Editorial

März 2009

Die aktuelle Wirtschaftskrise, deren Dramatik auch und gerade von kapital-freundlichen Wirtschaftsbeobachtern beschworen wird, ist nicht nur eine Finanzmarkt- und Konjunkturkrise. Sie ist zugleich eine tief greifende Strukturkrise. Dietmar Düe zeigt am Beispiel der Automobilindustrie, dass deren aktuelle Probleme weniger auf die Finanzmarktkrise als vielmehr auf grundlegende Fehlentwicklungen der Branche zurückzuführen sind. Die Folgen des Aufbaus von Überkapazitäten und einer verfehlte Modellpolitik, die die lange bekannten Herausforderungen der Energie- und Umweltkrise zugunsten kurzfristiger Profitinteressen ignoriert hatte, sollen jetzt mit ‚Staatsknete’ bereinigt werden. Der derzeit kaum diskutierte strukturelle Aspekt der Krise steht auch im Zentrum des Beitrags von Karl Hermann Tjaden, der unter Bezug auf ein Buch von Henseling („Am Ende des fossilen Zeitalters“) darauf aufmerksam macht, dass derzeit ein Reproduktionsmodell an seine Grenzen stößt, das auf der Entnahme endlicher Ressourcen aus dem Planeten, der Stoffumwandlung durch Arbeit in der „Großen Industrie“ und der Entsorgung in den Planeten basiert. Die gegenwärtige Krise müsse auch und vor allem als Umwelt- und Ressourcenkrise verstanden werden.
***
Mit der Jahreswende 2008/2009 lag die Novemberrevolution in Deutschland genau neunzig Jahre zurück, Anlass für die Redaktion, einen Rückblick auf einige ihrer Aspekte zu versuchen. Annelies Laschitza beschreibt auf der Basis profunder Quellenkenntnis die Zusammenarbeit von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in den Wochen der Revolution. Sie zeigt ihre Gemeinsamkeiten und auch ihre unterschiedlichen Individualitäten und räumt mit der verbreiteten Vorstellung auf, beide seien von Anfang bis Ende ohne persönliche Vorbehalte und ohne politische Meinungsverschiedenheiten eng befreundete und immer zusammenarbeitende Kampfgefährten gewesen. Gerhard Engel analysiert in seinem Beitrag die Rolle der Räte in der Revolution. Er beschreibt die zahlreichen Konflikte innerhalb der Rätebewegung über den Weg, den die Revolution gehen sollte, und zeigt wie insbesondere die Politik der MSPD „auf die Paralysierung und letztlich die Liquidierung der Räte ausge-richtet“ war. Diese durch die Verhältnisse der Zeit und die Beschaffenheit der Arbeiterbewegung ermöglichte „verhängnisvolle Halbheit“ habe letztlich die Chancen auf eine stabile Demokratie in Deutschland verhindert.
Frank Deppes Beitrag beginnt mit dem Datum des 9. November, das offenbar ein „Schicksalstag deutscher Geschichte“ sei. Von der Frage nach dem inneren Zusammenhang zwischen den Ereignissen dieses Tages (Ermordung Robert Blums, Abschaffung der Monarchie, Hitler-Ludendorff-Putsch, Reichs-pogromnacht, Mauerfall) stellt Deppe fest, dass Geschichtsbilder stets umkämpft und „wesentlicher Bestandteil von ideologischer Herrschaft“ seien. Als „eines der wichtigsten Ergebnisse der Novemberrevolution“ stellt er das Ende des ersten Weltkriegs heraus, in dem „das unendliche Grauen dieses 20. Jahrhunderts begann“. Eine einfache Aktualisierung der Revolution ist Deppe zufolge nicht möglich, da vieles – unter anderem die alte Arbeiterbewegung – historisch geworden sei. Die Revolutionen des zwanzigsten Jahrhundert hätten jedoch nachhaltige und dauerhafte Veränderungen bewirkt – insbesondere dann, wenn man ihre globalen Auswirkungen betrachte. Insbesondere der Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten habe jedoch gezeigt, dass Trans-formationsprozesse auch als „Involutionen“ denkbar sind – möglicherweise ein Modell, das für heutige kapitalistische Gesellschaften wahrscheinlicher ist als klassische Revolutionen.
Auch Peter Scherer geht vom Datum des 9. November aus und verfolgt den inneren Zusammenhang von Revolution und Konterrevolution. Sowohl der Hitler-Ludendorff-Putsch als auch die Novemberpogrome von 1938 seien nicht zufällig auf den 9. November gelegt worden. Die Terminierung habe das Zielverfolgt, das Datum der Revolution auszulöschen. Scherer fordert die Rehabilitierung des 9. November als des Tags der Revolution und betont, erst hierdurch könne auch der Opfer des Faschismus in adäquater Weise gedacht werden: „Wer am 9. November von der Revolution der Matrosen und Soldaten des Jahres 1918 schweigt und statt dessen allein an die Verbrechen der Mordbanden des Jahres 1938 erinnert, der vollzieht, was er zu bekämpfen meint.“ Christoph Jünke zeigt, dass die Grundlage der sich mit der November-revolution vollendenden Spaltung zwischen klassischem Reformismus auf der einen und revolutionärem Sozialismus auf der anderen Seite heute gegenstandslos geworden ist. Beide Richtungen konnten das gemeinsame Ziel, die Überwindung des Kapitalismus, nicht erreichen. Kernpunkt sei heute die Frage der Demokratie: Der Weg zum neuen Sozialismus müsse den Bruch mit rein repräsentativen Formen der bürgerlichen Demokratie durch die umfassende Selbsttätigkeit der Bevölkerungsmehrheit wagen.
