erfolge, auch wenn die Durchsetzung einer Anti-Stress-Verordnung auf der Tagesordnung bleibt.

4.

Die Forderung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung – 35-Stunden-Woche – bündelte Mitte der 1980er Jahre die Kämpfe um Zeit. Eine Verallgemeinerung dieses Erfolgs auf gesetzlicher Ebene gelang zu keinem Zeitpunkt.

Das Kapital hat diese partielle Niederlage in der Arbeitszeitfrage in den 1980er Jahren nie akzeptiert und dringt seitdem auf eine Revision. Seit Mitte der 1990er Jahre haben die Gewerkschaften die Hegemonie über die Zeitfrage gesellschaftlich und vor allem in den Betrieben verloren. Dies ist Ausdruck einer generellen Defensivsituation der Gewerkschaften. Heutige Arbeitszeitpolitik stellt sich hauptsächlich dar als Restrukturierungsprojekt des Kapitals und der politischen Klasse hin zu einem „flexiblen, deregulierten Kapitalismus“. Die gegenwärtigen Konflikte um Arbeitszeitverlängerungen und eine noch weitergehende Flexibilisierung sind selbst Bestandteil der Auseinandersetzung um eine neue kapitalistische Betriebsweise bei anhaltender Massenarbeitslosigkeit. Arbeitszeit ist zudem weitgehend zur Manövriermasse bei den Standort(erpressungs)vereinbarungen geworden. Entgrenzung von Arbeitszeit und Leistung sind die Haupttrends, die die „Erfordernisse des Marktes“ zu den Imperativen für die Arbeitsverausgabung machen. Damit wird eine neue Maßlosigkeit in der Arbeit gefördert, die alle noch vorhandenen tariflichen und gesetzlichen Begrenzungen überschreitet. Prototyp für dieses neue Arbeitszeit- und Leistungsregime ist die „Vertrauensarbeitszeit“ nach dem Motto „Macht was ihr wollt, aber seid profitabel“.

Die seitdem erfolgte massive Flexibilisierung der Arbeitszeit und die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse lassen es fraglich erscheinen, dass die Bündelung des Kampfes um ein gesundes Maß der Arbeit mit einer neuen Maßzahl der Wochenarbeitszeit – 30 Stunden – gelingen kann: für Projektarbeit in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen bis in weite Bereiche der Arbeitsvorbereitung über Service- und Dienstleistungsarbeiten bis hin zu Teilzeitarbeit, geringfügiger und temporärer Beschäftigung. Richtig ist: Es gibt einen weit verbreiteten Wunsch nach kurzer Vollzeit. Doch um dahin zu kommen, müssen heute offenbar unterschiedliche Pfade gegangen werden. Einige Schlaglichter: Müllarbeiter wären aufgrund der körperlichen Belastungen froh um jede Minute, die sie weniger arbeiten müssen und Pflegekräfte verzichten reihenweise auf Geld, weil sie ihren Job nur als Teilzeitbeschäftigung bewältigen können. Andererseits werden Einzelhandelskauffrauen zu Teilzeitarbeit genötigt, während Beschäftigte in F+E-Bereichen angesichts massiver Überarbeit von Work-Life-Balance nur träumen können. Neue Leitplanken und Haltegriffe sind erforderlich.

5.

Statt Konzentration auf eine fixe Größe allgemeiner Wochenarbeitszeit muss in den betrieblich-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf ein Bündel unterschiedlicher Problemlagen reagiert werden, das sich hier herauskristallisiert hat:

- die Gesundheitsbelastungen von wachsendem Arbeitsstress bei gleichzeitiger Intensivierung, Extensivierung und Flexibilisierung der Arbeit – damit die Forderung nach Guter Arbeit;

- die Verlängerung der Lebensarbeitszeit (Rente mit 67) bei progressivem Verschleiß aufgrund nicht altersgerechter Arbeitsbedingungen – damit die Forderung nach flexiblen Altersübergängen;

- die aufbrechenden Widersprüche zwischen Familie und Beruf ebenso wie die massive Ungleichverteilung zwischen den Geschlechtern (vom Lohn über die Arbeitsinhalte und -organisation bis hin zur Arbeitszeit) – damit die Forderung nach Work-Life-Balance und Geschlechterdemokratie.

Mit diesen Problemlagen stehen wiederum besonders belastete Personengruppen im Focus.

Für gewerkschaftliches Handeln ergeben sich unterschiedliche Handlungsdimensionen:

(1) Generelle Arbeitszeitverlängerung verhindern: Die vordringliche Aufgabe in den kommenden Jahren wird bleiben, eine generelle Arbeitszeitverlängerung zu verhindern. Die Maßzahl ist und bleibt die 35-Stunden-Woche. Dies kann nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, in den betrieblichen Abwehrkämpfen um Arbeitsplätze, Standorte und Tarifstandards ein höheres Maß an koordiniertem Vorgehen zu erreichen.

(2) Begrenzung der tatsächlichen Arbeitszeiten: Die Arbeit braucht wieder ein gesundes Maß. Der 8-Stunden-Tag und die 40-Stunden-Woche gewinnen erneut als Höchstarbeitszeitgrenzen an Aktualität. In der Metall- und Elektroindustrie ist die Diskrepanz zwischen tariflichen und realen Arbeitszeiten mittlerweile am größten. Das unterstreicht den Handlungsbedarf. Dabei ist bei allen Befragungen sichtbar, dass für länger arbeitende Beschäftigte die fixierten niedrigeren Regelarbeitszeiten wichtige Referenzpunkte bleiben. Angesichts ausufernder Arbeitszeiten („Arbeiten ohne Ende“) und Belastungen durch Schichtarbeit und flexible Arbeitszeitmodelle haben gesundheits- und arbeitswissenschaftliche Essentials für eine gesundheitsverträgliche Arbeitszeitgestaltung wieder stärker an Bedeutung gewonnen. Sie können systematischer als bisher in betriebspolitischen Aktionen genutzt werden (vgl. Arbeitszeit-TÜV der IG Metall).

(3) Arbeitszeit- und Leistungspolitik in einem Verständnis von guter Arbeit als Einheit denken: Leistungsdruck spielt bei den Arbeitszeiten eine dominierende Rolle, da die leistungspolitischen Rahmenbedingungen die Beschäftigten veranlassen, permanent ihre Arbeitszeiten auszudehnen. Umgekehrt ist die Definition eines Pensums im Rahmen einer Leistungszielvereinbarung nur sinnvoll, wenn auch die Grenzen der Arbeitszeit berücksichtigt wurden. Gerade der Umgang mit einer zunehmend marktgesteuerten Arbeits- und Arbeitszeitorganisation gehört nach wie vor zu den schwierigsten Herausforderungen.

(4) Erfolgreiche „Grenzziehung“ nur mit aktivem Einsatz der Beschäftigten: Ohne aktiven Einsatz der Beschäftigten für ihr gesundes Maß an Arbeitszeit läuft jede Arbeitszeitpolitik ins Leere. „Den Beschäftigten selbst wird künftig eine aktive – wenn nicht die entscheidende – Rolle bei der Realisierung vereinbarter Arbeitszeitregulierung zukommen. Weil das so ist, bedarf es zunächst einer breiten Debatte über konsensfähige Leitbilder der Arbeitszeitregulierung. Nur wenn sich die Beschäftigten mit den Regelungen identifizieren, werden sie ihnen auch Geltung verschaffen.“[8] Damit ist auch das Verhältnis von Regulierung und betriebspolitischem Handeln neu zu bestimmen – eine große Herausforderung für eine Interessenvertretung, die bisher weitgehend durch stellvertretendes Handeln geprägt ist.

Ebenso wie die Regulierung und Kontrolle der Arbeitszeit – ihrer Intensität und ihrer absoluten Größe nach sowie hinsichtlich Lage und Verteilung – durch das Nadelöhr individueller Ansprüche und Bedürfnisse gehen muss, ist von den unterschiedlichen Zugängen und Problemlagen bei der Wiederaneignung der Zeit auszugehen. Neue gesellschaftliche Normierungen und Standards können – sollen sie mehr sein als eine blutleere Durchschnittsberechnung – nicht Voraussetzung, sondern nur Resultat der Kämpfe um Zeit sein.

6.