Die Kontinuitäten des Antikommunismus, der in Deutschland eine besondere Aggressivität entfaltet habe, beschreibt Gerd Deumlich. Die deutsche Bourgeoisie habe nie eine erfolgreiche bürgerliche Revolution zustande gebracht, sondern sich in Entscheidungssituationen stets mit der Konterrevolution verbündet. Auch Deumlich erinnert an die ungeheure Gewalt, mit der die Konter-revolution 1918/19 „in vielen Städten gewaltsam aufgeräumt“ habe: „Es geht nicht nur Kommunisten an, zu welch extrem antihumanistischen Exzessen die antikommunistische Feindschaft gegen den Marxismus geführt hatte. Es ist daran zu erinnern, dass von den Nazis bevorzugt der Antisemitismus benutzt wurde, den Ursprung des Marxismus zu erklären.“ Auch heute sei Antikommunismus keine bloß historische Ideologie „und die Auseinandersetzung damit aktuell wie eh und je“. „Offene Fragen gesellschaftlicher Transformation im Rückblick auf die Novemberrevolution“ benennt Paul Oehlke. Ausgehend von der Revolution und der Frage nach ihrer Charakterisierung als proleta-risch oder bürgerlich arbeitet sich Oehlke bis in die Gegenwart vor. Was waren die Gründe für das historische Scheitern? Was machte die Novemberrevolution zu einer „gebrochenen Revolution“? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der damaligen Niederlage und der neoliberalen Konterrevolution, die des letzten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts? Welche politischen Konsequenzen müssen aus der Geschichte für heutige Kämpfe gezogen werden?
***
In der Rubrik Marx-Engels-Forschung untersuchen Murat Karaboga und Ali-Tonguc Ertugrul, ob und auf welche Weise Marx an bundesdeutschen Universitäten wieder aktuell ist – vor allem im Zuge der Marx-Lesebewegung des SDS und einem der Finanz- und Wirtschaftskrise geschuldeten neuen Interesse an Marx, das sich bis in die bürgerlichen Medien erstreckt. Anlässlich des Erscheinens des neuen MEGA-Bandes II /13 geht Eike Kopf der Entstehung und „Wirkungsgeschichte des II. Bandes von Marx’ 'Kapital' 1885 bis zum Erscheinen des III. Bandes Anfang 1895“ nach und stellt die immense Arbeit und Leistung Engels' dabei heraus.
Zwei weitere Beiträge widmen sich im für Deutschland geschichtsträchtigen Jahr 2009 der jüngeren deutschen Geschichte. Georg Fülberth hat den fünften Band von Ulrich Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte gelesen, der die Periode 1949-99 behandelt. Er konstatiert den völligen Verlust politischer Distanz zum Gegenstand. Wehler, quasi Hofhistoriker des ‚wiedervereinigten’ Deutschland, verwechselt historische Bewertung mit der Reproduktion gängiger Politparolen. Arno Klönne stellt das ‚Bewegungsjahr’ 1968 in den Kontext der bundesrepublikanischen Oppositionsbewegungen. Obwohl von der Stu-dentenrevolte auch Anstöße für soziales und politisches Engagement in der lohnabhängigen Bevölkerung ausgegangen seien, habe „1968“ in Deutschland wegen der weitgehenden Ausklammerung der sozialen Frage kaum Anstöße zur Erneuerung der Arbeiterbewegung geben können.
In der „Diskussion um Dialektik“ ist Renate Wahsners Beitrag gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit Hans Heinz Holz’ Werk „Weltentwurf und Reflexion“ und ein eigener systematischer Vorschlag zur Erneuerung dialektischer Philosophie. In diesem Zusammenhang argumentiert sie gegen die Vorstellung einer „monistischen Abbildtheorie“, die sie bei Holz nicht überwunden sieht.
Unter „weiteren Beiträgen“ würdigt Helmut Steiner das Wirken von Werner Krauss in der frühen DDR, der ein Pionier der dort lange Zeit verfemten Soziologie war. In einer kritischen Besprechung einer Studie von Bayerlein untersucht Werner Röhr, welche dramatischen Rückschläge der Nichtangriffsvertrag UdSSR-Deutschland für die antifaschistische Orientierung der kommunistischen Parteien hatte. Malle Salupere analysiert in ihrem Beitrag die schwierige Situation der Linken und der Vereinigten Linkspartei in Estland.
***
Z 78 (Juni 2009) wird sich schwerpunktmäßig mit der Finanzmarktkrise und ihren Folgen befassen.