Die zentralen Topoi – Gesundheit, demographische Entwicklung, Geschlechterfrage – verweisen darauf, dass die „Kämpfe um Zeit“ nicht auf die Verteilung und Regulierung von Arbeitszeit enggeführt werden können. Die Wiederaneignung der Zeit ist gleichermaßen ein arbeits- wie gesellschaftspolitisches Projekt. Das war es auch bereits in dem Kämpfen um die 35-Stunden-Woche Mitte der 1980er Jahre.

In der IG Metall gibt es seit mehreren Jahren eine Strategiedebatte, die sowohl eine Reduzierung gewerkschaftlicher Interessenvertretung auf die Kernfelder der Betriebs- und Tarifpolitik als auch ein Ausspielen gegenüber der Gesellschafts- und Sozialpolitik vermeiden will. Angesagt ist ein integrativer Strategie- und Handlungsansatz. M.a.W.: Die Erschließung neuer betriebs- und tarifpolitischer Handlungsansätze in der Arbeitszeitpolitik ist zwingend durch sozial- und gesellschaftspolitische Schritte zu flankieren.

Auf einige Ansätze sei hingewiesen:

- Die Debatte um Höchstgrenzen der Arbeitszeit kann insbesondere in der nach wie vor nicht ausgestandenen Auseinandersetzung um die EU-Arbeitszeitrichtlinie offensiv aufgegriffen werden. Dies beinhaltet auch Schlussfolgerungen für das Arbeitszeitgesetz.

- Soll mit Arbeitszeitverkürzung ein Abbau von Arbeitslosigkeit erreicht werden (ohne Arbeitsverkürzung auf die Beschäftigungsdimension zu reduzieren), ist dies erstens durch eine andere staatliche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zu begleiten – allein schon um den Druck auf die Belegschaften zu verringern – und gleichzeitig zu diskutieren, ob eine Ziel-Mittel-Umkehr angesagt wäre, die als anvisiertes Ziel zu allererst das Volumen des Beschäftigungsaufbaus definiert und als Mittel die Wege der Arbeitszeitverkürzung optional anbietet (Verkürzung der Wochen-, Jahres- oder Lebensarbeitszeit, Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit usw.). Das Hauptziel wäre auf jeden Fall ein zwingender Beschäftigungsaufbau.

- Wenn künftig eine optionale Arbeitszeitpolitik an Gewicht erhält, steigt der Bedarf an einer umfassenden sozial- und gesellschaftspolitischen Flankierung, da angesichts der heutigen Struktur der sozialen Sicherungssysteme kürzere Wochen- und Lebensarbeitszeiten sowie Teilzeit und gewollte Arbeitsunterbrechungen mit oftmals erheblichen sozialen Notlagen verknüpft sind. Die Realisierung solcher Optionen setzt zudem den Wiederaufbau einer entsprechenden gesellschaftlichen Infrastruktur voraus (z.B. Kindererziehung, Pflegetätigkeit und Ausbildung).

- Qualifizierte Beschäftigungsperspektiven für Jugendliche sind eine Herausforderung, die vorschnell mit Verweis auf eine im europäischen Vergleich niedrige Arbeitslosenquote hierzulande und einem Lobgesang auf das duale System der Berufsausbildung als „erledigt“ abgehakt wird. Nichts falscher als das. Zwischen 2000 und 2012 ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Alter von 15-25 um 13,2 Prozent gesunken, die befristete Beschäftigung gleichzeitig um 25 Prozent – bei jungen Frauen sogar um 76 Prozent – gestiegen.

- Der Kampf gegen die Verlängerung der Lebensarbeitszeit in Gestalt des Einheitsrenteneintritts mit 67 kann auf das Alternativkonzept flexibler Altersübergänge verweisen, das mit Gestaltungsoptionen alterns- sowie altersgerechter Arbeitsbedingungen verknüpft ist.[9]

7.

Die Deregulierung der betrieblichen Zeitregime – auch aufgrund gesetzlicher Änderungen (z.B. Einschränkung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen) und dramatisch abnehmender Tarifbindung der Betriebe – wirft erneut und dringlich die Frage nach gesetzlichen Rahmenbedingungen auf, mit der strategischen Perspektive, die Konkurrenz oder Kluft zwischen Zeitregelungen in Tarifverträgen und gesetzlichen Möglichkeiten zu verkleinern. Der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich mit seiner gesetzlichen (wenn auch erheblich aufgeweichten) 35-Stunden-Woche ist lehrreich. Denn trotz erheblich niedrigerer Tarifbindung ist in Frankreich die durchschnittliche Wochenarbeitszeit kürzer. Das Arbeitszeitgesetz in Deutschland lässt hingegen eine Wochenarbeitszeit von 48, auf das gesamte Jahr verteilt von 60 Stunden im Halbjahresrhythmus zu – ein ständiger Anreiz für Unternehmer, Tarifflucht zu begehen.

8.

„Kämpfe um Zeit“ sind soziale Auseinandersetzungen, die nur in breiten Bündnisperspektiven angelegt sein können. Die Schwerpunkte der zivilgesellschaftlichen Akteure sind dabei jeweils spezifisch, und es ist im Weiteren auszuloten, wo Verknüpfungspunkte zu nutzen sind. Dabei gibt es auch politisch-regulative Hierarchien von Akteuren. So ist in allen Fragen der Arbeitszeit – oder allgemeiner: der zeitpolitischen Neuvermessung der Arbeitsgesellschaft – die Debatte in Gewerkschaften und Betrieben ausschlaggebend. Deshalb ist die Debatte über gangbare Pfade der Überwindung der Defensive der Gewerkschaften zu vertiefen.

„Kämpfe um Zeit“ sind komplexer und anspruchsvoller geworden. Entsprechend die Durchsetzungsbedingungen. Die Wiederaneignung der Zeit trifft den Kern eines finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregimes, dessen Verwertungsansprüche mehr als je zuvor auf dem Raubbau an lebendiger Arbeit basieren. Galt von Beginn des Kapitalismus mit der Regulierung des Arbeitstages, dass der Kampf um Zeit ein Kampf um die Politische Ökonomie in Gänze ist, so gilt dies heute im Besonderen. Dabei geht es um Hegemonie im eminenten Sinne – nicht um Themensetting. Die Erschließung einer neuen Vision von Arbeitszeitverkürzung braucht Realisierungsbrücken zu den heutigen Realitäten der Arbeitszeit- und Leistungsregime, wenn sie mobilisierungsfähig und handlungsorientierend sein soll.

[1] Vgl. Klaus Pickshaus/Hans-Jürgen Urban: Das Nach-Krisen-Szenario: Beschäftigungspolitische Entspannung und arbeitspolitische Problemzuspitzung? In: Hans-Jürgen Urban/Lothar Schröder (Hrsg.): Gute Arbeit. Ausgabe 2011, Frankfurt/M. 2011, S. 21-39.

[2] Vgl. Steffen Lehndorff: Arbeitszeitpolitik nach der Kurzarbeit. In: Helga Schwitzer/Kay Ohl/Richard Rohnert/ Hilde Wagner (Hrsg.): Zeit, dass wir was drehen! Perspektiven der Arbeitszeit- und Leistungspolitik. Hamburg 2010, S. 39-62.

[3] Siehe http://www.arbeitszeitverkuerzung-jetzt.de/perspektive/arbeit-fair-teilen.html.

[4] Institut für Demoskopie Allensbach, Umfrage 6083/10071, 2011.

[5] Vgl. IG Metall: Arbeitszeit-TÜV. Wie gesundheitsverträglich sind unsere Arbeitszeiten? Frankfurt/Main 2009.

[6] Vgl. zum Zusammenhang von Leistungs- und Arbeitszeitpolitik Hilde Wagner: Gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik heute: „Zeit, dass wir was drehen!“, in: Sozialismus 5-2013, S. 37-43.

[7] Vgl. Hans-Jürgen Urban/Klaus Pickshaus/Andrea Fergen: Das Handlungsfeld psychische Belastungen – Die Schutzlücke schließen, in: Hans-Jürgen Urban/Lothar Schröder (Hrsg.): Gute Arbeit. Ausgabe 2012. Zeitbombe Arbeitsstress – Befunde, Strategien, Regelungsbedarfe. Frankfurt/M. 2012, S. 23-38.

[8] Alexandra Wagner (2004): Im Rückwärtsgang zur 40-Stunden-Woche. Tatsächliche und gewünschte Arbeitszeiten und wie man sie in Übereinstimmung bringen kann. Quelle: www.wissentransfer.info Ordner: Arbeitszeit.

[9] Vgl. hierzu die Kampagne der IG Metall „Gute Arbeit – gut in Rente“: www.gut-in-rente.de

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